pdf der Druckfassung aus Sezession 17/April 2007
Es enden die Versuche nicht, eine Kollektivschuld der diktatorisch regierten Bevölkerung an den Staatsverbrechen zu behaupten, natürlich nur bei den Deutschen, nicht etwa bei Russen oder Chinesen, zu schweigen von demokratisch regierten Völkern. Das 1945 / 46 von den Westmächten offiziell installierte Werkzeug einer Gesamtschuld aller Deutschen an den Verbrechen der Nationalsozialisten benutzt derzeit noch die Warschauer Regierung Kaczynski als „moralischen Trumpf” Polens zur Rechtfertigung des (ohnehin irreversiblen) Landraubs. Die subtilere Form des Anwurfs eines „Tätervolkes” ist aus der Mode gekommen, neuerdings kommt mit Götz Aly die „Konsensdiktatur” auf. Da meldet sich auch Daniel Jonah Goldhagen wieder, der Erfinder einer „vast majority”, die vom Judenmord nicht nur gewußt, ihn auch gewünscht habe und zum eigenhändigen Vollzug bereit gewesen sei. In Übereinstimmung mit der Goebbels-Propaganda befindet Goldhagen, daß „das Verhältnis von Naziregime und deutschem Volk … von gegenseitiger Unterstützung geprägt war”, und deshalb sei die Vorstellung vom totalitären Terrorstaat größtenteils fiktiv.
Goldhagen schrieb das in der Welt vom 6. Mai 2006 in einer Rezension des neuen Buches von Peter Longerich, dem er „zutiefst fehlerhafte Schlußfolgerungen über die Reaktion der Deutschen auf die Verfolgung und die Motive des Regimes” vorwirft. Longerich, Professor in London, ist ein seriöser Wissenschaftler, der in seinem früheren Werk Politik der Vernichtung festgestellt hatte, das Protokoll der Wannseekonferenz habe nicht die Ermordung, sondern die Vertreibung der europäischen Juden vorgesehen. Nun hat er die Schicksalsfrage untersucht, was die Deutschen denn überhaupt vom massenhaften Morden zur Tatzeit erfahren hätten.
Er distanziert sich dabei immer wieder von der bisher als Standardwerk geltenden Studie David Bankiers, der die „breite und grundsätzliche Zustimmung” der Bevölkerung zur Politik des Regimes behauptet hatte, wobei „weite Kreise der deutschen Bevölkerung, darunter Juden ebenso wie Nichtjuden, entweder gewußt oder geahnt haben, was in Polen und Rußland vor sich ging”. Longerich rügt, Bankier habe häufig Berichte über Widerspruch und moralische Bedenken ignoriert und Schweigen schlicht als Zustimmung gewertet.
Schwierig sei es, anhand mündlicher Berichte, der vorhandenen Meldungen der Gestapo-Spitzel, Dokumente aus dem Widerstand, Beobachtungen ausländischer Geheimdienste, Nachkriegserinnerungen und Prozeßakten ein Stimmungsbild zu gewinnen, zumal eine herrschende Stimmung sich kaum gebildet haben könne, wie es auch Victor Klemperer notiert hatte: „Wer kann Volksstimmung beurteilen, bei achtzig Millionen, Unterbindung der Presse und allgemeiner Angst vor dem Mundauftun?” Immerhin gelangt Longerich zu dem Schluß: Einen breiten antisemitischen Konsens gab es nicht, die Indifferenz gegenüber der Judenverfolgung bedeutete keine Billigung, sonst hätte das Regime keine großangelegten Kampagnen veranstalten müssen, um die äußere Zustimmung vorzutäuschen. Die antijüdischen Maßnahmen waren keineswegs populär.
Longerich prüft die Reaktion auf den eintägigen NS-Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933 – tatsächlich eine Reaktion auf den von US-Juden ausgerufenen Boykott deutscher Waren, die ihrerseits mit Übergriffen auf Juden in Deutschland begründet wurden. Die Schilderung dieser Übergriffe war jedoch maßlos übertrieben, und Longerich kommt zu dem Resultat: „Die Mehrheit der Bevölkerung war offensichtlich nicht bereit, ihr Einkaufsverhalten nach ‚rassenpolitischen‘ Gesichtspunkten auszurichten.”
Zum Kristallnacht-Pogrom 1938 – an dem sich die Bevölkerung nicht beteiligt hat – beruft sich Longerich auf das einhellige Urteil der Historiker wie auch der Gestapo und des Propagandaministeriums (sowie der von Longerich nicht zitierten US-Konsuln in mehreren Städten): Mehrheitlich habe die Bevölkerung negativ auf die Ausschreitungen reagiert, hauptsächlich wegen der angerichteten Zerstörungen. Doch selbst Bankier registrierte bei vielen Menschen Schamgefühle, auch Angst sei aufgekommen.
Nach dem mit allgemeiner Besorgnis aufgenommenen Kriegsausbruch spielte die antisemitische Propaganda keine wesentliche Rolle, erst Mitte 1941 geriet das jüdische Thema zur zentralen Frage des Krieges – wohl zur Rechtfertigung des nicht mehr gewinnbaren Zweifrontenkrieges, ein von Longerich nicht erwogener Gesichtspunkt: „Die Juden”, repräsentiert durch die wirren Propagandisten Kaufman (später auch Morgenthau) und Ehrenburg wurden hinter beiden Fronten als Kriegstreiber zur Vernichtung aller Deutschen ausgegeben. Longerich stellt fest, daß in der Goebbels-Propaganda gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden in Deutschland verschwiegen, antisemitische Übergriffe verharmlost, das wahre Ausmaß der „Kristallnacht” verheimlicht wurden. Die Formeln „Vernichtung und Ausrottung” der Juden wurden propagiert, ohne daß man auch nur andeutete, was das konkret bedeutete.
Weil Hitler beständig eine neue Novemberrevolution wie 1918 und dementsprechend den Einfluß der deutschen Juden („Meckerer und Miesmacher”) auf die deutschen Nichtjuden fürchtete, betrieb Goebbels ihre Isolierung und ihre Abschiebung, eben weil sie eine „negative Stimmung erzeugen”. Die Verordnung zum Tragen des Davidsterns erging im September 1941, zum Zeitpunkt eines allgemeinen Stimmungseinbruchs. Goebbels konstatierte eine reservierte bis ablehnende Aufnahme, Parteiinstanzen registrierten durch die Kennzeichnung herausgeforderte „Mitleidäußerungen”, Longerich die „ganz überwiegend negative Reaktion … zumindest in Teilen der Bevölkerung”.
Goldhagen hat die Verfolgten als „absolut entscheidende Quellen” angesehen, und so sei denn die Sternträgerin Elisabeth Freund zitiert: „Die Judensterne sind nicht populär. Das ist ein Mißerfolg der Partei, und dazu kommen die Mißerfolge an der Ostfront.” Ein US-Korrespondent rapportierte einen „monumentalen Mißerfolg.” Keinerlei Übergriffe gegen die Gekennzeichneten fanden statt. Victor Klemperer notierte, daß Nichtjuden sich ihm, dem nunmehr erkennbaren Juden, gegenüber offener äußerten als gegenüber den allemal denunziationsverdächtigen Nicht-Sternträgern – die Kennzeichnung war im Sinne ihrer Erfinder kontraproduktiv. Eine Fülle weiterer jüdischer Zeugnisse mit ähnlichem Tenor hat Konrad Löw in seinem Buch Das Volk ist ein Trost zusammengetragen – und muß sich seither seinen Beitrag zur differenzierten Sicht auf die Stimmungslage vorhalten lassen.
Ende 1941 befahl Hitler, wohl wegen der Ernährungslage („unnütze Esser”) und stimuliert von der sowjetischen Deportation der Wolgadeutschen, die deutschen Juden in den Osten seines Machtbereichs zu vertreiben. Goebbels bemerkte, daß die – anfangs von Mitbürgern beobachteten – Verschleppungen kein günstiges Echo fanden: „Unsere intellektuellen und gesellschaftlichen Schichten haben plötzlich wieder ihr Humanitätsgefühl für die armen Juden entdeckt.” Der schwedische Bankier Jacob Wallenberg berichtete nach einem Berlin-Besuch, daß viele Deutsche „angewidert seien über die Art und Weise, in der Juden von deutschen Städten in Ghettos in Polen deportiert werden würden.”
Longerich dokumentiert auch aus seiner Sicht „recht deutliche Hinweise” auf das wirkliche Los der Deportierten, die jeder deutsche Normalbürger hätte wahrnehmen können: Nachrichten über rumänische und slowakische Deportationen in der deutschen Presse, Hitlers wiederholte Prophezeiung vom Januar 1939 einer Vernichtung der Juden im Fall eines Weltkrieges (und eines eigenen Territoriums für sie im Friedensfall), schließlich eine Mitteilung der Münchner Neuesten Nachrichten, trotz der „eisernen Hand” der Besatzungsbehörden harre die Judenfrage in der Sowjetunion noch der Lösung. Am 16. November 1941 schrieb Goebbels in der Zeitung Das Reich („Die Juden sind schuld”), „wir erleben eben den Vollzug” der Prophezeiung Hitlers, das „Weltjudentum” – also nicht oder nicht nur die deutschen Deportierten – erleide „nun einen allmählichen Vernichtungsprozeß”. Hitlers Sekretär Bormann aber gab die Sprachregelung heraus, es sei zu verbreiten, daß die Juden in Arbeitslager kämen.
Was mit den Juden geschah, verschwieg das Regime konsequent, in der Propaganda fanden die Deportationen nicht statt und der Antisemitismus trat 1942 in den Hintergrund; der Reichspressechef erteilte am 11. Juni 1942 – nach dem Heydrich-Attentat – die generelle Weisung: „Veröffentlichungen über Maßnahmen gegen die Juden sind verboten.”
Longerich widmet ein Kapitel dieser „‚Endlösung‘ als öffentliches Geheimnis”. Der Massenmord an den Juden war eine „Geheime Reichssache”, deren Offenlegung mit dem Tod bedroht war. „Massenhaft”, so Longerich, brachten Soldaten Informationen über Erschießungen in Osteuropa ins Reich, so daß die Stimmungsberichte der Gestapo, Longerichs Quelle für entsprechendes Wissen im Volk oder wenigstens für Gerüchte, sie nicht ignorieren konnten. Diese Spitzelberichte hält er selbst für unzuverlässig, da sie instrumentalisiert worden seien – von den Berichterstattern wie den Redakteuren, die sie den führenden Stellen zuleiteten. Longerich führt nicht „massenhaft”, sondern wenige dünne Belege an, zwei Beispiele seien zitiert:
– SD-Außenstelle Erfurt, April 1942, über einen Zeitungsartikel betreffend SD-Partisanenbekämpfung: In der Bevölkerung werde kolportiert, „daß der Sicherheitspolizei die Aufgabe gestellt sei, das Judentum in den besetzten Gebieten auszurotten. Zu Tausenden würden die Juden zusammengetrieben und erschossen, während sie erst zuvor ihre Gräber gegraben hätten.”
– SD-Außenstelle Schwabach, Dezember 1942: eine der „stärksten Beunruhigungen in kirchlich gebundenen Kreisen und in der Landbevölkerung bilden zur Zeit Nachrichten aus Rußland, in denen von Erschießung und Ausrottung der Juden die Rede ist.”
Man muß davon ausgehen, daß in der zweiten Jahreshälfte 1941 im deutsch besetzten Osteuropa mindestens eine halbe Million Juden erschossen wurde, allerdings hauptsächlich von den zu strengstem Stillschweigen verpflichteten SD-Einsatzgruppen. Es fällt auf, daß Longerich nur einen verbürgten Fall (Meinberg) schildert, in dem ein zu identifizierender Soldat als Augenzeuge einer Juden-Exekution davon in der Heimat einer konkreten Person erzählt hat – die bereits nur noch ein Zeuge vom Hörensagen ist. Die Auswertung Zehntausender Feldpostbriefe (die der Zensur unterlagen) ergab, daß die Judenfrage darin keine besondere Rolle spielte und Berichte über die „Endlösung” eher selten auftauchen. Die von Longerich angeführten Quellen reichen mithin nicht als Beleg, daß auch nur eine Minderheit in Deutschland über sicheres Wissen um die Massenmorde verfügt habe, die Endlösung insoweit ein „öffentliches Geheimnis” gewesen sei.
Doch Longerich bemerkt auch: „Hingegen sind konkrete Einzelheiten über den Einsatz von Gas zur Ermordung von Juden, geschweige denn über Vernichtungslager, in den offiziellen Stimmungsberichten nicht zu finden.” Für das Thema Mord durch Gas beschränkt sich Longerich auf Zeugnisse dafür, daß es möglich war, Zutreffendes zu erfahren; über das Maß der Verbreitung und den Grad der Glaubwürdigkeit kann er nichts aussagen.
Seine Quellen sind:
– Tagebücher, Briefe, Memoiren: Victor Klemperer hatte vom Gasmord nichts Zutreffendes gehört. Longerich zitiert nur einen Beleg, dessen Quelle eine Schweizer Zeitung ist, die sich wiederum auf den unzuverlässigen Bericht der Auschwitz-Flüchtlinge Vrba und Wetzler gestützt haben wird, sowie das Tagebuch der Ursula von Kardorff, die dem Bericht denn auch kaum Glauben schenkte (obwohl einer ihrer Verwandten zu den Wissenden gehört hatte). Der bekannte Informationssammler Karl Dürkefälden stützt sich auf den Sender BBC – Longerich stellt fest, daß die alliierte Propaganda keine zuverlässige Quelle gewesen ist, die Wahrheit jedenfalls „für den durchschnittlichen deutschen BBC-Hörer nicht ohne weiteres zu erkennen war”. Er verzichtete dabei auf einen Verweis auf die alliierte Greuelpropaganda des Ersten Weltkriegs – die beispielsweise hinsichtlich der Seife aus Leichen fortgesetzt worden war.
– Gerichtsakten: Ein Berliner Kaufmann erzählte im November 1943 über die Ermordung von Juden in Gaswagen, und eine Frau hatte 1943 Meldungen ausländischer Sender über Gasmorde an Juden weitergegeben.
– Schriftstücke des Widerstands: Longerich nennt Ruth Andreas-Friedrich, die aber nichts vom Gasmord gehört hat, und Helmuth James von Moltke, der seiner Frau schrieb, ihm habe ein Mann, der aus dem Generalgouvernement kam, „authentisch über den ‚SS-Hochofen‘ berichtet”, in dem „täglich 6000 Menschen ‚verarbeitet‘ werden”. Moltke: „Ich habe es bisher nicht geglaubt”, wobei er hätte bleiben können, da es diesen Hochofen nicht gegeben hat. Longerich hätte auch Moltkes Äußerung zitieren können, nach der neunzig Prozent der Deutschen von der Ermordung der Juden nichts wußten, oder auch die Befürchtung Goerdelers in der Haft, 100.000 Juden seien ermordet worden.
– Interviews des britischen Geheimdienstes mit Reisenden aus Deutschland: Ein Berliner Philharmoniker erzählte im Juni 1943 einem jüdischen Freund in Lissabon, „daß Juden mit Hilfe von Gas getötet wurden”.
Selbst Bankier stellte fest, daß sich aus solchen subjektiven Quellen kein allgemeiner Schluß auf die Einstellung „der Deutschen” ziehen läßt. Natürlich gab es Gerüchte, doch ihre Quellen sind unbekannt, sie lagen offenkundig – mangels zutreffender Details – nicht in den Vernichtungslagern, sondern gingen eher auf das verbreitete, auch von Kurt Tucholsky gepflegte Trauma des Gastods im Ersten Weltkrieg und auf Nachrichten über die „Euthanasie” an nichtjüdischen Behinderten in deutschen Anstalten zurück. Die tatsächlich umlaufenden Gas-Gerüchte betrafen auch die Tötung von Verwundeten, Bombenopfern, Flüchtlingen. Selbst alliierte Geheimdienste verfügten über keinerlei gesicherte, zutreffende Informationen.
Eine von Longerich als Quelle herangezogene Lehrerin aus der Stadt Auschwitz erzählte später, warum sie über ihre Beobachtungen geschwiegen habe: „Ein Weitererzählen hätte damals nur noch mehr Leute unglücklich gemacht, sie in größte Gefahr gebracht. Und hier konnte leider niemand helfen.” Die Anweisung der BBC-Leitung vom 14. Dezember 1942 zum Herausstellen der Massenmorde an den Juden enthält denn auch den Satz: „Auch wenn die Deutschen nichts gegen die Massaker tun könnten, so sei es doch gut, wenn sie sich beunruhigt und beschämt fühlten.”
Longerich meint, die Ankunft der Massentransporte in Auschwitz (wobei Hunderttausende Häftlinge auch das Lager verließen), die weithin sichtbaren hohen Flammen (die von Kremierungsexperten bestritten werden) und der Geruch verbrannter Leichen (eher der IG-Farben-Chemiefabriken) hätten beobachtet werden können. Auch sei unter den Häftlingen, die in andere Lager überstellt wurden, der Massenmord ebenso bekannt gewesen wie den Zivilarbeitern deutscher Firmen und den Bewohnern der benachbarten Städte.
Doch drei Jugendliche aus der Umgebung von Auschwitz, die später der Redaktion des Nachrichtenmagazins Der Spiegel angehörten, erinnerten sich daran, daß Auschwitz als etwas Schreckliches galt, doch vom Gasmord nicht die Rede war: Hellmuth Karasek, dessen Vater Ortsgruppenleiter in Bielitz war, Klaus Reinhardt, der in Kattowitz gegen die SS-Lagermannschaft Fußball spielte, und Karl-Heinz Vater, der mit dem Dresdner Kreuzchor vor der Belegschaft (einschließlich Häftlingen) von Monowitz gesungen hatte.
Longerich meint, Gerüchte über die „Endlösung” hätten auch Ministerialbeamte, Parteipropagandisten und die Teilnehmer der Wannseekonferenz (die das ausnahmslos bestritten haben) gehört, und kommt dennoch zu dem Schluß: „Angesichts der großen Zahl potentieller Quellen über den Vernichtungsprozeß muß es eigentlich erstaunen, daß die heute noch feststellbaren Gerüchte über die Verwendung von Gas und insbesondere über die Existenz von Vernichtungslagern so vage beziehungsweise so rar sind.”
Das läßt sich erklären. Auch der Gasmord in Auschwitz war eine „Geheime Reichssache”, deren Verrat mit der Todesstrafe bedroht war. Das in der deutschen Geschichte unikale Verbrechen vermochten denn auch die Vollstrecker vor Ort und ihre Befehlsgeber in Berlin so total zu verhüllen, daß nur sie selbst über exakte Kenntnisse verfügten. Zu dem kontroversen Thema erklärt jetzt wieder der Historiker Ahlrich Meyer das Nichtwissen zum „Kern der Selbstentlastung einer ganzen Generation” und behauptet, „daß seit Ende des Jahres 1942 auf internationaler Ebene ein gesichertes Wissen um den Stand der ‚Endlösung‘ vorhanden und öffentlich zugänglich war”, allerdings fehlte „lange Zeit fast jeder Hinweis auf den Lagerkomplex Auschwitz-Birkenau”.
Bis in die Gegenwart hat sich über Dimension und wichtige Details des Verbrechens vor allem in Auschwitz die letzte Klarheit nicht finden lassen. Neben der fortgesetzten Multiplikation der Opferzahlen gibt es auch ein seltsames Diminutiv, etwa bei Rita Sereny, die Auschwitz gar nicht für ein Vernichtungslager hält, oder Daniel Goldhagen, der den Gasmord als „epiphenomenal” im Holocaust, als nebensächlich einstuft. Dokumente sind rar, ebenso zuverlässige Zeugen.
Den gesamten Tathergang in seinen drei sichtbaren Schritten (des Einsperrens der Opfer in einer Kammer, des Einschüttens von Zyklon‑B und des Herausholens der Leichen) konnten gleichzeitig nur die SS-Lagerfunktionäre beobachten, nur sie können als Augenzeugen gelten – und sie haben auch, zumeist unter rechtsstaatlichen Bedingungen, den beispiellosen massenhaften Gasmord bezeugt (in Sonderheit die SS-Ärzte Fischer, Frank, Kremer, Lucas, Münch, Schatz sowie – mit stärkeren Einschränkungen – die Häftlingsärzte Lettich, Bendel, Nyiszli).
Doch schon die Dienstaufsicht im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS in Oranienburg wußte nichts Genaueres. Am 4. September 1943 richtete der für den KL-Arbeitseinsatz zuständige SS-Obersturmbannführer Maurer eine Anfrage an den (gleichrangigen) Lagerkommandanten Höß, was denn 21.500 einsitzende, nicht arbeitsfähige Juden machten: „Irgend etwas kann hier nicht stimmen!” Wachposten, welche die Juden ins Lager begleiteten, kannten nicht das Los ihrer Transporte, wie Goldhagen festhielt.
Die Opfer wurden fast ausnahmslos beinahe bis zum letzten Atemzug über ihr Schicksal getäuscht, nur Gerüchte über den konkreten Tathergang hörten sogar die Häftlinge, die täglich die „Ausmusterung” für die Gaskammern erlebten; jene im Sonderkommando zur Verbrennung der Leichen waren während des Tötungsvorgangs im Sektionsraum oder Kohlenraum des Krematoriums eingeschlossen.
Die polnische Widerstandsbewegung erfuhr trotz ständiger Kontakte ins Lager und aus dem Lager nichts Zutreffendes über Methoden und Umfang des massenhaften Sterbens im Gas. Die sowjetischen Befreier des Lagers 1945 trafen völlig unvorbereitet auf das zu besetzende Terrain, obwohl die kommunistische Widerstandsgruppe im Lager über hinreichend Kontakte zur Außenwelt verfügte und ein österreichischer Kommunist nach seiner Flucht aus Auschwitz Moskau erreicht hatte. Die UdSSR-Führung gab das Resultat der Feststellungen vor Ort – außer einer märchenhaften Prawda-Reportage – vier Monate lang nicht preis, danach beharrlich mit der Phantasiezahl von mindestens vier Millionen Opfern.
Trotz umfassender geheimdienstlicher Aktivitäten einschließlich der Stationierung eines per Fallschirm abgesetzten Beobachters („Urban”) in der Nähe des Lagers, trotz scharfer Luftbildaufnahmen und gelungener Flucht von mehreren hundert Häftlingen gewannen die alliierten Regierungen keine Vorstellung von der auf Erden installierten Hölle. Sie schenkten der Ankündigung des deutschen Informanten Edgar Schulte vom Sommer 1942 ebensowenig Glauben wie 1944 den freilich arg übertriebenen Berichten der Flüchtlinge Vrba und Wetzler: Selbst US-Präsident Roosevelt und Britenpremier Churchill fanden es zunächst schwierig zu akzeptieren, daß jemand solche Greuel in solch großem Ausmaß begangen haben könnte. Bis zu diesem Zeitpunkt, so Filip von Freudiger, ein Repräsentant der Budapester Orthodoxen Jüdischen Gemeinde, hatte „niemand irgendeine Vorstellung von Auschwitz”.
Doch eine zutreffende Darstellung lieferte im November 1943 den Zionisten in Budapest ein Mittelsmann, wahrscheinlich war es Oskar Schindler, Trinkpartner von Amon Goeth, dem Kommandanten eines nahe Auschwitz gelegenen Arbeitslagers. Auf die Frage, ob Auschwitz ein Vernichtungslager sei, antwortete er: „Das kann sein für Alte und Kinder. Ich habe auch gehört, daß dort Juden vergast und verbrannt werden.” Seiner Meinung nach habe es keinen allgemeinen Befehl zur Judenvernichtung gegeben, sondern: „wahrscheinlich gefährliche oder nutzlose Juden zu vernichten. Sie [die Lager-SS] haben diesen Auftrag mit der Brutalität vollstreckt, an die sie schon zu Hause gewöhnt waren …” Die Frage, ob die bisher Verschonten eine Chance hätten, das Kriegsende zu überleben, bejahte er prompt: „Vor einigen Wochen [recte: Monaten, nämlich April 1943, F.M.] ist eine Verordnung von Himmler in diesem Sinne ausgegeben worden. Die Tendenz ist sichtbar. Man will die jüdischen Arbeitskräfte schonen.” Doch die Lager-SS könne sich „schwer abgewöhnen, täglich einige 10 oder 100 Juden zu erschießen …”
So konstatierte denn der ehemalige Auschwitz-Häftling und spätere polnische Außenminister Bartoszewski, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung habe sich – was immer sie im Krieg über die NS-Verbrechen hatte wissen können – von dem Auschwitzer Massenmord erst durch den Frankfurter Prozeß 1963/64 überzeugen lassen. Longerich sieht das an ders: Als im Frühjahr 1943 die sowjetischen Massenmorde an polnischen Kriegsgefangenen in Katyn bekannt wurden, ordnete Hitler eine Propagandakampagne an, mit der die Schuld an dem Massaker Juden zugeschoben wurde. Konkrete Täter konnten gar nicht benannt werden, es handelte sich um die Obsession, irgendwie steckten hinter allem Bösen „die” Juden, kollektiv. Möglicherweise mußte Hitler einen anderen Schuldigen als Stalin benennen, weil er gerade zu diesem Zeitpunkt, nach der Niederlage von Stalingrad, sich mit Stalin zu arrangieren erwog.
Goebbels schrieb im Reich einen Kommentar, in dem die Juden („Leitartikler, Rundfunksprecher, Bankiers und GPU-Kommissare”) als Urheber des Krieges und „Kitt” der feindlichen Koalition bezeichnet wurden, ihr Ziel sei es – unter Berufung auf Kaufmans Sterilisierungs-Phantasien Germany must perish – Deutschland zu vernichten: Als sie diesen Plan faßten, „unterschrieben sie damit ihr eigenes Todesurteil”. Die badische Gauzeitung schloß sich an: „Es geht zwischen uns und den Juden darum, wer wen überlebt … dann dürfen wir das Judentum zwischen uns nicht existieren lassen.” Klemperer folgerte aus diesem Artikel: „1. Sie haben angefangen. 2. Unsere Judenvertilgung ist in Deutschland selber gar nicht populär.” Im nächsten Artikel dieser Zeitung hieß es, die Juden seien für den Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung haftbar zu machen, weshalb „ihre Vernichtung die allein notwendige Sühne für dieses Verbrechen sein kann.”
Das reicht Longerich für sein Urteil: „Nach der drastischen Art und Weise, in der im Zuge der Katyn-Kampagne über die Beseitigung der Juden gesprochen wurde, sollte niemand mehr behaupten können, er habe von diesen Vorgängen nichts gewußt.” Longerich spekuliert sogar, die Kampagne habe derart „die deutsche Bevölkerung zu Zeugen und Mitwissern des Massenmords an den Juden” machen wollen. Deshalb nennt er das entsprechende Kapitel, wie bereits erwähnt: „Die Endlösung als öffentliches Geheimnis”.
Eine ganze Reihe der – instrumentalisierten – Spitzelberichte meldet vor allem aus intellektuellen und kirchlichen Kreisen, es würden Parallelen zwischen Katyn und der (immerhin öffentlich angekündigten) Ermordung der Juden gezogen. Schon nach acht Wochen wurde die Kampagne gegen den „jüdischen Bolschewismus” Ende Mai /Anfang Juni eingestellt und auch nicht mehr aufgenommen. Andeutungen führender Nationalsozialisten über eine „Ausrottung” der Juden verstummten. Der Judenmord wurde zum „Un-Thema”, so Longerich. Tatsächlich erging im April /Mai 1943 Himmlers Befehl, den Gasmord wieder auf Geisteskranke zu beschränken; die Vernichtungslager an der deutsch-sowjetischen Interessengrenze wurden geschlossen.
Und dann zieht Longerich ein Resümee, das sich aus seiner gesamten Darstellung gerade nicht ergibt, sondern nach seinen vielen unkonventionellen Erkenntnissen mit einer überraschenden Volte der politischen Korrektheit geschuldet erscheint. Es ist seine Vorstellung „von der Größenordnung des Bevölkerungsanteils, der seinerzeit in irgendeiner Form vom Holocaust wußte: Nicht die Mehrheit, aber doch ein erheblicher Anteil der Bevölkerung und nicht etwa nur eine kleine, auf eine bestimmte Region, Berufssparte oder auf ein soziales Milieu beschränkte Minderheit.… In der deutschen Bevölkerung waren generell Informationen über den Massenmord an den Juden weit verbreitet.”
Allein dieser Satz genügt manchen Lesern, etwa dem Rezensenten der Zeit, zum üblichen Verdikt des deutschen Volks zu gelangen. Saul Friedländer etwa äußert unter Berufung auf Longerich: „Anfang 1943 waren die Informationen über die massenhafte Vernichtung von Juden im Reich so weit verbreitet (auch wenn man von den ‚technischen Einzelheiten‘ meist keine genaue Kenntnis hatte), daß sie wahrscheinlich die Mehrheit der Bevölkerung erreicht hatten.” Zum Beleg fügt er auch noch das – von Thomas Mann über BBC gestreute, frei erfundene – „Gerücht” über Vergasung im Eisenbahntunnel an. Und: „Ganz allgemein entlarvt die neuere historische Forschung die deutsche Unkenntnis über das Schicksal der Juden als mythisches Konstrukt der Nachkriegszeit.”
Das aber hat Longerich eben nicht belegt, vielmehr – indem er es nicht hat belegen können – das Gegenteil glaubhaft gemacht: Davon haben wir wirklich nichts gewußt.