zum 70. Mal – der Westen freut sich über seinen Sieg traditionell heute, am 8., der Osten morgen, am 9. Mai. Die angemessene Haltung für Leute unseres Schlages ist ein auch nach so vielen Jahren noch immer erschüttertes Gedenken an das Schicksal unseres aus unzähligen Wunden blutenden Vaterlands.
Deutschland hatte den 2. Dreißigjähren Krieg endgültig verloren, einen Weltanschauungskrieg gegen zwei Feinde, von denen der eine seine Schreckensherrschaft im Osten errichtet und der andere seine sanfte Zersetzung von jenseits des Atlantiks aus in Gang gesetzt hatte. Beide Ideologien und Organisationsformen widersprachen dem deutschen und dem europäischen Geist und dem retardierenden Moment seiner großartigen Geschichte.
Daß Deutschland zur Trägernation eines radikalen Widerstands gegen beiderlei Fehlweg in die Moderne werden würde, stand außer Frage. Daß es diesen Gang unter dem Verrat der eigenen Denktradition und mithilfe einer Schreckensherrschaft antrat, ist die Tragödie unserer Nation und unserer Geschichte. Seither trennt uns ein Krater von dem, was davor lag, und daß es so ist, hat mit unserer Niederlage zu tun. Denn die Sieger hätten in ihre eigenen Abgründe zu blicken, hätte sie der Gewinn nicht blind gemacht.
Heilung liegt für uns weder im Vergessen, noch darin, irgendeine Schuld auf Dauer zu stellen und ein Volk verantwortlich zu machen für das, was eine Führung betrieb. Heilung liegt vor allem nicht darin, mit den Siegern die Befreiung der Deutschen von sich selbst zu feiern, denn die Auswüchse sind pathologisch, und die Nachkriegsverluste unseres Volkes an Mensch, Land und Vermögen sind so gewaltig, daß von einer Befreiung nur im Bezug auf das Ende der unmittelbaren Kriegshandlungen die Rede sein kann.
Heilung ist weniger denn je in Sicht, das zeigen die bizarren Auswüchse dieser Tage:
Ein Joachim Gauck dankt im Rahmen einer Gedenkfeier für die in deutscher Kriegsgefangenschaft während des Krieges verstorbenen Soldaten der Roten Armee der Sowjetunion für ihre Befreiungstat – und erwähnt mit keiner Silbe, daß für Millionen deutscher Kriegsgefangene das Leiden erst begann und der Tod wartete, nachdem die “Befreier” gesiegt hatten.
Das Eigene? Dreck.
Ein Jürgen Elsässer, ein Manfred Rouhs und die Granden der Legida und anderer Pegida-Ableger rufen für morgen zu einer Kundgebung in Berlin auf – und begrüßen die russische Rockergruppe “Nachtwölfe”, die seit zwei Wochen auf den Spuren der Roten Armee mit ihren Maschinen anrollen, um pünktlich am 9. Mai in unserer Hauptstadt einzutreffen. Stalin ist für diese Männer derjenige, dem Rußland seine Größe verdankt.
Elsässers Begründung für die Teilnahme der Nachtwölfe:
Solche vergangenheitszentrierten Debatten führen nicht weiter! Es geht am 9. Mai 2015 in erster Linie um den 9. Mai 2015, nicht um den 9. Mai 1945!! Das Selbstverständnis der “Nachtwölfe” ist, ganz im Sinne von Putin, pro-deutsch! Zelebriert wird der Sieg über Hitler, nicht der Sieg über Deutschland. Dass sie nach Berlin kommen, heißt in erster Linie: Wir lassen uns von der NATO nicht stoppen!
Das symbolische Datum? Nicht so wichtig.
Gestern waren sie bereits in Torgau, diese “Nachtwölfe”, und haben sich nächtens vor dem Sowjetehrenmal auf jener Brücke fotografieren lassen, auf der die Heeresspitzen der Amerikaner und der Roten Armee einander erstmals begegneten. Auf dem Foto sind auch Lutz Bachmann und Siegfried Däbritz aus dem Orgateam der Dresdner Pegida zu sehen. Begründung: Mit den Nachtwölfen einen Kranz niederlegen, einander die Grausamkeiten vergeben und dafür sorgen, daß derlei nie wieder passiert.
Der symbolische Ort? Nicht so wichtig.
Derweil steht Frank-Walter Steinmeier in Wolgograd – vormals Stalingrad – und verneigt sich vor den Soldaten eines fremden, totalitären Regimes, die den Vormarsch der Soldaten unseres eigenen totalitären Regimes aufhielten.
Das Eigene? Schon wieder nicht der Rede wert.
Wer nicht feiert, hat verloren? Götz Aly schreibt in der Berliner Zeitung:
Die Sieger und Befreier schenkten den Europäern eine bessere Zukunft – auch den damals noch uneinsichtigen Deutschen. Deren Nachfahren wissen, dass die blutige Niederlage ihrer Väter, Großväter oder Urgroßväter das größte geschichtliche Glück ist, das ihnen zuteilwerden konnte.
Wir Schnellrodaer (und damit dürfen wir hoffentlich auch sehr, sehr viele unserer Leser meinen) stehen fassungslos vor solcher Taktlosigkeit, solcher Verblendung und solch völlig abhanden gekommenem Maßstab. Wenn es deutlicher Zeichen für die Verirrung des politischen Personals bedürfte, für die Auswüchse querfrontfixierter PR und mangelndem Gespür für den richtigen Ort: hier sind sie, diese Zeichen, diese Symptome des freien Falls in die totale Verwirrung.
In Schnellroda brennt heute und morgen eine Kerze.
Der Gutmensch
Es dürfte sich anschließen: Die Frage, welche Aufgabe und welcher Spielraum eigentlich unserer Generation zukommt? Dass wir uns das nicht von A bis Z der Generation unserer Eltern diktieren lassen dürfen, sollte denen eigentlich keine Rätsel aufgeben; schließlich und endlich waren sie es, die buchstäblich keinen Stein auf dem anderen gelassen haben. Wie also weiter?