Michael Wildenhains neuen Roman in die Hand zu nehmen. Zumal die titelgebenden Alligatoren im Buch selbst auch an keiner Stelle lächeln; sie sind eher mit Bellen beschäftigt. Wildenhain selbst eignet offenbar ein Faible für seltsame Symboltitel, wovon etwa Das Ticken der Steine zeugt.
Wie also weckt das auf der Nominierungsliste für den diesjährigen Belletristikpreis der Leipziger Buchmesse gelandete Werk die Aufmerksamkeit, wenn schon der Titel verrätselt bleibt und den Rückeinband neben einem etwas überdramatischen teaser nur das Zitat »Vielleicht ist Verstehen nichts anderes als eine subtile Form von Gewalt« ziert?
Nun, Wildenhain hat das Kunststück hinbekommen, ein angeblich »wichtiges Buch über Liebe, Familie und Verrat« (Umschlagtext) zu schreiben, das in Wahrheit vor allem den vielbeschrieenen Mythos von der bösartig-restaurativen Adenauerära in ein literarisches Postulat überformt. Sein Protagonist Matthias wächst vaterlos auf, nachdem dieser beim unbedachten Herumtollen mit dem kleinen Bruder einen Hirnschaden erleidet und fortan in einer Kuranstalt auf Sylt dahinvegetiert.
Bei einem der unfreiwilligen Besuche gemeinsam mit seiner Mutter dort wird Matthias Marta treffen, die in der Anstalt ein Praktikum absolviert und für zukünftige Ereignisse in seinem Leben von entscheidender Bedeutung sein wird – wenn sie nicht gerade Kätzchen das Genick bricht, Wespen den Kopf abbeißt oder sich in schwülstigen Selbstentdeckungsspielchen mit ihrer Kollegin Peggy ergeht. Man merkt: Die Symbolsprache dieses Buchs ist nicht nur im Hinblick auf Panzerechsen etwas obskur.
Der vor der familiären Belastung geflohene Erzeuger tritt erst auf der Beerdigung der frühverstorbenen Mutter wieder auf den Plan, um eine Aussöhnung zu suchen. Das Ergebnis fällt unerwartet aus: Matthias wird vom Halbbruder seines Vaters, einem Neuroanatomen und Ordinarius des Universitätsklinikums Charlottenburg, an Sohnes statt angenommen und schließt den Vater fortan endgültig aus seinem Leben aus. Sein neues Leben in einem gehobenen Berliner Bezirk verleiht der eigenen Entwicklung denn auch ungeahnten Schub – und spätestens hier weiß der Leser denn auch schon, wohin die Reise geht:
Medizin, Museen, Philosophie und Kunst. Das richtige Halten von Messer und Gabel, die Unterscheidung verschiedener Gänge eines Menü genannten Essens. Auswahl und Vorbereitung eines Themas für ein sonntägliches Tischgespräch. Regeln, die andere Jungen in meinem Alter lächerlich finden. Vorgaben, die mir gefallen. Keine Gebete. Gottesbeweise und ihr Scheitern. Willkür postulierter Prämissen. Die Lächerlichkeiten des Liberalismus. Fehlende Letztbegründung jeglicher Moral. Geschichtliche Gewordenheit aller Dinge. Ein Pluralismus, der Meinungen verbietet, verbieten muss, um die, vermeintliche, Freiheit nicht zu gefährden. […] Ein Raum mit Büchern. Die verlorene Utopie eines finalen Normativismus. Im Gegensatz zu der Entscheidung, die du, gemäß Carl Schmitt, zu fällen hast. Eine neue Welt, die ich genieße.
Erich Fromm, ick hör’ Dir trapsen – der “autoritäre Charakter” weht in der Tat ziemlich heftig durch die Buchseiten. Und unser (mit Schelsky) “skeptischer” Protagonist Matthias darf stellvertretend für die ganze westdeutsche Nachkriegsgeneration herhalten: Ein bißchen Wirtschaftswunder, ein bißchen Wohlstandstechnokratie eisen ihn problemlos aus seinen verbliebenen, ohnehin brüchigen Familienbanden heraus, die bei seinem Ziehvater, der bald gedanklich und emotional mit dem biologischen verschmilzt, ohnehin nicht stattfinden:
Die bessere Schule, Oper, Theater, rasches Absolvieren der Oberstufe, hier noch Prima und Oberprima, nie meinen Bruder auch nur erwähnt – gar nicht daran zu denken, ihn auf Sylt zu besuchen.
Nun fehlt ein autorenbiographischer Anhauch natürlich auch nicht diesem Roman. Allerdings kann eben nicht jedermann in der Division Frundsberg gedient haben; Michael Wildenhain hat es seinerzeit nur zum Teilzeit-Hausbesetzer gebracht. So wird der Kontrapunkt zum in einem Sud aus adenaueresker Restauration und Vergangenheitsbeschweigung köchelnden Matthias in diesem Fall von Marta gesetzt. Die taucht nach Jahren plötzlich an der Freien Universität auf, bemüht sich vergeblich um die Aufwiegelung einer Vorlesung in Kognitionswissenschaften, bemüht außerdem Fanon und Pasolini als Stichwortgeber, lockt den ahnungslosen Matthias in eine Spätvorstellung der 120 Tage von Sodom. Letztlich führt sie den Freund aus Jugendtagen auch in ihre Wohngemeinschaft ein, zu Georg und Gregor, wo die Fronten klar abgesteckt sind –
Gregor, schleppend: »Faschisten haben niemals recht, mein Kleiner. Faschisten sind immer Säcke. Das ist die Definition.«
Georg ergänzt: »Und Heidegger ist ein besonderer Lump. Pures Gift, das Arschloch. Mit seiner verschwiemelten Kacke. Überaus feinziselierter Scheiß. Klarer Konterrevolutionär.«
– und sich ab und an der “seltene Besucher” blicken läßt, um mit Marta über Karten und Plänen zu brüten. Auch hier ist das Reiseziel schnell auszumachen: Schon um Matthias auf der Beerdigung seiner Mutter zu trösten, hatte Marta gesagt: »Beweint nicht die Toten, ersetzt sie.« Das ist die Parole angesichts toter RAF-Terroristen aus dem Pamphlet kamalatta des infamen Terrorapologeten Christian Geissler. Und tauchte bereits ausgiebig in Wildenhains 1991er Roman Die kalte Haut der Stadt auf. Stilles Verneigen in alle Richtungen.
Nach noch allerlei fröhlichen Kommunetreibens und dem Vorbeizug weiterer linker Ikonen geht es dann endlich ans Eingemachte. Der Arzt will ins Ausland reisen; da der angenommene Sohn beginnt, Fragen nach “den Militanten” zu stellen, gibt es als Lektüre für die Zwischenzeit die Theorie des Partisanen (was auch sonst?). Wenige Tage später ist der Stiefvater tot, liquidiert von einer RAF-Troika (Sie ahnen es sicher: Marta, Georg und Gregor); es gibt einen Prozeß und allerlei “Aufklärung”: Der Ermordete wurde von der “Stadtguerilla” aufgrund seiner Funktion als Kommissionsleiter für Zwangsernährung für den Tod Holger Meins’ mitschuldig gemacht. Da das aber zur Herstellung des wohl zwingenden moralischen Gefälles nicht ausreicht, stellt er sich im Anschluß auch noch als Mitvollstrecker der nationalsozialistischen T4-Aktion und Menschenversuchsleiter heraus. Inwieweit das etwas erklären oder begründen soll, erfährt der Leser weder von Marta, die im Prozeß schweigt, noch von Michael Wildenhain, der trotz etlicher autobiographischer Bezüge wohlweislich lieber im Status des (selbst-)beobachtenden Erzählers verbleibt.
Wie oben angemerkt, hat der Verlag das Buch unter das Motto »Vielleicht ist Verstehen nichts anderes als eine subtile Form von Gewalt« gestellt. Das klingt ja auch besser als der xte aufgewärmte Klassenkampfslogan. Ob der Roman bzw. sein Autor nun aber das Verstehen aktiv vermeidet oder es schlicht nicht vermag, das bleibt nach abgeschlossener Lektüre offen. Ebenso wie die Frage, weswegen die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse es für geboten hielt, Das Lächeln der Alligatoren auf die diesjährige shortlist zu hieven. Vielleicht trifft eine damalige Bemerkung Kubitscheks es ganz gut, wonach ein für Buchmessenpreise nominiertes Buch sich dessen nur »würdig« erweisen könne, wenn es einen gewissen »geschichtspolitischen Zungenschlag« habe.
Vielleicht soll der Spruch auf dem Einband einfach dazu auffordern, das Handeln der terrorspielenden Bürgersöhne nicht mehr verstehen zu wollen, also nicht mehr die Frage nach dem »Warum?« zu stellen. Die berüchtigte Schlußstrichmentalität also. Vielleicht läßt es sich gerade im Sinne dieser Ausdeutung am besten lesen: Als Gegenentwurf zum letzten und zum – sicher kommenden – nächsten Teilzeit-Zwiebelhäuter. »Es gibt […] Dinge, die wichtiger sind als deine schrecklich romantische Vorstellung von der Liebe«, sagt Marta. Das stimmt schon. Die nochmalige Wiederbelebung des mit Recht verwesenden Leichnams RAF gehört sicher nicht dazu, besonders nicht aus Gründen der auktorialen Selbsttherapie.
Michael Wildenhain: “Das Lächeln der Alligatoren”.