pdf der Druckfassung aus Sezession 17/April 2007
Ein Gespräch mit General Gerd Schultze-Rhonhof
Sie haben ein sehr erfolgreiches und gleichzeitig gewagtes Buch geschrieben: 1939. Der Krieg, der viele Väter hatte. Das Buch beschäftigt sich mit dem langen Anlauf zum Zweiten Weltkrieg. Können Sie den Inhalt Ihres Buchs in fünf Thesen gießen, die man nicht mehr vergißt?
Schultze-Rhonhof: So grundsätzlich habe ich noch nie über mein eigenes Buch nachgedacht. Aber die fast sechshundert Buchseiten lassen sich sicherlich in fünf Thesen zusammenfassen. Ich will es versuchen.
Erste These: Keine Phase der Geschichte ist ohne Kenntnis ihrer Vorgeschichte zu begreifen. So ist es auch mit der von mir beschriebenen Phase der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Der Kriegsbeginn von 1939 ist ohne die Person Hitler nicht zu begreifen. Hitler und die Bereitschaft der Deutschen, ihm in den Krieg zu folgen, sind ohne den Vertrag von Versailles unverständlich. Die allgemeine Empörung des deutschen Volkes über Versailles ist ohne die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs nicht zu verstehen. Und auch diese Vorgeschichte kann man nur begreifen, wenn man das aggressive Konkurrenzgebaren der großen Staaten im Europa des neunzehnten Jahrhunderts kennt.
Zweite These: Der Zweite Weltkrieg hatte viele Väter. Wenn man den unmittelbaren Kriegsanlaß von den Kriegsursachen unterscheidet, kommt man schnell darauf, daß Hitler zwar den letzten Anschub zum Krieg gegeben hat, daß die Ursachen dieses Krieges aber von einer ganzen Anzahl verschiedener Regierungen in den vorhergehenden Jahrzehnten zusammengebraut worden sind. Diese unheilvolle Politik fing nicht erst mit dem Versailler Vertrag an, sie begann schon kurz vor und nach dem Jahre 1900, als Engländer, Russen und Franzosen dem deutschen Aufstieg als Handels‑, See- und Industriemacht mit Kriegsvorbereitungen und Militärbündnissen begegneten. Und nach dem Ersten Weltkrieg waren es die Siegermächte, die mit dem Versailler Knebelvertrag eine derart explosive Nachkriegsordnung in Europa etablierten, daß ein weiterer Krieg in Europa so gut wie unumgänglich wurde, es sei denn, die Sieger hätten diese Ordnung später nachgebessert.
Auch der Staat Polen hat nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Gebietsforderungen, Kriegsdrohungen und Kriegseröffnungen gegen die Sowjetunion, gegen Litauen, die Tschechoslowakei und Deutschland nicht minder zum Zweiten Weltkrieg beigetragen. Desgleichen Italien, die USA, die Sowjetunion und die Tschechoslowakei, die die Kriegsgefahr mit ihrer Vorkriegspolitik eher angefacht statt gedrosselt haben.
Das alles klingt sehr viel mehr nach Hegemonialkrieg als nach einem Kampf der freien gegen die faschistische Welt …
Schultze-Rhonhof: Ich komme in meiner dritten These darauf zu sprechen. Sie lautet: Der Erste und der Zweite Weltkrieg bilden strategisch und historisch eine Einheit. Für uns Deutsche steht der Zweite Weltkrieg zwar ohne geschichtlichen Zusammenhang für sich, weil wir ihn als das Ergebnis nationalsozialistischer Expansionspolitik als Unikat betrachten. Doch die Briten – und mit ihnen auch ich – sehen in ihm die Fortsetzung des Ersten Weltkriegs. Die Briten umschreiben, analog zum ersten Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648, den Zeitraum vom Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 deshalb auch oft als den zweiten Dreißigjährigen Krieg. Sie unterteilen diesen Zeitraum nicht, wie wir Deutsche, in zwei unterschiedliche Epochen, sondern sie begreifen ihn als Einheit, in der zwei Kriege um die Vorherrschaft in Europa stattgefunden haben. Die Bezeichnung „Zweiter Dreißigjähriger Krieg” ist daher mehr als eine bloße Zeitbeschreibung; sie ist vor allem inhaltlich bestimmt und läßt erkennen, daß den Ereignissen der Jahre 1914 bis 1945 aus Sicht der Briten gleichbleibende politische und wirtschaftliche Ziele zugrunde lagen. 1948 schrieb Winston Churchill im Vorwort zu seinen Memoiren: „Als Ganzes werden diese Bücher die Geschichte des Zweiten Dreißigjährigen Kriegs umschließen.” Und 1995 bezeichnete der britische Premierminister John Major das Kriegsende von 1945 in einer öffentlichen Gedenkrede zum 8. Mai als „das Ende eines Dreißigjährigen Kriegs”.
Meinen Sie, daß sich ein solcher Begriff, der ja eine sehr nüchterne, pragmatische und in diesem Sinne politische Sicht auf die Geschichte beweist, auch in Deutschland durchsetzen könnte?
Schultze-Rhonhof: Ich glaube, daß wir in Deutschland noch weit davon entfernt sind, die Politik nicht moralisch, sondern „kalt” zu betrachten. Meine vierte These ist geeignet, ein wenig von dieser Kälte zu verströmen. Sie lautet: Es gibt keine dauerhafte Völkerfreundschaft. Es gibt nur Allianzen mit gemeinsamen Interessen. Die Beispiele Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg zeigen, daß sich die Verbindungen der Staaten und Völker mehr auf Interessengleichheit als auf Freundschaft gründen. Solange die Gemeinsamkeit der Interessen überwiegt, werden selbst Bündnisnachteile hingenommen. Das sollte man nicht mit Freundschaft durcheinanderwerfen.
Nehmen Sie Polens Position. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verbünden sich die Polen mit den Siegern, fordern deutsches Land und bieten den Franzosen 1933 und 1936 mehrmals an, mit ihnen einen Zweifrontenkrieg gegen das Deutsche Reich in ihrer Mitte zu eröffnen. Als das nicht funktioniert, werden die Polen Verbündete der Deutschen, was nur so lange anhält, bis Deutschland den Anschluß Danzigs und einen freien Zugang zu seiner seit 1918 abgeschnittenen Provinz Ostpreußen fordert. Polen geht zurück auf die Seite Englands und Frankreichs, die beide Schutz gegen die deutschen Ansprüche versprechen. Doch auch Frankreich und England kennen keine Freundschaft. Sie opfern den verbündeten Staat Polen, um sich damit den Pakt mit der Sowjetunion zu erkaufen und zu erhalten.
Rußland selbst ist im Ersten Weltkrieg mit Frankreich, England und Amerika verbündet, wird aber nach der eigenen Niederlage gegen Deutschland und der Revolution von seinen bisherigen Verbündeten nicht mehr beachtet. Die Sowjets behandeln von da an mögliche Alliierte alleine nach dem Vorteil, den es bringen könnte. So verhandelt die sowjetische Regierung im Sommer 1939 zur gleichen Zeit mit den Deutschen, Briten und Franzosen, um sie als Partner zu gewinnen, und um sie zu einem Kriege gegeneinander anzustacheln. Im Zweiten Weltkrieg steht die Sowjetunion erst auf Deutschlands Seite, doch sie bereitet schon zu dieser Zeit ihren Seitenwechsel vor. Dann treibt sie ihren Preis für den Fortbestand der deutsch-sowjetischen „Waffenbrüderschaft” mit Forderungen derart in die Höhe, daß Adolf Hitler den Fehler begeht, Rußland angzugreifen, so daß die Sowjets mit Berechtigung die Seite wechseln. Nach dem Sieg folgt der Kalte Krieg mit neuen „Freundschaften”.
Als Beispiele der Völkerfreundschaft könnten bestenfalls Amerika und England auf der einen und Österreich und Deutschland auf der anderen Seite stehen, jeweils durch Sprache, Geschichte und Kultur verbunden. Doch auch die Freundschaft zwischen den USA und England ist auf Eigennutz gegründet. Die USA fordern von Großbritannien die Aufgabe ihres Wirtschaftsimperiums, der Ottawa-Zone, und die Auflösung des britischen Kolonialreichs. Ein zu hoher Preis für eine Freundschaft.
Deutschland und Österreich, bis 1866 im Deutschen Bund vereinigt, kämpfen im Ersten Weltkrieg auf derselben Seite und vereinigen sich 1938 durch den Anschluß. Dieser Anschluß wird heute in Österreich allerdings sehr unterschiedlich bewertet. Es gibt keine selbstlose Freundschaft zwischen Völkern.
Sehen die beteiligten Völker und Regierungen ihre Freundschaften und Seitenwechsel vielleicht aus einer anderen Perspektive als Sie?
Schultze-Rhonhof: Ja, das ist auch ganz normal. Ich möchte meine fünfte These deshalb so formulieren: Die Handelnden und die Historiker messen mit zwei Ellen. Natürlich sehen und beschreiben Historiker die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Je nach eigener Herkunft haben Sie ein unterschiedliches Verständnis von Legitimität und geschichtlichen Kausalitäten, auch unterschiedliche Auffassungen von Recht und historischen Ansprüchen. Das führt zwangsläufig zu ganz anderen Bewertungen der Fakten. Doch wenigstens die Tatsachen sollten idealerweise in den Geschichtsbüchern übereinstimmen.
Nur schwer verständlich ist allerdings, daß deutsche Historiker deutsche Geschichte bei gleichen Fakten so unterschiedlich beschreiben. Die Historiographie fällt in unserem Lande durch Auswahl und Weglassen der Fakten und manchmal auch durch die „passende” Verwendung längst aufgedeckter Fälschungen sehr unterschiedlich aus.
Viele Historiker in Deutschland ordnen ihre Arbeit offensichtlich einem ideologisch-politischen Überbau unter. Ein großer Teil von ihnen „schreibt alles schlecht”, was zu Kaisers Zeiten und im Dritten Reich geschehen ist, weil ihm die demokratische Legitimität gefehlt hat oder weil es von Menschen in einem Unrechtsregime ausgegangen ist. Dieselben Forscher und Autoren „schreiben alles gut”, was die späteren Sieger getan oder angerichtet haben, weil sie angeblich Demokraten waren. Da haben wir die zwei verschiedenen Ellen, die heute in Deutschland maßgeblich und für viele Historiker und Autoren wohl verpflichtend sind.
Nun sind bisher über 27.000 Exemplare Ihres Buchs verkauft worden, es liegt in der fünften Auflage vor. Für ein Sachbuch, das nicht ständig in irgendeiner Sendung oder einer großen Zeitung angepriesen wird, ist das sehr viel. Welche Kanäle findet Ihr Buch, um zum Leser zu gelangen?
Schultze-Rhonhof: Vordergründig sind das meine Vorträge, die ich in Deutschland und Österreich halte und dankenswerterweise die Buchrezensionen, die inzwischen etwa sechzig kleinere und mittelgroße Zeitschriften gebracht haben. Im Hintergrund sind es vermutlich die Empfehlungen der Leser untereinander. Ich habe versucht, mich auf junge Leser und auf Menschen einzustellen, die kaum Berührung mit der Geschichtsschreibung haben. Ich habe mich bemüht, verständlich und übersichtlich zu schreiben, mit kurzen Sätzen, ohne Fremdworte und in einem leicht zugänglichen Sprachrhythmus. Drei Register am Ende des Buchs, ein Sach- und ein Personenregister sowie ein Quellenverzeichnis sollten alles schnell auffindbar und das Buch damit als Nachschlagewerk geeignet machen. Auf all das führe ich den bisherigen Zuspruch der Leser zurück.
Über die letzten zehn Tage vor dem Ausbruch des Kriegs haben Sie ein Hörbuch produzieren lassen. Ist das nur eine Marketing-Idee oder sehen Sie durch die suggestive Wirkung des gesprochenen Worts einen pädagogischen Mehrwert?
Schultze-Rhonhof: Es war zunächst eine Mischung aus Marketing-Idee für das gedruckte Buch und dem Versuch, auch „Nichtleser” zu erreichen. Letzteres ist gelungen. Ersteres offensichtlich nicht. Aber die Vorstellung des Produzenten, daß wir mit einem Hörbuch vor allem jüngere Menschen ansprechen würden, hat mir sehr gefallen.
An die suggestive Wirkung des gesprochenen Wortes habe ich überhaupt nicht gedacht. Das Hörbuch hat zwar diese suggestive Wirkung, aber ich will ja nicht suggerieren. Ich will überzeugen. Und das schafft eigentlich nur ein Buch mit seinen überprüfbaren Quellenangaben. Wer wissen will, ob das stimmt, was ich geschrieben habe, soll stichprobenweise die Quellen prüfen. Das wird ihn außerdem noch tiefer in die Materie einführen. Die Quellenlage zählt, nicht die betörende Wirkung der Stimmen der zwei Profisprecher, die die Texte lesen. Übrigens, das inzwischen erschienene zweite Hörbuch mit dem Titel Der Zweite Dreißigjährige Krieg ist eine gesprochene Kurzfassung des gesamten Buchs 1939. Der Krieg, der viele Väter hatte.
Es gibt mittlerweile neben Ihren Vorträgen, dem Buch selbst und den Hörbüchern noch einen vierten Zugang zu Ihren geschichtspolitischen Thesen: Sie haben vor einigen Wochen eine Internet-Seite freigeschaltet, www.vorkriegsgeschichte.de. Diese Seite enthält kapitelweise Zusammenfassungen Ihres Buchs. Was bezwecken Sie damit?
Schultze-Rhonhof: Zwei Zwecke hatte ich im Auge. Erstens die Wahrheit zu verbreiten und zweitens junge Leser zu erreichen. Mir war bei meinen Recherchen zum Buch aufgefallen, daß viele Geschichtsaufsätze, die man etwa über die Suchmaschine google findet, antideutsche Propagandaschriften sind. Ein Schüler, der drei oder fünf solcher Schriften unter den ersten Eintragungen in der Suchmaschine google findet, glaubt natürlich, daß das stimmt, was er da liest. Es mußte also auch die „wahre Geschichte” oft genug im Internet erscheinen. Und zweitens war mir längst klargeworden, daß Schüler und Studenten sich in aller Regel kein so dickes Buch wie meines kaufen werden. Also habe ich die zwanzig wesentlichen Kapitel des Buchs auf kurze Texte gerafft und als „Internet-Buch” ins Netz gestellt. Hier haben Schüler und Schülerinnen, Studenten und Studentinnen nun entweder unter www.vorkriegsgeschichte.de oder nach Stichworten wie „Zuspitzung um Danzig 1939” oder „Wirtschaftliche Kriegsgründe 1918–1939” die Möglichkeit, sich Informationen oder Textbausteine für ihre Hausarbeiten, Seminararbeiten und ähnliches zu holen.
Hat Ihr Versuch, diese Einseitigkeit der Suchergebnisse im Internet zu beheben, schon gefruchtet?
Schultze-Rhonhof: Bisher ja. Dank der vielen Verlinkungen, die www.vorkriegsgeschichte.de inzwischen – ja auch mit Ihrer Hilfe – erfahren hat, sind die Stichworte aus dem Internet-Buch in den Suchmaschinen zum Teil überraschend gut plaziert. So findet man www.vorkriegsgeschichte.de unter dem Stichwort „Polens Minderheiten 1920–1939” bereits auf Platz sechs von 1,2 Millionen Eintragungen. Unter anderen Stichworten bei weniger Eintragungen ist www.vorkriegsgeschichte.de inzwischen auch schon einige Male auf Platz eins gelandet. Damit stoßen neue Leser bei ihren Geschichtsrecherchen im Internet auf die Kurzform von 1939. Der Krieg, der viele Väter hatte. Das ist schon so etwas wie ein Gegengewicht gegen die Einseitigkeit. Wenn das Gewicht noch zunehmen will, braucht es weitere Verlinkungen.
Ihr Antrieb, die Wahrheit zu verbreiten, klingt nach Sendungsbewußtsein. Wie langfristig muß eine geschichtspolitische Arbeit wie die Ihre angelegt sein?
Schultze-Rhonhof: Vermutlich auf eine Generation. Die Generation meiner Kinder hat die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg so verinnerlicht, daß sie nicht mehr umlernen kann. Dazu ist die tägliche Berieselung im Radio, in den Zeitschriften, Kinos und auf den Fernsehschirmen auch zu penetrant. Eine Chance für das Hinzulernen der Deutschen besteht nur, wenn der Gymnasial- und Universitätsbetrieb eines Tages in der Geschichtslehre von unten her neu durchgearbeitet wird. Dazu bedarf es der heute Zehn- bis Zwanzigjährigen.