zum ersten Mal vor zehn Jahren gelesen. Schon damals wies Lorenz Jäger in der FAZ auf die “prophetische” Kraft des Romans hin. Das gilt heute mehr als je zuvor; was wir in den letzten beiden Jahrzehnten an Immigrationsströmen erlebt haben war nur eine Vorhut, und was wir jetzt erleben, ist erst der Anfang.
Vor allem die Reaktionen der westlichen Politiker, Kirchen, NGOs, Journalisten hat Raspail derart treffend karikiert, daß die Wirklichkeit inzwischen das Buch zu imitieren scheint. Wohlgemerkt ist das “Heerlager” vor allem eine Satire, die häufig zum Mittel der Überspitzung und Übertreibung greift.
Auch ist die Handlung als Parabel und nicht als realistische Schilderung zu verstehen. Die “Armada der letzten Chance”, eine Million verhungernder Inder, die auf Europa zusteuern und dort mit einer messianischen Inbrunst erwartet werden, ist eine Metapher für einen Vorgang, der im Roman zwei Monate dauert, der sich aber in Wirklichkeit über Jahrzehnte erstreckt. Die “Inder” sind symbolische “Stand-Ins” für die verarmten Menschenfluten aus der “Dritten Welt” schlechthin.
Ein besonderer Reiz des Romans liegt in dem Umstand, daß er ein Geschehen der heutigen Zeit schildert, als würde es in den Siebziger Jahren stattfinden. Wir befinden uns in einer Welt, in der die Massenmedien zwar eine enorme Rolle spielen, in der aber das Radio noch eine wichtigere Funktion hat als das Fernsehen und in der es kein Internet gibt – eine technische Entwicklung, die unser alltägliches Leben erheblich beeinflußt hat.
Auch die auftretenden Personen sind unzweifelhaft Personal ungefähr aus der Entstehungszeit des Buches, 1973: die links-libertären Intellektuellen, die Popstars, die Fernseh- und Radiomoderatoren, die post-gaullistischen Politiker etwa. Häufig wird Bezug auf damals recht aktuelle politische Ereignisse genommen. Das nationale Trauma des Abstiegs Frankreichs als Kolonialmacht ist stark präsent: immerhin lag das Ende des Algerienkriegs erst gute zehn Jahre zurück.
Das bedeutet, daß die Prophetie Raspails für heutige Leser einem gewissen Verfremdungseffekt unterliegt. Ähnlich erinnert die Atmosphäre in Orwells “1984” eher an die Nachkriegszeit der Vierziger und das totalitäre Jahrzehnt der Dreißiger Jahre. Oft meint man, die Gesichter, Frisuren, Kleider, Autos und Schnurrbärte dieser Zeit vor sich zu sehen. Raspail hat seine Zeit “zur Kenntlichkeit entstellt”, mit einem makaber-grotesken Humor, voller Fantasie und Ironie. Manche Szenen aus dem geschilderten Humanitätskarneval wirken, als kämen sie direkt aus einem Fellini-Film. Der Humor hat mich teilweise an René Goscinny erinnert, freilich um einen ordentlichen Zacken böser und abgründiger.
Man erkennt dabei deutlich die Linien des Zerfalls, die von 1968 bis heute führen. Das Vokabular hat sich geändert, aber bestimmte Mentalitäten und Ideen sind gleich geblieben. In meiner Neubearbeitung habe ich die Sprache der Protagonisten stellenweise vorsichtig der heutigen angeglichen. Die “bien-pensants”, gegen die schon ein Bernanos in den Dreißiger Jahren polemisierte, sind im wesentlichen die “politisch Korrekten” von heute, und als solche habe ich sie bezeichnet, wenn es paßte. Die “belles consciences” (die “schönen” bzw. “guten Gewissen”) bei Raspail firmieren in meiner Fassung als “Gutmenschen” oder “Moralapostel”.
Ingesamt fällt auf, daß sich selbst die übelsten Demagogen bei Raspail immer noch schöner, gewählter und auch pathetischer ausdrücken als ihre heutigen Pendants; die Infantilisierung und Vulgarisierung der heutigen politischen Sprache konnte nicht einmal er sich vorstellen. Wobei ich nicht beurteilen kann, ob die Lage in Frankreich heute ebenso schlimm ist wie im “bunten” Deutschland.
Raspail schildert eine kindisch, leichtfertig und sentimental gewordene “Spaßgesellschaft”, die nicht mehr fähig ist, den “Ernstfall” zu denken und dadurch ihr Ende besiegelt. Sie ist aber auch zerfressen von Sinnentleerung, Müdigkeit, Neurosen und Selbsthaß. Wie Günter Maschke 1997 in einem Interview sagte: “Die Genußsucht wird mit Zerknirschung bezahlt”. Vor allem aber sieht der Autor in ihr eine dekadente Form der Religiosität am Werk, die sich selbst nicht als solche erkennt.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Man kann den Wahnsinn, der den Westen etwa in Form von Multikulturalismus, “Gender”-, und Selbstabschaffungspolitik befallen hat, nur dann verstehen, wenn man ihn als pseudoreligiöses Phänomen begreift – ein Grund, weshalb rationale Argumente dagegen ohnmächtig sind. Raspail lokalisiert an der Wurzel dieser Entwicklung eine Mischung aus Ressentiment, Regression und einem säkularisierten, utopischen Messianismus.
Dieser Gedanke hat mein eigenes Buch “Kann nur ein Gott uns retten?” enorm beeinflußt.
Besonders böse zeichnet Raspail die Rolle der Kirchen. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche bilden in seinem Buch die Speerspitzen linksradikaler Zersetzung und westlicher Selbstaufgabe. Raspail schrieb unter dem unmittelbaren Eindruck des Zweiten Vatikanischen Konzils; in der später revidierten Erstausgabe des Romans ist sogar von einem fiktiven dritten Konzil die Rede, das den Linksruck der Kirchen vollendet hat. Der vorkonziliare Katholik Raspail sieht darin unmißverständlich eine antichristliche Tendenz, im weiteren ebenso wie im engeren, eschatologischen Sinn.
Einer der eindrucksvollsten Aspekte des Romans ist die Darstellung der zerrüttenden Wirkung der Massenkultur und der totalen Gehirnwäsche und Gefühlsmanipulation, zu der sie imstande ist. Die Masse und ihre auflösende, alle Kultur und Vernunft zerstörende Macht ist überhaupt ein zentrales Thema in “Heerlager der Heiligen”; ja, man möchte fast glauben, daß Raspail Canettis “Masse und Macht” gründlich studiert hat.
So erscheint auch nicht die Einwanderung als Problem per se: die große, stetig wachsende Zahl der Einwanderer es, die eine überbeanspruchte Zivilisation zum Kollaps bringt. Allerdings kommt die ungleich größere Gefahr durch die Verwesung von innen, und das zeigt der Autor ganz unmißverständlich und mit historischem Weitblick drastisch auf.
Wenn wir schon bei Querveweisen sind: natürlich gibt es auch starke, zum Teil verblüffende Bezüge zwischen dem “Heerlager der Heiligen” und Michel Houellebecqs aktuellen Roman “Unterwerfung”. Thorsten Hinz bemerkte in der Jungen Freiheit zu Recht, daß man die Romane Raspails und Houellebecqs “komplementär” lesen müsse, um die Krise der heutigen Zeit zu verstehen.
Beide haben die fortschreitende Krankheit Europas am klarsten erkannt und am gründlichsten beschrieben – jeder auf seine Weise. Man muß sie als Komplementär-Autoren lesen und verstehen. (…)
Houellebecqs Modell wird deshalb erst durch die Komplementär-Lektüre Jean Raspails vollständig. Im „Heerlager“ bildet eine Hungersnot in Indien den Auftakt für den Marsch der Millionen nach Europa. Die Heerscharen, die in Südfrankreich an Land gehen, sind religiös und politisch leidenschaftslos. Sie treibt die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die vom Humanitarismus ergriffenen Europäer verfügen über keine moralische Widerstandslinie, an der sie sich der Menschenlawine entgegenstellen könnten, die schließlich alle und alles unter sich begräbt. Bei Houellebecq ist es das geistig-moralische Vakuum des modernen Europa, das die Eroberer ansaugt. Bei Raspail offenbart der äußere Druck die innere Schwäche des alten Kontinents.
Übrigens hat sich Raspail in einem Interview sehr positiv über Houellebecq geäußert:
Die französische Zivilisation muß durch die Literatur vermittelt werden. Die Massenmedien können das nicht leisten. Ich glaube in dieser Hinsicht an die Bedeutung des Romans. Abhandlungen zu allen möglichen Themen werden andauernd geschrieben. Kein Politiker, der nicht Tinte pinkelt.Die romanhafte Form aber ist eine Weise, die Dinge weniger didaktisch, dafür umso freier zur Sprache zu bringen. Die Gattung des Romans ist auch zum Zweck der Selbstbildung und der Unterhaltung geschaffen worden. Heute stehen Autoren wie François Taillandier oder Michel Houellebecq für diese Kraft des Romans. Sie hilft einem auch, über die Dinge zu sprechen, wenn man entmutigt ist.
Nachlesen kann man dies in dem Kaplakenbändchen “Der letzte Franzose”, einer Sammlung von kleineren Texten, die einen guten Einblick in die Werkstatt des Meisters bieten. Der Band enthält auch den fulminanten Essay “Big Other”, den Raspail 2011 anläßlich der französischen Neuauflage des “Heerlagers” schrieb – die übrigens ein vieldiskutierter Bestseller war. Hoffen wir, daß das Buch in Deutschland auch zum Roman unserer Zeit und unserer Katastrophe wird. Das Heerlager der Heiligen in meiner Neuübersetzung: Hier vorbestellen!
Meier Pirmin
Auf die Lektüre neugierig machen die Hinweise auf Orwell, Bernanos, Fellini und zumal Canetti, natürlich der Hinweis, dass M.L. das Werk selber übersetzt hat. Das kann wichtiger sein, mehr bringen, als dem Bedürfnis, einen eigenen Roman zu schreiben, nachzugeben. Hoffe, dass die Lektüre nicht ähnlich enttäuscht wie Houellebecq, dem es klar nicht gelungen zu sein scheint, sich in die Liga der 1000 besten Texte der abendländischen Epoche hineinzuschreiben. Sollte Jean Raspail ebenfalls enttäuschen, was ich wegen Lichtmesz eher nicht annehme, kann man zum Thema "Multikulti" immer noch die "Verlobung von Santo Domingo" von Kleist wieder mal lesen. Diese Geschichte hat einen tiefen Zusammenhang mit Kleists Inhaftierung als angeblicher Spion in einer Festung im Französischen Jura an der Schweizer Grenze, wo auch Haitis schwarzer Revolutionär Toussaint Louverture inhaftiert war und dort schon aus klimatischen Gründen zu einem traurigen Ende kam. Kleist ist der politisch am wenigsten korrekte unter allen deutschen Klassikern.