strich. Mittlerweile kann man die Bücher dort wieder recherchieren (allerdings nicht über die Autorennamen) und über sogenannte Drittanbieter kaufen. Aber das ist bei weitem nicht so wichtig wie der geistige Ertrag, der aus diesem Boykott entstand. Ein Beispiel ist der nun publizierte Briefwechsel zwischen dem Soziologen Armin Nassehi und mir.
Nassehi, Jahrgang 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er ist außerdem seit 2012 Herausgeber der Zeitschrift “Kursbuch”, die der Murmann-Verlag 2011 übernommen und dadurch davor bewahrt hat, endgültig zu einem Konkursbuch zu werden. Bei Murmann ist nun Nassehis Buch Die letzte Stunde der Wahrheit (20 €) erschienen, dessen epischer Untertitel die Grundthese enthält: Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muß.
Nassehi schrieb mir im März vergangenen Jahres einen ersten, kurzen Brief zur amazon-Sache, drückte seine von meiner deutlich unterschiedene Wirklichkeitsdeutung aus und ging eine Woche später sofort auf mein Angebot eines grundsätzlichen Briefwechsels ein. Dieser Dialog war bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf Veröffentlichung angelegt, wobei wir das “Kursbuch” ebenso rasch verwarfen wie die Sezession. Ein neutraler Ort wollte sich nicht finden lassen, und so stimmte ich dem Vorschlag Nassehis zu, den abgeschlossenen Austausch seinem neuen Buch anzuhängen.
Das Buch liegt nun vor, und der Briefwechsel hat darin einen zentralen Sitz. Denn meine eigene Argumentation kann dort anknüpfen, wo Nassehi selbst ein zentrale, rechtsintellektuelle Wirklichkeitsbeschreibung übernimmt: Viele Entscheidungsträger reden links und leben rechts. Nassehi hat das beispielsweise in einem Interview mit dem DeutschlandradioKultur vor zweieinhalb Jahren bereits geäußert und nun in seinem Buch zu einem wichtigen Strang gemacht.
Bereits in meinem zweiten Brief ging ich auf diese linke Experimentierfreude ein, denn das ist ja einer der entscheidenden Hebel, die uns gegen die Systemelite und ihre unausgesetzten Gesellschaftsexperimente in die Hand gegeben ist:
Entscheidend ist: Wir wollen nicht – wie die vielen, die Sie im freundlicherweise beigefügten Interview benennen – »links reden und rechts leben«, sondern »rechts reden und rechts leben«, und in dieser Formel steckt bereits eine grundsätzliche Antwort: Wenn es vielen Bürgern unbewusst oder bewusst richtig erscheint, links zu denken und zu reden, aber rechts zu leben, dann muss das Rechte näher an der Lebenswirklichkeit liegen als das linke Gerede und Theoretisieren. Und in der Tat: So ist es. Und: Dieses Rechte ist dabei zugleich meilenweit von dem entfernt, was linke Theoretiker für rechts halten und als rechts brandmarken.
Ich bin Armin Nassehi dankbar, daß er unseren Briefwechsel in sein Buch aufgenommen hat. Er teilt ja meine Position nicht, aber es war und ist lehrreich, die Sichtweise des anderen verstehen zu wollen. Und ich kann eines sicher sagen: Nassehi weiß, wie komisch es ist, daß einem in einem Land wie dem unseren die Veröffentlichung eines solchen Briefwechsels Mut abverlangt. Wir werden also aufs Neue sehen, wieviel Normalität in diesem Land unter der Kruste der Denk- und Dialogverhinderung ruht.
(Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. 340 Seiten, 20 €)
Carsten
Links reden, rechts (bürgerlich) leben - das Phänomen erlebe ich permanent bei meinen linksliberalen Bekannten. In so gut wie allen Einzelfragen stimmen sie einem zu (selbst was Problemausländer angeht), aber sie ziehen keine ganzheitliche Konsequenz daraus und würden sich eher ein Bein ausreißen, als sich selbst als "rechts" zu positionieren. Verrückt.