Daß unser gegenwärtiger Staat nicht der von Meyer eingangs erwähnten Idee des Staates entspricht, dürfte klar sein. Fraglich ist, ob dieses Schwundstadium geeignet ist, Aussagen über den „Staat an sich“ zu treffen. Im nächsten Absatz wird es daher deutlich unklarer: Was hat der „Staatsgedanke als solcher“ mit Parteien zu tun? Nichts. Im Gegenteil: Die Parteien sind ein Beispiel dafür, wie die Idee des Staates, „maßgebende Einheit“ (Carl Schmitt) zu sein, in sein Gegenteil verkehrt wird.
Weiter: Seine Ansichten mit Nietzsche belegen zu wollen, ist immer etwas problematisch, da sich bei Nietzsche zu fast jeder Aussage auch das Gegenteil findet. Er läßt sich also gut als Zitatmaschine gebrauchen, ohne daß damit irgendetwas außer der Bestätigung seiner eigenen Auffassung gewonnen wäre.
Auch wenn sich bei Nietzsche sicher mehr kritische als positive Bemerkungen über den Staat finden, so darf doch nicht übersehen werden, daß Nietzsches Kritik immer auf den seinen Zweck verkehrenden Staat, der zum Götzen geworden ist, zielt. Einige Jahre vor dem Zarathustra hieß es noch: „Der Staat, von schmählicher Geburt, für die meisten Menschen eine fortwährend fließende Quelle der Mühsal, in häufig vorkommenden Perioden die fressende Fackel des Menschengeschlechts – und dennoch ein Klang, bei dem wir uns vergessen, ein Schlachtruf, der zu zahllosen wahrhaft heroischen Taten begeistert hat, vielleicht der höchste und ehrwürdigste Gegenstand für die blinde und egoistische Masse, die auch nur in den ungeheuren Momenten des Staatslebens den befremdlichen Ausdruck von Größe auf ihrem Gesichte hat!“
Ohne Staat gibt es keine Kultur, kein in Form gebrachtes Volk und auch keinen schaffenden Einzelnen. Nietzsches Kritik am Staat, wie er sie im Zarathustra äußert, zielt auf den Staat von Masse und Durchschnitt. Dem kann man folgen, weil kein Staat jemals den Ansprüchen eine vergeistigten Intellektuellen genügt haben dürfte. Doch ohne die Frage, inwieweit man selbst so zu den „schaffenden Einzelnen“ gehört, daß man auf andere nicht mehr angewiesen wäre, bleibt diese Ablehnung Pose. Und ob Nietzsches zunehmend solitäre Existenz eine geeignete Lebensform war, um Aussagen über etwas zu treffen, daß es zu 99,9 Prozent nicht mit solchen besonderen Menschen zu tun hat, sei mal dahingestellt.
Der Staat ist nicht nur die „maßgebende Einheit“, sondern auch eine Gemeinschaft, die nach innen für Frieden unter seinen Mitgliedern sorgt (auch den sozialen Frieden) und nach außen diesen inneren Frieden verteidigt. Hinzu kommt, daß der Staat eine umfassende Rechtsgemeinschaft ist. Wer ihn abschaffen will, schafft auch das Recht ab und stiftet in der Regel mafiöse Strukturen, die nur das Recht des Stärkeren kennen. „Der Staat, obwohl selber ein Produkt der menschlichen Sünde, ist dazu da, noch größerer Sünde zu wehren.“ So schlicht hat es Hans-Joachim Schoeps auf den Punkt gebracht, als der Staat durch die Hinnahme der Zerstörung seiner Autorität durch die 68er seine Selbstzerstörung betrieb. Wenn das Amt keine Autorität mehr beanspruchen kann, ist es um den Staat geschehen.
Die Hoffnung auf Chaos und Selbstorganisation, die den Staat überflüssig machen würde, geht von einem naheliegende Trugschluß aus: Man hält die anderen Menschen, in dem Fall wahrscheinlich die Deutschen, grundsätzlich auch für fähig und bei gutem Willen auch in der Lage, sich selbst zu organisieren. Die Konsequenzen dieses Trugschlusses können verheerend sein. Die alte menschliche Neigung, andere Menschen zu versklaven, ist noch nicht überall auf der Welt aus der Mode gekommen.
Schließlich ist das ähnliche Denken und Fühlen von Menschen ein ziemlich dünnes Band für eine Gemeinschaft. Da reichen manchmal allzumenschliche Dinge aus, daß es um dieses gemeinsame Denken und Fühlen geschehen ist. Der Staat gibt mir nicht zuletzt die Möglichkeit, mit anderen Menschen zusammen eine Gemeinschaft zu bilden, obwohl sich mein Denken und Fühlen von dem ihren fundamental unterscheiden mag. Durch seine Autorität, sein Versprechen von Gerechtigkeit und seine Daseinsvorsoge gibt er der Schicksalsgemeinschaft eines Volkes die Form, in der sich jedes Mitglied wiederfindet. Und nebenbei sorgt der Staat dafür, daß eine Gemeinschaft existiert, in der mir der andere nicht zu nahe tritt.
Yvonne
Wie Herr Meyer sich das vorstellt, so ganz ohne Staat, lauter Einzelgrüppchen... es geht aus dem Text nicht hervor. Jedenfalls wird von unseren Staatsverächtern ja meist der Markt bemüht. Sie glauben, dieser würde praktischerweise die Aufgaben des Staates übernehmen. Er würde wie ein Naturgesetz walten und der egoistische und unfähige Mensch könnte keinen Schaden mehr anrichten. Aber zum Einen braucht so ein Markt den Staat, um überhaupt bestehen zu können (Rechtssicherheit, Infrastruktur, Umweltschutz etc.). Zum Anderen heißt es doch schlicht, dass unter idealen Bedingungen sich Angebot und Nachfrage (von entsprechend stückelbaren Gütern) über den Preis regeln, und zwar paretoeffizient, d.h. verteilungsneutral! Der Marktmechanismus zementiert folglich Verteilungsungleichgewichte! Da außerdem ideale Bedingungen nie gegeben sind, besteht eine latente Tendenz zur Monopolbildung (z.B. über Absprachen) und damit zur Selbstvernichtung des freien Marktes. Und selbstverständlich lassen sich viele schutzbedürftige Güter nur schwerlich in handelbare Eigentumsrechte transformieren.
Wie armselig ist so eine zu Markte getragene Gesellschaft schon in der Vorstellung. Bei uns ist es schlimm genug. Die Libertären sagen, es gibt viel zu viele Eingriffe, böser Sozialismus hier! Doch woher kommt es denn? Es sind in Wahrheit vielfach "Marktteilnehmer", die hier zugreifen und denen sich "unser" Staat bereits zu fügen hat. TTIP wird es besiegeln
In einem vernünftigen Staat gibt es den Markt da, wo er hin gehört. Als ein Wirkprinzip von vielen.
Es scheint mir ein naiver Glaube dahinter zu stecken, ein Glaube daran, dass ein formaler Regelungsmechanismus eine inhaltliche Definierung überflüssig machen könnte. Um einen gewissen kulturellen und moralischen Standard zu sichern, braucht es den Staat. Aber das hilft nicht über die Frage hinweg, was für einen Staat man will, welchen Prinzipien er treu sein und welches Volk er schützen soll. Diese Dinge fallen nicht vom Himmel. Auch in einer reinen Marktgesellschaft müsste darüber entschieden werden.
Aber vielleicht hofft Herr Meyer auch, dass wir letzten Deutschen oder die, die es noch sein wollen, bald in ein Reservat entlassen werden, irgendwo in der mecklenburgischen Heide. Dort leben wir dann in Großfamilien und besprechen artgerecht das Anstehende im Thinghaus...