Heidegger, Revolution und Querfront

Heideggers Denken ist, das erzähle ich jedem, der es hören will (und auch allen anderen),...

Martin Sellner

Martin Sellner ist Kopf der österreichischen Identitären Bewegung.

unum­gäng­lich für ein ech­tes Ver­ständ­nis unse­rer Zeit und der Auf­ga­be unse­res Lagers. Mit einer gewis­sen Genug­tu­ung erle­be ich daher den heim­li­chen, neu­er­li­chen Auf­stieg Heid­eg­gers zum „geis­ti­gen König“ vie­ler rechts­in­tel­lek­tu­el­ler Krei­se, der im Moment statt­fin­det. Die­ser Pro­zess ist oft „sub­ku­tan“ und geht tie­fer als etwa Dug­ins offe­ner Makaraismus.

Ich sehe dar­in manch­mal sogar eine „ideen- und seins­ge­schicht­li­che Notwendigkeit“.Was bedeu­tet aber die­ser Pro­zess, in dem das Erschei­nen der schwar­zen Hef­te nur als „Kata­ly­sa­tor“ wirk­te, nun für die „aka­de­mi­sche“ Bear­bei­tung Heid­eg­gers? Ich glau­be: sie zerfällt.

Was bis­her als Bruch­li­nie und inne­rer Wider­spruch bestand, die „Hass­lie­be“ zu Heid­eg­ger, der fast alle wesent­li­chen Debat­ten der neue­ren Phi­lo­so­phie vor­weg­ge­nom­men hat, den man „auf Knien ver­ach­tet“ – wird zum Kra­ter. Ein Kra­ter in den vie­le, die ihre aka­de­mi­schen Kar­rie­re auf dem „Nazi-Phi­lo­so­phen“ auf­ge­baut haben, nun zu stür­zen dro­hen. Ver­zwei­felt ver­su­chen nun eini­ge, die, war­um auch immer, Heid­eg­ger als For­schungs­schwer­punkt gewählt haben, sich am Rand zu hal­ten. Sie tun das meist, indem sie die „Nütz­lich­keit“ Heid­eg­gers für den Gesamt­pro­zess des Fort­schritts, der „Eman­zi­pa­ti­on“, also der Zer­stö­rung aller Kul­tu­ren, Völ­ker, Gren­zen und Geschich­ten beteuern.

Ein ent­lar­ven­des Indiz die­ser Ver­zweif­lung ist seit kur­zem im Web­blog der Wochen­zei­tung Jungle World nach­zu­le­sen. Zuge­ge­ben: es stellt eine „muti­ge“ Ver­zweif­lung, eine Flucht nach vor­ne dar, aus­ge­rech­net im Leib- und Magen­blätt­chen der anti­deut­schen Pop­ti­fa eine Apo­lo­gie Heid­eg­gers zu ver­fas­sen und dar­in sogar – welch Blas­phe­mie – den Gott­va­ter der Kri­ti­schen Theo­rie  Theo­dor W. Ador­no zu kritisieren.

Trotz mei­ner Sym­pa­thie für die­sen Ver­such und jedes ech­te, rein phi­lo­so­phi­sche Inter­es­se muß ich in die­sem Text klar­stel­len: Nein. Heid­eg­gers Den­ken ist für das, was heu­te unter „Eman­zi­pa­ti­on“ fir­miert, für das Pro­jekt des Mensch­heits­welt­staa­tes und der „befrei­ten Gesell­schaft“, nicht nur unbrauch­bar – es ist sein ein­zi­ger, wah­rer und letz­ter Feind.

Das ehr­li­che Inter­es­se Chris­ti­an Schmidts zeigt sich, wenn er Heid­eg­ger gegen die plum­pen Ver­dik­te jüngs­ter Zeit, sowie gegen Emma­nu­el Faye und Ador­no in Schutz nimmt. Er erkennt die Wur­zel des gro­ßen Unbe­ha­gen über und der Hys­te­rie gegen Heid­eg­ger in der Unge­heu­er­lich­keit: „dass Heid­eg­ger ein Nazi war und trotz­dem einen bedeut­sa­men Bei­trag zur Phi­lo­so­phie geleis­tet hat. Natio­nal­so­zia­lis­mus und Geist dür­fen ein­fach nicht zusammengehen.“

Uns ist die­ses “Was nicht sein darf, kann nicht sein” nur all­zu bekannt. Ist man bei­spiels­wei­se erst ein­mal als Neu­rech­ter “ent­tarnt”, ist ab sofort von vorn­her­ein klar, dass man kei­ner­lei ech­tes phi­lo­so­phi­sches Inter­es­se an allen Fra­gen haben, son­dern sie nur für sinist­re Ideo­lo­gien „instru­men­ta­li­sie­ren“ kann . Fast die gesam­te Sekun­där­li­te­ra­tur zu Heid­eg­ger durch­zieht die­ser bos­haft-nei­di­sche Zug, der sei­nem Den­ken immer „Stra­te­gien“, bewuss­te „Wort­wah­len“, „Tak­ti­ken“ etc. unter­stellt. Schmidt ist hier eine ange­neh­me Aus­nah­me. Die­ser ver­die­ne eine „ernst­haf­te­re Ana­ly­se, als ihn ein rein phi­lo­lo­gi­scher Nach­weis natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Motive“.

In sei­nem Text gelingt ihm so ein tie­fe­rer Auf­bruch in Heid­eg­gers Den­ken, doch am Ende, sonst wäre er wohl auch nicht in der Jungle World erschie­nen, wird das gelo­cker­te Den­ken wie­der fest in das „lin­ke“ Polit­pro­jekt ein­ge­fügt. Das Leit­mo­tiv dazu ist, wie bei fast der gesam­ten lin­ken Nietz­sche und Heid­eg­ger Lek­tü­re, eine selt­sa­me Tren­nung zwi­schen „Fra­gen und Den­ken“, zwi­schen Kri­tik und Anre­gung, Destruk­ti­on und Kon­struk­ti­on sowie revo­lu­tio­nä­ren und kon­ser­va­ti­ven Momen­ten. Doch ich grei­fe vor.

“Heid­eg­ger war ein Den­ker der Revo­lu­ti­on, des Umbruchs und sogar der Frei­heit.“ Er ant­wor­tet „auf Fra­gen, die sich auch lin­ken Kon­zep­tio­nen einer Über­win­dung des Kapi­ta­lis­mus stel­len.“ , so stellt es Schmidt pro­vo­kant in einen Raum, den er von Heid­eg­ger-Has­sern besetzt weiß. Seit den Schwar­zen Hef­ten hat sich hier die Spra­che sogar ver­schärft. Heid­eg­gers Den­ken ist „kon­ta­mi­niert“, „ent­stellt“, „erle­digt“, „unver­tret­bar“. Es ver­wei­se wie das „Win­ter­hilfs­werk auf die Gas­kam­mern“ (Scheit/Gruber, 13, 2014). Man scheint nur einen Fuß­breit vom Auto­da­fé ent­fernt. Wie will Schmidt hier dage­gen halten?

Er greift Heid­eg­gers Kon­zept der „Zuhan­den­heit“ auf, das  in sei­ner „Fun­da­men­tal­on­to­lo­gie“ in Sein und Zeit als wesent­lich für das mensch­li­che Dasein ist. Die uns umge­ben­den Din­ge ver­ste­hen wir, indem wir sie gebrau­chen, im Voll­zug und in ihrem gegen­sei­ti­gen Ver­wei­sungs­zu­sam­men­hang. In die­ser „onti­schen“ Erfah­rung von dem was als Sei­en­des all­täg­lich erleb- und per­sön­lich nach­voll­zieh­bar ist, muss nach Heid­eg­ger jede „gro­ße“ phi­lo­so­phi­sche Fra­ge immer neu anset­zen. Es geht um ein Pri­mat der “Erfah­rung”, die Offen­heit für das Phä­no­men, in der Heid­eg­ger auch sei­nem eige­nen geis­ti­gen Ahn­her­ren Huss­erl treu blieb.

Schmidt sieht die­sen Ansatz schein­bar als eine Art Mit­tel gegen den Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang und die Ver­ding­li­chung bestimm­ter sozia­ler Struk­tu­ren und Rol­len, sowie poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Ord­nun­gen. Wie Nietz­sches genea­lo­gi­sche Kri­tik (Fou­cault hat das auf den Punkt gebracht), so soll Heid­eg­gers „ontisch-onto­lo­gi­sche“ Kri­tik also dazu die­nen, die Gewor­den­heit und Ver­än­der­bar­keit der Ver­hält­nis­se zu erken­nen, was einen Bruch ihrer blin­de Repro­duk­ti­on ermög­licht. Damit die „Revo­lu­ti­on“ nicht ihre Kin­der frisst, damit nicht nur ein König den ande­ren ersetzt, muss es eine fun­da­men­ta­le Kri­tik der Ver­hält­nis­se geben, zu der Schmidt Heid­eg­gers Den­ken frucht­bar machen will. Das Aus­ge­hen vom Onti­schen, vom Voll­zug und der Exis­tenz, kann so gefes­tig­te For­men auf­lo­ckern, die Kokon­sti­tu­tivi­tät von Mensch und Umwelt, Ein­zel­nem und Gesell­schaft erkenn­bar machen und, frei nach Marx die Ver­hält­nis­se „zum Tan­zen brin­gen“. Schmidts Ansatz, den ich hier etwas „aus­ge­malt“ habe, ist bis hier­hin zuzustimmen.

Auch Heid­eg­gers NS-Enga­ge­ment ist als “phi­lo­so­phisch-revo­lu­tio­nä­rer Akt” gegen eine alte bür­ger­lich-meta­phy­si­sche Geis­tes­welt durch­wegs rich­tig inter­pre­tiert. Die­ser Beweg­grund zeigt sich gera­de in sei­ner Ent­täu­schung am bor­nier­ten Ras­sen­bio­lo­gis­mus der Nazis.

Schmidts Beschrei­bung von Heid­eg­gers „seins­ge­schicht­li­chem Anti­se­mi­tis­mus“ scheint mir hin­ge­gen etwas ver­kürzt. Heid­eg­gers Seins­ge­schich­te, in der Schmidt ihn – gleich Hegel – Völ­kern bestimm­te Rol­len zuschrei­ben sieht, ist mei­ner Ansicht nach eher sei­ne spä­te­re Revi­si­on eines gewis­sen „Ger­ma­no­zen­tris­mus“, und einer auf das Dasein fokus­sier­ten „Unge­schicht­lich­keit“. Ich sehe hier, ähn­lich wie Peter Traw­ny, ein tie­fe­res „phi­lo­so­phi­sches“ Pro­blem in der Grund­fra­ge von Tat und Den­ken, von „his­to­ri­scher Rol­le“ und der Über­win­dung des His­to­ris­mus vor­lie­gen, das einer sepe­ra­ten Betrach­tung bedürfte.

Schmidt sieht Heid­eg­gers Fazit aus dem NS in einer Art des „anti­to­ta­li­tä­ren“ Fra­gens, wel­ches am kon­kret-gesell­schaft­li­chen ansetzt und auch „abwe­gi­gen Fra­ge­stel­lun­gen“ Raum gibt. Damit sei Heid­eg­gers Nütz­lich­keit für eine „befrei­te Gesell­schaft“ vor allem in einer Art Ido­la­trie­ver­bot zu sehen. Die „Undar­stell­bar­keit“ der Uto­pie und der befrei­ten Gesell­schaft, im Hier und Jetzt, wäre so in Heid­eg­gers „War­nen und Weh­ren“, in sei­nem Hüten des Seins als eine Art bloch­sches Hoff­nungs­prin­zip, als nega­ti­ve Uto­pie aufgehoben.

So schön das anmu­tet: es ist ein­fach falsch. Ja, Heid­eg­gers Den­ken ist eine Bewah­rung des „Ande­ren“, des Unge­dach­ten, des „Nichts“ als eines offe­nen, wei­ten Raums der Mög­lich­keit. Er ist ein Auf­hal­ter, eine Wäch­ter gegen die impe­ria­lis­ti­sche Ver­nunft und die tota­li­tä­re Auf­klä­rung. Doch das, was in die­sem Raum liegt, ist NICHT als „befrei­te Gesell­schaft“ vor­ge­zeich­net, wie Schmidt es trotz aller beteu­er­ter Offen­heit vor­aus­setzt. (Und Heid­eg­gers Dasein, möch­te man gegen Sat­re ergän­zend hin­zu­fü­gen, ist NICHT die „Mensch­heit“.)

Heid­eg­gers spä­tes „mys­ti­sches“ Den­ken ist nicht von sei­nem frü­hen kri­ti­schen Fra­gen zu tren­nen. Die revo­lu­tio­nä­re “Jemei­nig­keit” des Daseins, die jede Wahr­heit in die Rela­ti­on sei­ner Lebens­pra­xis stellt, ist untrenn­bar mit der Fra­ge nach dem Sein und der Offen­heit für jenes Geheim­nis ver­bun­den, des­sen Allein­be­sitz auch der Mar­xis­mus ideo­lo­gisch behaup­tet. Die Rezep­ti­on Nietz­sches und Heid­eg­gers in der Lin­ken ist hier meist schwerst schi­zo­phren und ver­sucht, das „kri­tisch-eman­zi­pa­to­ri­sche“ aus dem gan­zen Rest des Den­kens zu destillieren.

Wo Nietz­sche als fröh­li­cher Wis­sen­schaft­ler genea­lo­gisch alle Wer­te als Prä­gun­gen und Set­zun­gen ent­larvt und das Hohe­lied der Viel­falt singt, ist er gut genug. Wo er aber genau die­ses Set­zen, die Exklu­si­vi­tät und das Son­der­recht bejaht, gar den Pole­mos und die Tra­gik preist und als Zara­thus­tra neue Wert­ta­feln ver­kün­det, wird er geflis­sent­lich igno­riert. Heid­eg­gers radi­ka­le, für mich unüber­biet­ba­re Kri­tik wird eben­so gehört und soll eben­so „frucht­bar“ gemacht wer­den, wo er aber glas­klar gegen jedes sozia­lis­tisch-mar­xis­ti­sche Fort­schritts-Pro­jekt einer Befrie­dung und „Befrei­ung“ der Welt spricht – wird er eben­so verleugnet.

Hier mutet beson­ders selt­sam an, dass Schmidt gera­de an die Zuhan­den­heit der Din­ge und die Wahr­heit als Offen­bar­keit des Vor­han­den „kom­mu­nis­tisch“ ando­cken will. Geht Heid­eg­ger doch in der Ana­ly­se „mensch­li­cher Pra­xis“ viel tie­fer als Marx. Die­ser bleibt, egal wie fle­xi­bel ihn die geis­ti­ge Ver­ren­kung neue­rer lin­ker Lek­tü­re ver­biegt, letzt­lich an einer Gren­ze ste­hen: Es ist der „Huma­nis­mus“ und in des­sen Gefol­ge der „Gebrauchs­wert“ der Din­ge für den Men­schen und sei­nen „quäl­ba­ren Leib“, die Ver­nut­zung und Anpas­sung der Natur für sei­ne Bedürf­nis­se. In Mar­xens zutiefst moder­nem Den­ken lässt sich kein unan­tast­ba­rer Eigen­be­reich der Din­ge, Men­schen, Völ­ker, Kul­tu­ren und der Erde auf­recht­erhal­ten. „Zwi­schen­tö­ne sind Krampf im Klas­sen­kampf“– so platzt der doo­fer Agit­prop mit der tie­fen Wahr­heit des gan­zen Pro­jekts heraus.

Die „Illu­si­on der Tech­ni­k­eu­pho­rie“ die Schmidt kri­ti­siert, ist in „Sowjet­macht + Elek­tri­fi­zie­rung“ nicht nur “col­la­te­ral dama­ge”, son­dern Essenz des mar­xis­ti­schen Pro­jekts. Man will als Abkömm­ling der Auf­klä­rung den Men­schen vom „Natur­zwang“ befrei­en. Den „Men­schen“? Was man im Grun­de „befrei­en“ will, ist das Hirn­ge­spinst des nack­ten car­te­sia­ni­schen Sub­jekts aus allen, wirk­li­chen eth­no-kul­tu­rell gewach­se­nen, geschlecht­li­chen „Hül­len“. Im Namen eines tota­len Ega­li­ta­ris­mus, indem sich mit allen „Ungleich­hei­ten“ kon­se­quen­ter­wei­se auch Zeit, Gren­zen, Frei­heit und Iden­ti­tät auf­lö­sen müssen.

Gleich­heit und Frei­heit sind „dia­lek­tisch“, wie bereits Hork­hei­mer wuss­te. Dabei sind die Lin­ken selbst geis­tig unfrei. Ihr Den­ken speist sich noch „von der Flam­me Pla­tos“, Pau­lus, Des­car­tes und Bacons. Sie hän­gen der Illu­si­on eines „ver­söhn­ten Sub­jekts“ und einer idea­len Welt an, die seit Nietz­sche und Heid­eg­ger unhin­ter­geh­bar „tot“ ist. Ihr den­ken ist, wie Gian­ni Vat­ti­mo schreibt, „noch immer in Bezug auf eine mög­li­che ‘voll­kom­me­ne’, letz­te, ganz­heit­li­che, Anwe­sen­heit des Seins (auch wenn sie, wie in der nega­ti­ven Dia­lek­tik Ador­nos, oder im Uto­pis­mus Blochs, die­se Voll­kom­men­heit ledig­lich als reglua­ti­ves Ide­al begreift)“, gerich­tet. Es „ris­kiert damit, uns über­haupt nicht zu befrei­en.“ (Gian­ni Vattimo,“Jenseits des Sub­jekts”, S. 34)

Aus ihrer geis­ti­gen Ohn­macht und ihrem Ver­sa­gen, des­sen schlech­tes Gewis­sen sich in Amok­läu­fen gegen die „Nazis“, die „Sabo­teu­re“ der hei­len Welt von Zeit zu Zeit Luft macht, sprießt der Wild­wuchs des post­mo­der­nen Den­kens. (Ein gewis­ser „Ekel“ vor die­sem, sowie ein bestimm­ter „eli­tä­rer Zug“, der sich in bes­se­rem Mode/­Mu­sik-Geschmack nie­der­schlägt, ist viel­leicht das, was anti­deut­schen Lin­ken und Neu­en Rech­ten gemein ist.) Man muss es Leu­ten wie Schmidt bein­hart ins Gesicht sagen: Eure „freie Asso­zia­ti­on der Indi­vi­du­en“ im „Ende der Geschich­te“ ist genau das, was sich heu­te im Gestell einer ver­netz­ten Beton­welt zeigt, in deren wuchern­den „Nicht-Orten“ (Augé) die „Nicht­men­schen“, Cha­rak­ter­mas­ken des Kapi­tals gras­sie­ren. Es ist eure Welt! Ihr habt sie erschaf­fen, nicht wir.

Ihr habt „den Krieg gewon­nen“, habt „gesiegt“. Ihr habt alle kul­tu­rel­len, geis­ti­gen und meta­po­li­ti­schen Macht­zen­tren inne – und wohin habt ihr uns gebracht? Eure epo­cha­le Ohn­macht gegen­über Posi­ti­vis­mus, Kapi­ta­lis­mus, Libe­ra­lis­mus und eure post­mo­der­nen Zer­fran­sun­gen, die Rou­ti­ne gewor­de­ne, akti­vis­ti­sche „Gesell­schafts­kri­tik“, die kei­ne Sau inter­es­siert – all das beweist: Ihr lebt in einer ideo­lo­gi­schen Nische des Empires (Negri & Hardt), wer­det von ihm ali­men­tiert und habt euch damit zurecht gefun­den. Heid­eg­ger gehört euch nicht, weil ihr sei­ne wah­re Bot­schaft und Kri­tik nicht hören wollt: dar­in näm­lich, wor­auf sie, über das Kri­ti­sier­te hin­weg, ver­weist: das Unge­dach­te. Das Kom­men­de, das oft gera­de von dort her kommt, wo das Heu­te nur Cha­os, Wahn­sinn, Bos­heit und Krank­heit sieht.

Es ist viel­leicht gar nicht schlecht, wenn die “Schwar­zen Hef­te” Heid­eg­ger aus einer fal­schen Ein­ge­mein­dung „frei­ge­sprengt“ haben, selbst wenn dar­un­ter die „neu­tra­le“, aka­de­mi­sche Bear­bei­tung sei­ner Tex­te lei­det. Heid­eg­gers Den­ken ist mit dem poli­ti­schen und mora­li­schen Betrieb, in den sich das aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie­ren ein­ge­reiht hat, sowie­so unvereinbar.

Wer aus Heid­eg­ger “tool­tips” zur „befrei­ten Gesell­schaft“ her­aus­liest, zeigt auch, wie man Heid­eg­ger nicht lesen soll­te. Das Erschei­nen eines sol­chen Arti­kels in der Jungle World ist aber den­noch posi­tiv zu wer­ten. Wie­der sehe ich hier­in ein Indiz für eine selt­sa­me, tek­to­ni­sche Plat­ten­ver­schie­bung des Denkens.

Die Ver­hält­nis­se gera­ten aus den Fugen. Doch nicht nur in der „Tie­fe“ der Geis­tes­ge­schich­te: Deut­sche Pegi­dis­ten fei­ern mit rus­si­schen Nacht­wöl­fen den 8./9. Mai, anti­deut­sche Lin­ke fei­ern den US-Impe­ria­lis­mus, Rech­te und Lin­ke kon­ver­tie­ren zum Islam, und ein Tür­ke ist der lau­tes­te Patri­ot Deutsch­lands. Poli­ti­sche Iden­ti­tä­ten verfließen.

Martin Sellner

Martin Sellner ist Kopf der österreichischen Identitären Bewegung.

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Kommentare (46)

Gustav Grambauer

16. Mai 2015 09:32

Eigentlich hat in Deutschland Rudolf Bahro von linker Seite her schon die Heidegger-Mauer intellektuell aufgesprengt. Sein Dynamit dazu war Mumfords Modell der Megamaschine, ein sehr plastischer, in Heigegger-Sekundärliteratur-Jargon: "wirkungsmächtiger" Zugang. Bahro war allerdings auch klar, wie tief das "Gestell" innerseelisch eingewurzelt ist, wie mühsam es dort abgetragen werden muß und wie riskant dies ist. Daran ist er letztlich auch gescheitert. Ich kenne ja den Schmidt nicht, aber der überhaupt schon damit angefangen?! Dazu reichen wir jedem Linken die Hand. Die Wagenknecht hat übrigens den Goethe-Tick, auch da ist noch "Potential".

Herr Sellner, ich mag Ihren Stil des spielerischen Balancierens zwischen Meta- und Alltagsebene, weit jenseits des Krampfs der elften Feuerbachthese.

Ihr Schlußwort hat mich allerdings überrascht. Für mich ist Heidegger derjenige, der die Philosophie aus dem Kerker der Polis befreit hat. "Ihr werdet mir nicht entkommen, ich werde euch nicht entkommen."???

Doch. Ich bin dabei, der Megamschine zu entkommen. Mit jeder Faser meines Daseins. Ganz spielerisch.

- G. G.

Waldgänger

16. Mai 2015 11:14

Ich würde wirklich gerne wissen, ob besagter Christian Schmidt, der in der linken Wochenzeitung "Jungle World" schreibt, diesen anspruchsvollen Text von Martin Sellner schon gelesen hat ...
Wahrscheinlich tut er es heimlich - und sollte er sich hier antwortend zu Wort melden, so natürlich unter Pseudonym.

Warum das alles nicht egal ist?
Die Tatsache der Geist- und Debattenverweigerung der (meisten) Linken gegenüber allen herausfordernden national-konservativen oder einfach nur anderen Gedanken kann intellektuell orientierte Menschen eigentlich nicht froh stimmen.
Zu sehr markiert es schließlich das Ende, den Zusammenbruch jeglicher lagerübergreifenden geistigen Auseinandersetzung, ja eines geistigen Lebens jenseits der Nischen überhaupt.

Nun wissen wir, das eben dies von der Mehrheit jener, die heute glauben "links" zu sein, gewollt wird.
Zwar gleichen sie damit den verunsicherten Katholiken des 19. Jahrhunderts, die die Debatte mit Naturwissenschaftlern scheuten, doch ist die linke Weltanschauung ja auch nur noch eine Art Religion.
Den eigenen Glauben will keiner erschüttert sehen - und je mehr einer nur noch beflissen glaubt, aber nicht weiß, desto mehr ... !

Indem Sellner auf hohem intellektuellen Niveau dem Herrn Schmidt ein Gesprächsangebot macht, mag er jene Linksgläubigen erreichen können, die ihr Hirn noch nicht an der Garderobe abgegeben haben.
Ob Herr Schmidt sich hier angesprochen fühlt, weiß nur er allein ...

gert friedrich

16. Mai 2015 13:14

Jungle World ist seit einiger Zeit nicht mehr so links und antideutsch wie früher.
Die Junge Freiheit ist nicht mehr so rechts und prodeutsch wie früher.
Die vernünftigeren Leute der Jungleworld wertschätzen den Staat mit seinen Freiheiten,Rechten und Sicherheiten.
Die lernfähigen Leute der Jungen Freiheit sehen die Deutschen nicht mehr als die armen von den Siegern fremdbeherrschten Menschen.
In Deutschland kann Gutes gelingen.

Yvonne

16. Mai 2015 13:36

Heideggers inkriminierte Äußerungen spiegeln die seit dem 19. Jahrhundert übliche Sichtweise der Juden als Vorhut der Moderne, als Emanzipationsträger und Zersetzer – was insoweit eine Berechtigung hat als es überhaupt zulässig ist von Völkern und Volkscharakteren zu sprechen. Selbstverständlich bildete diese Geisteshaltung auch die Grundlage für den Antisemitismus der Nationalsozialisten, so dass es nun heißt: seht, wohin das geführt hat. Doch an und für sich wird die Sache dadurch nicht falsifiziert, diesen „Schuh“ sollten wir uns als freie Geister, die wir doch sind, nicht anziehen! Und das stört mich an der IB, sie ziehen sich diesen Schuh an und verlangen Abgrenzung. Schade eigentlich. Heidegger hat das nicht für nötig befunden, wie man an seinem „Vermächtnis“ sieht.

Harald de Azania

16. Mai 2015 14:28

Verehrter MS,

Schoen gesagt und gedacht.

Nur ein paar kleine Anmerkungen:

Mit Adorno's 'Minima Moralia' landet man, deren thesen konsequent angewandt in den Hoehlen der Altseinzeit.

Bei Existentialismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus bin ich skeptisch ob dieses Denken ueberhaupt wo hinfuehrt, ausser zur Herrschaft der Phrase und des Jargons.

Bei aller Anerkennung MH's, mit Carl Schmitt (CS) kommt man weiter, hier und jetzt "Erkenne die Lage!" vor allem: Politische Romantik, Roemischer Katholizismus und politische Form, Der Begriff des Politischen. Gerade bei letzerem ergeben sich interessante Bruecken zu Georg Orwell, sowohl '1984' als auch "Animal Farm".

In den romanischen Laendern mag ein echte Diskussion zwischen konsequenten Linken und konsequenten Rechten sinnvoll und geistig anregend sein.

In den von Hypermoralismus erfuellten Diskursraeumen Laender "germanischer " Zunge ist dies nicht der Fall. Die - huebsch formuliert - alimentierte Linke ist denkfaul, verliebt in den eigenen Jargon, arbeitet mit den Mitteln der moralischen Erpressung und verlangt in diesem Machtspiel die andauernde Unterwerfung des Anderen und ist nicht im geringsten bereit, Regeln anzuerkennen.

. Wer Spielregeln immer wieder missachtet, mit dem kann nicht gespielt werden.

Wer aus richtig erkannter eigener Minderwertigkeit sein Resentiment zum Masz aller Dinge macht - die Welt als Laune ohne Vorstellung - kann ebenfalls kein Diskussionsgegner sein.

War da nicht, wie noch "0" kommentare waren auch ein Verweis auf Pierre Dreu la Rochelle? Oder habe ich bereits Fiebervisionen? :-)

Im Grunde gibt es zwei Positionen. Die Partei des Nihilismus, gezeugt aus der Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse und fuer die der NS und dessen (Un)taten eine wunderbare Gelegenheit sind, alles anzugeifern und zersetzen zu wollen, was nur irgendwie nach Ordnung ausschaut und eben die Partei der Ordnung.

Die PdO musz aber hier und heute die Partei des "in Form sein", des "in Form sein wollen" und "des in Form bringen" sein. Das geht mE ueber klassische konservative und reaktionaere ( Nicola Gomez Davila) Denk- und Gestaltungsansaetze hinaus.

Solange man Faschismus auf die Runenrauner, Rasserassler & voelkischen Spintisierer reduzieren kann wird man das Konzept des wirklichen 'fascio' nicht erkennen oder erkennen wollen.

Hemmungslose Daemonisierung blockt jede differenzierte Argumentation ab. Alles wir mit bestimmten Missetaten zugedeckt. Das ware so, als wuerde man gegen die Sozialdemokratie mit dem Archipel Gulag argumentieren.

Wer zb als Falangist Spanien wieder "Form" geben wollte, war einfach historisch im Recht, unabhaengig von akzidentiellem wie Gruss oder Hemdfarbe.

Frage; was kann man hier und heute von dynamischen "in Form seienden und Form geben wollenden" historischen Bewegungen lernen.
Das beginnt schon bei Oliver Cromwell's ( den ich als Monarchist ueberhaupt nicht mag ) 'Eisenseiten'.

Wie kann die Selbstvergoetzung eines dynamischen "Formgebers" ( das andere "F"-Wort vermeiden wir einmal), die zum Ruin der Gestaltungskraft fuehrt, verhindert werden.

Wie kann "Form geben" und das Konzept der spontane Ordnung nach FA von Hayek vereinbart werden?

MS, seine Ueberlegungen und die Identitaere Bewegung in Oesterreich haben das Zeug zu einer hochproduktiven Aenderung der Lage.

Genug fuer Heute. Meine maid darf mir einen Whiskey on the rocks servieren und ab in den swimming pool.

HdeA

Meier Pirmin

16. Mai 2015 15:02

Ich möchte mal sehen, wie sich mit den hier genannten deutschen "Pegidisten" und russischen "Nachtwölfen" über Heideggers "alltägliches Selbstsein und das Man" diskutieren lässt, zu schweigen davon, dass Heidegger sagte, für das Verständnis seines Schaffens sei eigentlich die Kenntnis des Griechischen Voraussetzung. Auch die Hölderlin-Interpretation und der für Motorradfahrer doch sehr quere "Feldweg", mithin die vielleicht stärksten Texte Heideggers, sind diesen Leuten, meine damit sicher nicht Kubitschek und Sellner, wohl schwer zugänglich bis unzugänglich. Von Adorno sind vielleicht die Reflexionen über die zwischenmenschliche Kälte in der modernen Zivilisation noch brauchbar, echt anregend, vielleicht mit Schnittmengen zu gewissen Reflexionen Jüngers, der nichtsdestoweniger mit dieser Kälte leben konnte, sofern er sie nicht gerade kultiviert hat. Für strenges wissenschaftliches Denken, fern von jeder Ideologie, gehören Heidegger und Adorno vermutlich eher nicht zu den 500 über den postmodernen Quatsch betr. das "richtige Bewusstsein" hinausführenden grossen Menschheitsautoren. 500 Seiten Montaigne sind da schon etwas ganz anderes. Klar, dass man derzeit Adorno an den Hochschulen massgebend findet, Heidegger vielfach einen "Nazi", hat mit Philosophie natürlich gar nichts zu tun, eher mit "Konsens-Objektivität", also demjenigen, was "man" heute, um als pensionsberechtigter Denker zu gelten, geistig trägt. Von hier aus wäre tatsächlich über Heideggers "man" noch tiefer zu reflektieren.

PS. Das "Sezession"-Heft Nr. 65 zu Heidegger zu bestellen hat sich für mich unbeschadet meiner relativierenden Bemerkungen durchaus gelohnt.

Irrlicht

16. Mai 2015 15:41

@Meier Pirmin
Zu Ihrer Bemerkung zum "streng wissenschaftlichen Denken fernab von jeglicher Ideologie" und Heidegger: Hier passt der Kommentar von Peter Trawny in Tumult, bezugnehmend auf Panajotis Kondylis Verdikt über SZ als "Sammlung raffinierter und nebulöser Gemeinplätze":
"Man stelle sich vor, ich würde einen Aufsatz folgendermaßen beginnen: 'Einer der meist überschätzten Dichter des 19. Jahrhunderts ist Hölderlin', wer möchte da noch hören, wie der Satz weitergeht? Höchstens, dass einer an meiner Blamage sich erfreuen will. Schön wär's dann, wenn man es für ein Missverständnis halten würde." Dabei kann ich durchaus Carnap etwas abgewinnen, der sich in dem Aufsatz "Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache" u.a. kritisch mit Heideggersätzen auseinandersetzt.

Carl Sand

16. Mai 2015 17:07

@gerd friedrich

"(..) die Junge Freiheit ist nicht mehr so prodeutsch wie früher".

Ja, ganz toll nicht?

Es gehört offenbar zum Wesen des Spießbürgers, sich noch die größten Eseleien noch als ganz besondere Gewitztheit schönzulügen.

Ob die AfD noch zu retten ist, ist fraglich. Sie wird wohl den Weg der Republikaner gehen.

Befriedigend daran ist jedoch, dass der Dieter Stein auf das falsche Pferd gesetzt hat und die vielen hinterrücksen Angriffe auf ehemalige Weggefährten sich nicht auszahlen werden.

Der Dieter Stein hat in letzter Zeit einige private Investitionen getätigt - ärgerlich, dass sich der Verrat von früher unstreitigen Positionen und Kameraden nicht buchstäblich auszahlt - ebensowenig für ihn, wie für andere Sezession-Sezessionisten.

Die Welt wird zwar immer mehr die Hölle, aber gerecht ist sie auf eine perverse Art schon...

Meier Pirmin

16. Mai 2015 17:34

@Irrlicht. Unter wissenschaftlichem Denken verstehe ich nicht automatisch Carnap, weil ich keineswegs positivistisches Denken damit gleichsetze. Ich warne auch davor, die Errungenschaften von "Sein und Zeit" zu leugnen. Es gibt dort wesentliche Gedanken, hätte mutmasslich ohne dieselben meine Dissertation über monumentalische und kritische Historie u.a. bei Reinhold Schneider nicht schreiben können. Aber ohne Zweifel gehört Sein und Zeit zu den Werken, die man überschätzen kann. Letzteres gilt sogar für Hölderlin, wiewohl der Hyperion und einige seiner Hymnen und Epigrammatischen Oden unübertrefflich sind. Aber Schiller und Goethe hatten ihre Gründe, nicht nur Neid und Eifersucht, nun mal nicht alles an Hölderlin voll gelungen zu finden. Dante, Petrarcas, Camoes' und vor allem Shakespeates Sonette scheinen der Vollkommenheit näher zu kommen. Hölderlin lebt u.a. auch von guten Deutungen, etwa derjenigen von Heidegger betr. "Wenn am Feiertage". Ich glaube aber, dass Hölderlin in hundert Jahren noch weit wichtiger sein wird als Heidegger, zu schweigen von Paul Celan, dessen Gedichte für Adorno einer der Vorwände waren für sein queres Diktum, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben. Nur musiktheoretische Abhandlungen, könnte man in Gedanken an Adorno hinzufügen. Mit zu den überschätzten Denkern, die sogar miese stilistische Marotten hatten, wie ständiges "par excellence" gehört seiner Eigenschaft als Bergwerk von Gedanken wohl Friedrich Nietzsche, den man aber als Philologen, was er war, höher schätzen sollte. Lesen Sie mal Schopenhauer. Gegenüber dieser wissenschaftlichen Prosa hätten Heidegger und Adorno und noch viele andere "einpacken" können.

PS. Auf Dauer halte ich sowohl die philosophische wie auch die sprachliche Substanz von Jean Paul Friedrich Richter sogar noch höher als die von Hölderlin. Und selbst auch Goethes Farbenlehre hat mehr wissenschaftliche Substanz als manches Geraune Heideggers.

Meier Pirmin

16. Mai 2015 17:43

Es muss heissen: "Mit zu den mutmasslich überschätzten Denkern gehört, t r o t z seiner Eigenschaft als Bergwerk von Gedanken wohl Friedrich Nietzsche."
Über einige der von mir angedeuteten stilistischen Marotten hat sich u.a. der Stiltheoretiker und Germanist Eduard Engel vergleichsweise überzeugend ausgelassen. Hat man diese Kritik gelesen, neigt man dazu, im Gegensatz zu Schopenhauer, Nietzsche "tiefer zu hängen". Er ist und bleibt ein suggestives Phänomen, immerhin ein guter Ideologiekritiker, aber nicht im engsten Sinn ein wissenschaftlicher Philosoph wie Descartes, Spinoza oder in seinen besten Schriften Popper. Albert Schweitzer und Carl Spitteler haben als frühe Leser erfasst, dass man auf Nietzsche nicht hereinfallen sollte.

Irrlicht

16. Mai 2015 19:34

@Meier Pirmin
Da Sie beständig den Terminus "wissenschaftlich" in Bezug auf philosophische Abhandlungen im Munde führen, explizieren Sie ihn bitte (und bitte nicht in Bezug auf Popper). Heidegger läßt sich durchaus als systematischer Philosoph lesen. Ein Beispiel aus SZ istdie Auseinandersetzung mit dem klassichen korrepondenztheoretischen Wahrheitsbegriff, als adaequatio intellectus et rei, den er als abkünftig ausweist und, unter Bezugnahme auf die Vorsokratier, Wahrsein als Entdeckheit oder Unverborgenheit expliziert, als Seinweise des Daseins. Wir können gerne im begrenzten Rahmen des Kommentarbeichs über dieses Thema diskutieren (oder, da Sie offenbar Descartes mögen, die Kritik an der Auffassung des Begriffs der "Welt" als res extensa), aber angesichts dessen, dass sie vom "Geraune Heideggers" sprechen und Ihrer Kommentare hier über Gott und Welt, und jetzt noch über Heidegger, einigermaßen borniert herüberkommen, dürfte das kaum möglich sein.

Sonnenblume

16. Mai 2015 21:10

@Martin Sellner:

Auch Heideggers NS-Engagement ist als „philosophisch-revolutionärer Akt“ gegen eine alte bürgerlich-metaphysische Geisteswelt durchwegs richtig interpretiert. Dieser Beweggrund zeigt sich gerade in seiner Enttäuschung am bornierten Rassenbiologismus der Nazis.

Darf ich um Erläuterung bitten?

Ist das Ihre Einschätzung zur Auffassung der Nationalsozialisten über vermeintliche oder wahre biologische Gesetzmäßigkeiten? Oder geben Sie nur Heideggers vermeintliche Einschätzung wieder? Machen Sie sich diese zu eigen?

Ich frage, da "Biologismus" ein kulturmarxistischer Kampfbegriff ist (und ich gehe davon aus, daß Sie das wissen). Also, machen Sie sich diesen Ausdruck ("bornierter Rassenbiologismus der Nazis") zu eigen, und wenn ja, warum?

Meier Pirmin

16. Mai 2015 21:23

Es geht gerade nicht um "Gott und die Welt", sondern um die Deutung einzelner Probleme, wie es Spinoza mit der Algebraik des Regenbogens geschafft hat oder Michel Foucault mit "Ueberwachen und Strafen". Eine vergleichbare Leistung etwa wie mein Lehrer Hermann Lübbe, der in "Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse" (2. Auflage 2012) wohl für alle Zeiten die Vorstellung einer sogenannten Gesetzmässigkeit der Geschichte wiederlegt hat, dieser Wahn hat intellektuell keine Chance mehr, eine solche Leistung hat Heidegger nie erbracht. Das nenne ich eine wissenschaftliche Leistung in der Philosophie. Empfehle Ihnen in diesem Sinn auch noch das eine oder andere Werk des kürzlich verstorbenebn Odo Marquard.

Irrlicht

16. Mai 2015 22:53

@Meier Pirmin
Heidegger widmet sich in SZ nicht nur "einzelnen Problemen", sondern unterzieht grundlegenden Fragen der abendländischen Philosophie einer Analyse, und verfolgt nach der "Destruktion der Geschichte der Ontologie" mit der Fundamentalontologie einen grundsätzlichen, neuen Ansatz. Zwei der Fragen, Descartes Dualismus von res cogitans und res extensa und die Frage bezüglich der Explikation des Wahrheitsbegriff, habe ich Ihnen genannt, und da sie darauf nicht eingegangen sind, darf ich wohl auf eine mangelnde Diskursfähigkeit in diesen Fragen schließen. Ihr "Herkunftsverweis" - der Sozialpilosoph Hermann Lübbe - ist verräterisch und erklärt Ihre hochgradig ideologische ("dieser Wahn hat intellektuell keine Chance mehr") und letztlich antiintellektuelle Herangehensweise an phil. Fragestellungen.

Andreas Walter

16. Mai 2015 23:28

Heidegger? War das nicht der profess-orale Sugar-Daddy der vaterlosen Hannah Arendt? Der Mann, der mehrmals im Leben wegen Herzschmerzen auf- und ausfiel und zu schwach und zu kränklich war, um im Ersten Weltkrieg sein Vaterland zu verteidigen? Der seiner Ehefrau nur Kummer und Sorgen bereitet hat (oder war es doch sie ihm?), anderen Frauen dafür aber grosses Vergnügen? Der Mann, dessen Herz nie eine Heimat gefunden hat, auch bei keinem Weib? Wofür oder für wen soll der bitte noch mal Vorbild stehen?

Doch genau das ist er eben, der Widerspruch zwischen dem Sein und dem Schein, dem persönlichen Licht und dem tatsächlichen, dem eigenen Schatten, auch der zwischen meinem Anspruch und der wirklichen Wirklichkeit, einem imaginierten Ideal und der Welt als auch dem Mensch wie er tatsächlich ist, in seiner ganzen Unvollkommenheit. Egal ob als Christ oder Marxist, als neuer oder alter Rechter, ob als Muslim, Jude oder Philosoph, oder was auch immer.

Nächste Haltestelle: Ein erneuter Zusammenbruch des imaginären Kapitals und seiner schönen, neuen, heilen Welt der bunten Scheine und wildesten Versprechungen allerdings nur auf dem Papier und des schönen Scheins ewig junger und lieblicher Damen im Rampenlicht grenzenloser Vergötterung am liebsten aber ohne Bombendrohung, gefolgt von einer postmodernen und archaischen, ultrabrutalen und modernen, bestialischen Apokalypse, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. All die Sünder eben immer noch viel zu weit entfernt vom Boden, vom Staub, den sie demnächst schon wieder küssen und fressen werden. Kondratjew lässt grüssen, und dann wieder in die nächste Utopie von einer besseren Welt mit von besseren Menschen. Satan lacht.

Pommes

17. Mai 2015 02:52

Ja, es war eine sehr gute Idee von euch Sellner an Bord zu holen. Das ist genau die Art von Artikel wegen der ich eine rechtsintellektuelle Plattform besuche. Vielen Dank dafür.

lunaria

17. Mai 2015 09:20

Als bekennender Linker mit 20 Jahre praktischer Erfahrung in der Politik- und Medienanalyse möchte ich mich äußern zur Rolle der Technik bei Heidegger, Adorno und G. Anders und eine kurze Anmerkung machen.

Sellner schreibt: "Die „Illusion der Technikeuphorie“ die Schmidt kritisiert, ist in „Sowjetmacht + Elektrifizierung“ nicht nur „collateral damage“, sondern Essenz des marxistischen Projekts."

Tatsache ist:
Der Drang nach technisch-wissenschaftlichen Fortschritt und die Affirmation dieser Entwicklung betraf alle hochentwickelten Gesellschaftsformen und modernen Ideologien des angehenden 20. Jahrhunderts; technische Weiterentwicklung ist Wesensgehalt und Grundgesetz des Kapitalismus wie des Staats-Sozialismus. Auch der Faschismus hatte das Ziel, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die staatliche Verwaltung technisch zu optimieren.

2. Heideggers Position zur modernen Existenzweise des Menschen:

In der modernen technisch geprägten Welt herrscht Seinsvergessenheit. Gleichzeitig ist der Mensch grundsätzlich unfrei und abhängig. Die Geworfenheit und die Offenheit des Daseins ängstigt den Menschen. Der Mensch versucht sich daher die Umwelt, die Umgebung heimelig zu machen.
In der Moderne verschwindet der Mensch in der Allgemeinheit, im MAN, man tut was man eben so tut,… was die technischen und bürokratischen Abläufe eben verlangen.

3. In der „Dialektik der Aufklärung“ versuchen sich Adorno und Horkheimer an einer differenzierten Betrachtung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes. Sie zeigen, wie ambivalent und widersprüchlich dieser Vorgang ist. Den blinden Fortschrittsoptimismus des orthodoxen Marxismus lehnen sie ab. Aufklärung war wohl die ursprüngliche Intention des Menschen, sich aus der Herrschaft der Natur zu befreien, jedoch ist Entfremdung der Preis dafür, dass Menschen die Natur bändigen konnten. Durch den Odysseus-Mythos illustrieren Adorno und Horkheimer, dass nur der gefesselte, beherrschte Mensch die Natur beherrschen kann, nur als Gefesselter kann der Mensch den Verlockungen der Natur widerstehen.
Während das mythische Zeitalter die Natur beseelte, werden in der Moderne die Natur und die Seele verdinglicht. Wir sehen nur Physis und Chemie. Alles was über das rein Ökonomische, Technische hinausgeht, soll sich der Mensch an sich selbst abschneiden, wenn er die Souveränität über die Natur behalten will. Selbstentfremdung ist so der Preis für die Bändigung der Natur.

4. Was im Prozess der Rationalität im Kapitalismus des 20. Jahrhunderts zum Durchbruch kommt, ist nicht die Vernunft, ist nicht das Selbstbewusstsein des Menschen, sondern nur eine verkürzte Form des Denkens, nur die instrumentelle Vernunft, die alles dem Diktat des nutzenorientierten Kalküls unterwirft. Der Faschismus ist der äußerste Ausdruck, der extremste Ausdruck dieser Dialektik der Aufklärung. Es war und ist der Umschlag von gesellschaftlicher Rationalität in Irrationalität auf höchstem technischem und tiefstem menschlichem Niveau. Der reine Faschismus ist die totale Reduzierung des Menschen auf eine Sache, auf einen Fall, auf ein Mittel zum Zweck. Jederzeit verfügbar, ist der Mensch dann ein reines Objekt der Macht und der Gewalt.

5. Wirklich tiefsinnige Gedanken hat der Heidegger-Schüler Günther Anders zum Mensch in der technischen Zivilisation:

Die Spezifität des Menschen besteht darin, die Umwelt zu bearbeiten und zurecht zu machen, und zwar auf sich selbst bezogen. Der Mensch schuf künstliche Welten, Technik, Wissenschaft und Kunst.

Im 20. Jahrhundert gibt es neuartige Probleme im Wesen der Technik:
Die moderne Technik geht über die Verbesserung der menschlichen Organe hinaus, sie ist tendenziell vom Menschen unabhängig, technische Systeme sind heute sich selbst reproduzierbare Systeme in die der Mensch eingebettet ist: Das wird beschrieben bei Anders als Prometheisches Gefälle:
Technische Produkte können immer mehr als der Mensch selbst, sie übersteigen zunehmend seine physischen, emotionalen und kognitiven Fähigkeiten.

Daraus leitet er den zentralen Gedanken ab.

In der moderne Zeit sind wir invertierte Utopisten: Früher waren Menschen in der Lage sich Dinge vorzustellen die sie aber nicht bzw. noch nicht herstellen konnten. Heute können wir Dinge herstellen deren Konsequenzen, deren Auswirkungen wir uns nicht vorstellen und nicht emotional bewältigen können.
Diese Prinzipielle Differenz zwischen Vorstellen und Herstellen zeigt, dass die Technik nicht oder nur selten dem Menschen angepasst ist, sondern der Mensch sich der Technik anpassen muss.
Anders vermutete, dass dem Menschen von der Technik seine Unfähigkeit vorgeführt werde, angesichts der perfekten Geräte werde der Mensch immer zurückgeworfen auf seine körperliche psychische Eingeschränktheit und Unzulänglichkeit, dass er sich vor diesen Geräten schämen müsse, prometheische Scham, strukturiert das Mensch-Technik-Verhältnis.

Anthropologisch ist der Mensch ein höchst vorläufiges und unvollkommenes im Wortsinne veraltetes Wesen, um zwangsläufig nicht eine antiquierte Existenz führen zu müssen, versucht er sich operativ der Technik anzugleichen; die innere Tendenz der Technisierung der Welt läuft darauf hinaus , den Menschen zu ersetzen und als Menschen überflüssig zu machen.
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Diese Analysen werden heute generell ausgeblendet bei Rechten wie bei Linken.

Hermann Karst

17. Mai 2015 10:59

@ Meier Pirmin

Sie schreiben, Lübbe habe „wohl für alle Zeiten die Vorstellung einer sogenannten Gesetzmässigkeit der Geschichte wiederlegt […], dieser Wahn hat intellektuell keine Chance mehr.“

„Wahn“? Vorsicht.

Ich weise auf den Marburger Germanisten und Epochenforscher Walter Falk hin (gest. 2000), meines Erachtens zu Recht aufgenommen in „Vordenker“, den 3. Band des Staatspolitischen Handbuchs (Ed. Antaios), S. 55 ff. - zu Unrecht hingegen wenig bekannt. „Zu Unrecht“: Falk habilitierte sich 1968 in Marburg, der roten Hochburg, und wirkte dort bis zu seiner Emeritierung - neben der linkslastigen Modegermanistik, die ihn ignorierte …

Falk hat in den 60er Jahren die sog. Komponentenanalyse entwickelt und in der Folgezeit (mit seinen Studenten) sukzessive weiterentwickelt. Sie ist zunächst ein Verfahren zur Ermittlung von Textstrukturen bestimmten Charakters. Darüber hinaus ließen und lassen sich, von einzelnen Texten ausgehend, Epochenstrukturen ermitteln, die sich nicht nur scharf gegeneinander abgrenzen, sondern auch Gesetzmäßigkeiten erkennen lassen; erkennbar ist z.B. Progreß. In einem weiteren Schritt geht Falk über die Literatur hinaus: Epochen gehören zur Gesamtgeschichte, nicht nur, etwa in völliger Unabhängigkeit, zu einzelnen Bereichen wie Literatur-, Musik- oder Architekturgeschichte - eine Binsenweisheit, natürlich. Obwohl Falk historische Gesetzmäßigkeiten herausarbeitet, weist er historische Gesetzmäßigkeiten etwa im Sinne von Hegel oder Marx zurück. Wie das? Falk unterscheidet zwischen einer strukturellen „Potentialgeschichte“ und einer manifesten „Aktualgeschichte“. Die Gesetzmäßigkeiten, nicht konstruiert, sondern empirisch nachgewiesen und nachweisbar, gehören zur Potentialgeschichte, auf die die Aktualgeschichte zwar zu beziehen ist, doch ohne daß im entferntesten so etwas wie Deckungsgleichheit herrschte. (Folgt man dem, so ergeben sich aufregende Fragen: Wenn Falk recht hat – was steckt hinter der Potentialgeschichte? Wie ist sie zu verstehen?)

Dies als knapper Hinweis auf eine andere Sicht von Geschichte und (eventuellem) Geschichtsablauf. Für die, die sich für diese Sicht und die dieser Sichtweise zugrunde liegenden Forschungen interessieren könnten (schön wäre das!), sei auf den Artikel im Handbuch verwiesen; dort sind die wichtigsten Werke Walter Falks aufgeführt. Sein letztes Buch übrigens, gewissermaßen eine Summa seines Forschen und Denkens, erschien 2003 posthum, herausgegeben von Harald Seubert.

Meier Pirmin

17. Mai 2015 11:18

@lunaria. Ich gratuliere Ihnen zu diesem Diskussionsbeitrag, der, weil frei von Feindbildern, echt philosophisch anmutet. Ich neige wie Sie dazu, die Leistung von Günter Anders, unabhängig ob man die politische Welt eher "links" oder "rechts" betrachtet, im Vergleich zu Adorno und Heidegger als phänomenologisch am stärksten und zeitkritisch am überzeugendsten einzuschätzen. In der Analyse der Differenz zwischen Herstellen und Vorstellen hat Anders eine der bedeutendsten und verhängnisvollsten, auch folgenreichsten Denkfehler unserer Zeit wohl richtungsweisend erfasst. Dass Sie sich an diesem Diskussionsforum beteiligen, spricht meines Erachtens auch für Vorurteilsfreiheit und Mut zur Debatte jenseits einer blossen Koppel von Gleichgesinnten.

@Irrlicht. Sie sind selber schuld, wenn Sie die Kritik Poppers und Lübbes am Historizismus, eine der bedeutendsten philosophischen Leistungen der letzten 500 Jahre, nicht zur Kenntnis nehmen wollen und ausgerechnet Lübbe, den von links oftmals Ausgegrenzten, als Ideologen sehen wollen. Bedeutende wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie bestehen hauptsächlich aus Falsifikationen. Seit Popper und Lübbe wissen wir, dass eine Gesetzmässigkeit der Geschichte als ein hölzernes Eisen und dass eher gelten würde, dass 1+1=3 ist. Das ist immerhin eine Leistung. Ontologie, auch Fundamentalontologie, das sage ich Ihnen nach 33 Jahren Lehrtätigkeit als Philosoph und Logiker, bleibt im Moment ein Nebenschauplatz im aktuellen Verlauf der Philosophiegeschichte. Selbst auch Sartres bedeutendstes Werk diesbezüglich, "Das Sein und das Nichts", gehört zu den gegenwärtig fast bedeutungslosen Errungenschaften der Philosophie, wiewohl ich nich wie Carnap sagen würde, dass es sich um reine Scheinproblem handelt. Sie können auch Lübbes Standardwerk nicht lesen und in Ruhe dumm bleiben. U.a. sind damit auch der historische Materialismus von Marx/Engels und das Dummbuch "Ende der Geschichte" von Fukuyama und natürlich Oswald Spengler endgültig erledigt, weil nachweisbar auf kontrollierbaren Denkfehlern beruhend.

Irrlicht

17. Mai 2015 12:18

@Meier Pirmin
Falsifikation als Erkenntnisprinzip funktioniert selbst in den Naturwissenschaften nicht, wie sich anhand des Problems der theoretischen Begriffe unter Inanspruchnahme des strukturalistischen Theorienkonzepts belegen läßt, und erst recht nicht in der Philosophie. Poppers Historizismuskritik reduziert sich dann im wesentlichen auf Polemik. Carnaps Einschätzung der Philosophiegeschichte als Anreihung von Scheinproblemen, die auf einer verifikationistischen Semantik beruhte, die er später selbst verwarf, ist auch zu weitgehend. Und nur zur Klarstellung: Den sog. "Positivismusstreit", der auf gesellschaftstheoretischer Ebene eine Auseinandersetzung zwischen Liberalismus (Popper) und Marxismus (Frankfurter Schule) darstellte, halte ich für einen auf beiden Seiten bizarr geführten Disput mit wenig Substanz.

Meier Pirmin

17. Mai 2015 14:05

@Irrlicht. Ihr Hinweis auf Falk ist interessant, betrifft aber nicht die geschichtliche Welt, sondern das Erzählen von Geschichte: "Narrare necesse est" (Odo Marquard). Ich bemerke, dass Sie beim Referieren von philosophischen Gegebenheiten, durch welche Sie offenbar mitgeprägt wurden, viel ernsthafter zu argumentieren scheinen als wenn Sie etwa über Lübbe und wohl noch andere rein politische Lagerurteile abgeben. Entschuldige mich sonst noch für diverse Verschreiber ("nich" und "wiedersprechen" usw.) bei diesen mehr mündlich hingeworfenen Antworten und Beiträgen. Dabei handelt es sich jedoch bei Vorstellungen wie "Gesetzmässigkeit der Geschichte" oder "Wir sind die Sieger der Geschichte" tatsächlich um Wahnvorstellungen, das hat mit Philosophie wirklich gar nichts mehr zu tun, bloss mit der Unfähigkeit, die Analytik und Pragmatik des Komplexes "Was heisst, das kann man nur historisch erklären?" zu verstehen. Falk scheint ein interessanter und weiterführender Denker zu sein oder gewesen zu sein.

Meier Pirmin

17. Mai 2015 14:13

@Falsizfizieren muss nicht zur Ideologie gerinnen. Es genügt, dass im Verlauf der Theoriegeschichte gewisse Theorien durch gute Argumentation endgültig erledigt werden, so das Ptolemäische Weltbild (das rein semiotisch noch eine gewisse Substanz hat), die Viersäftelehre der Medizin (anthropologisch noch recht unterhaltsam) wie nun halt auch die Vorstellungen einer sogenannten Gesetzmässigkeit der Geschichte. Zu letzterem das wichtigste Buch ist und bleibt vorläufig "Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse" von Lübbe, bei dessen Entstehung in den siebziger Jahren ich im Philosophischen Seminar der Universität Zürich dabei war. Die Erstauflage erschien 1977, die zweite 2012 im Schwabe Verlag.

Andreas Walter

17. Mai 2015 14:54

Oh doch, Herr Pirmin. Es gibt Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Das jeder Mensch wenn er auf die Welt kommt zum Beispiel noch leer im Kopf, ein unbeschriebenes Blatt ist und der Tag trotzdem für jeden ab diesem Augenblick nur 24 Stunden hat. Philosophie ist darum erstmal nichts weiter als eine extreme Spezialisierung und sobald man diese überbewertet ist man schon bereits wieder auf dem Holzweg. Es ist eben ein Illusion, dass Denken einem dem näher bringt, was mit Logik nicht zu erfassen ist. Das machen ja eben so viele Suchende falsch. Heidegger wurde zum Beispiel unter vorgehaltener Hand als "Der Zauberer" bezeichnet. Jeder der jedoch Robert Anton Wilsons Buch "Der neue Prometheus" gelesen und es auch "durchgearbeitet", verstanden hat weiß warum er so genannt wurde, und schmunzelt deshalb darüber. Nichts jedoch verletzt den Denker mehr als eben genau die Kritik daran. An seiner Kopflastigkeit. Auch denen ist darum ein Kapitel in Wilsons Buch gewidmet. Das unterscheidet ja gerade einen Buddha von einem Philosophen. Es ist jedoch einzig und allein die Natur der dunklen Seite, die vielen Menschen dabei zu schaffen macht, und die sie darum nicht verstehen, in sich selbst nicht sehen, anerkennen, erkennen können und sie sich darum selbst im Weg stehen. Das sogenannte "Böse" kommt sogar um so mehr zu einem, sucht einen förmlich auf, wenn man ihm aus dem Weg zu gehen versucht. Es ist daher auch kein "Zufall" das ausgerechnet Deutschland jetzt wieder ein Problem mit "Fremden" bekommt, dazu braucht es nicht einmal einer Verschwörung. Das hat mit psychischer Energie und ihren Folgen zu tun, die sowohl am Individuum wie auch im Kollektiv wirken. Es ist eben nicht gut, nur gut oder die Besten, der Beste, ein ach so Guter sein zu wollen.

https://www.youtube.com/watch?v=vZR3YhPrxvo

Hermann Karst

17. Mai 2015 15:37

@ Meier Pirmin

Ich irrlichtere zwar gelegentlich herum, aber ich bin nicht "Irrlicht"!

Zwei Präzisierungen zu Walter Falk:

1) Ganz ohne Zweifel war er ein "weiterführender Denker". Die Komponentenanalyse wurde jedoch nicht am Schreibtisch "erdacht", sondern entstand aus der Textarbeit heraus; sie wurde in praktischer Arbeit immer weiter entwickelt und verfeinert, z. B. in Marburger Forschungsseminaren (das so entstandene "Handbuch der Komponentenanalyse" hat um die 300 Seiten). An die praktische Arbeit erst schloß sich das "weiterführende Denken" an. Und das hat es in sich.

2) Mißverständnis. Ich schrieb zwar, daß mit der Komponentenanalyse literarisch Texte auf ihre Struktur hin untersucht würden. Ich schrieb allerdings nicht, daß es um die Struktur bloß epischer Texte ginge, wie Sie es offenbar aufgefaßt haben ("Narrare necesse ist"), also um die Eruierung von Handlungsstrukturen. Handlungslose lyrische Texte sind der Analyse in gleichem Maße zugänglich. Der Strukturbegriff, um den es geht, müßte natürlich erläutert werden. Hier sei nur so viel gesagt (um weiteren Mißverständnissen vorzubeugen), daß es nicht um Strukturen im Sinne des Strukturalismus geht.

Der Zeitgeist ist an Falk vorbeigerauscht. Wo er ihn aber erfaßte (in den Jahren um und nach 68 sogar mit großer Heftigkeit), da hat er übel an ihm gezaust. Was ich mir wünsche: Daß Falks Standfestigkeit, die er in manchmal fast aussichtsloser Lage immer wieder bewies, insofern belohnt würde, als daß sein Lebenswerk, seine methodischen Neuerungen in der Literaturwissenschaft und sein darauf aufbauendes Gedankengebäude endlich zur Kenntnis genommen würden. Und mehr noch: Es sollte Früchte tragen.

Irrlicht

17. Mai 2015 19:25

@Meier Pirmin
Jetzt müssen Sie nur noch den Terminus "gute Argumentation" definieren, wenn das Rationalistätskonzept der Falsifikation untauglich ist. Die Frage, unter welchen Bedingungen Theorien aufgegeben und ersetzt werden, oder bei denen gegenbenenfalls nur der Geltungsbereich eingeschränkt wird, ist im Anschluss an Feyerabend und Kuhn nicht leicht zu beantworten. Erwähnt werden sollte, dass derzeit keine physikalische Theorie einen uneingeschränkten Geltungsbereich hat.

Meier Pirmin

17. Mai 2015 19:26

Was Sie über Falk ausführen, ist auch insofern weiterführend, als diese Strukturanalyse eben nicht nur für das Verständnis (fiktiver) epischer Geschichten etwas beitragen kann, sondern ev. über das Verständnis von Geschichten überhaupt, wobei auch das, was wir "Geschichte" nennen, zuletzt aus strukturierten "Geschichten" besteht, so wie der Historiker Johannes von Müller aus Schaffhausen die "Geschich t e n der Schweiz und der Schweizer" schrieb, nicht verkürzt und generalisiert einfach deren Geschichte. Bei der Gesamtdiskussion, wie sie hier verläuft, scheint mir unter den über Heidegger hinausweisenden Denkern Günter Anders am meisten zu bringen. Es fällt auf, dass die Studien eines der aktuellen Philosophen betr. die Technik und Digitalwelt, Eduard Kaeser, regelmässig bei Günter Anders ansetzen. Desgleichen richtet sich der wohl modernste deutsche Fundamentalontologe, notabene Nihilist im Sinne von Nietzsche, Verfasser des Standardwerks "Nichts" (ca. 800 Seiten), Ludger Lütkehaus, stärker nach Anders als dass Heidegger in sein Denken hineinraunen würde. Dabei bleibt Heidegger natürlich bedeutsam, kann durch keine Nazikeule aus der Geistesgeschichte rausbugsiert werden. Regelmässig, nicht unkritisch, setzt sich der ebenfalls aus der Region Messkirch stammende von mir aus grosse Schriftsteller Arnold Stadler, Bodenseeliteraturpreisträger 1914, mit Heidegger auseinander. Stadler hat, ohne zur deutschen Rechten zu gehören, noch nie eine Zeile geschrieben, der man Linksdrall oder Zeitgeisthörigkeit nachsagen könnte. "Heimat wird immer weniger", formulierte er bei der Entgegennahme des Bodenseeliteraturpreises. Heideggers vor bald 70 Jahren bei Messkirch beschriebener "Feldweg" wurde unterdessen teilweise zuasphaltiert sowie über eine längere Strecke links und rechts überbaut. Sogar eine Schule steht an diesem Feldweg, mit der Warntafel: "Betreten des Schulgeländes auf eigene Gefahr." Gilt wohl auch für Teilnehmende an dieser Blog-Diskussion.

Meier Pirmin

17. Mai 2015 19:29

Arnold Stadler war natürlich Bodenseeliteraturpreis 2014, nicht 1914. Unter seinen Preisvorgängern war Leopold Ziegler, zuvor Goethepreisträger 1929, einer der bedeutendsten, der Verfasser von "Gestaltwandel der Götter" und "Überlieferung".

Harald de Azania

17. Mai 2015 20:12

@ Kommentatoren

Das Haus brennt, die Flammen schlagen hoch hinaus, Pluenderer umschleichen den Hof, die Polizei und Feuerwehr kommen nicht ( oder sind im antirassistischen Sensibilisierungskurs und haben keine Geraete auf Grund Budgetkuerzugen zu Gunsten Asylschmarotzer e tutti quantti ...)

..... und hier wird ( der brilliante Artikel von MS) zer-diskutiert und wie das patriotische Diskussionswaesserchen parfuemiert zu sein hat ....Bla Bla Bla ... wah wah wah ...

Genierts Euch !

HdeA

Meier Pirmin

17. Mai 2015 21:01

@Karst. Wenn Sie wissen wollen, was "gute Argumentation" ist, lesen Sie mal, auch im Zusammenhang mit der Falsifikation, die frühen Dialoge "Laches" und "Eutyphron" von Platon. Habe ich mehr als dreissig Jahre lang mit Schülern gemacht, musse mich nie reuen. Hier wird das Verfahren der Ausscheidung des Falschen ohne moderne Rabulistik im alltäglichen Dialog auf hohem Niveau vorgeführt. Gute Argumentation läuft auf den sokratischen "Logos" hinaus, den Satz, der sich im Dialog nach der Prüfung möglichst aller Gesichtspunkte als der beste erweist. Diesem Satz ist, auch im Sinn einer intellektuellen Ethik, "Gehorsam" zu leisten. Der Mensch ist das Tier, das sich allenfalls nach dem besseren Satz zu orientieren vermag. Dabei fragen Sokrates und Platon nie, ob der Satz von einem Nazi oder einem Kommunisten stammt, war damals auch nicht möglich. Die Sätze, welche in den platonischen Dialogen ad absurdum geführt werden, gehören in der Regel dem athenisch-sophistischen Mainstream-Diskurs an. Noch ein guter Satz: Dem Sokrates zu widersprechen ist leicht, aber dem Logos, dem Satz, der sich nach der Prüfung als der beste erweist, dem kannst Du wohl nicht ohne weiteres widersprechen!

Meier Pirmin

17. Mai 2015 21:07

Korr. Die Lektüre von "Laches" und "Eutyphron" mit Schülern musste mich nie reuen. Im Eutyphron geht es um unseren Umgang mit den Toten, wohl auch denjenigen, die am 8. Mai aus Gründen politischer Korrektheit nicht genannt wurden. Dabei wird der Begriff der Pietät entwickelt. Betr. die platonischen Dialoge bedauerte Erasmus von Rotterdam, dass der Heilige Geist im Neuen Testament in Sachen griechischen Stil dieses Niveau leider nie erreicht habe. "Laches" und "Eutyphron" kommen mir auch überzeugender vor als Adorno und Heidegger.

Gerhard Vierfuß

17. Mai 2015 22:52

Zunächst einmal - ich habe Ihren Einstand in diesem Blog zu spät zur Kenntnis genommen, um ihn dort noch sinnvollerweise kommentieren zu können - möchte auch ich Sie, Herr Sellner, ganz herzlich willkommen heißen! Es ist mir eine große Freude, auf diesem Forum von jetzt an die Stimme eines intelligenten, eigenständig denkenden, philosophisch gebildeten Vertreters der identitären Generation zu hören - und vor allem: die Stimme eines Verfechters des Heideggerschen Denkens, und eines solchen, der nicht, wie G. Figal et al., aus Furcht vor der öffentlichen Meinung in die Knie geht. Chapeau!

Zu Ihrem Text: Ich bin ein Anhänger der Querfront, und deswegen freut es mich, daß Sie einen Artikel in der Jungle World zum Gegenstand einer ernsthaften Auseinandersetzung gemacht haben. Ich folge Ihnen auch, soweit Sie in jenem Artikel positive Ansätze einer ideologiefreien Heideggerlektüre sehen. Aber ich gehe dabei noch weiter als Sie: Ich vermag keine unzulässige Vereinnahmung dieses Denkers für eine marxistisch inspirierte Befreiungsideologie zu erkennen. Der Autor Christian Schmidt spricht zwar von der "befreite(n) Gesellschaft", aber es ist keineswegs zwingend, diesen Begriff so auszulegen, wie Sie es tun, nämlich im Sinn einer Befreiung aus allen kulturellen und natürlichen Bindungen, Gender Mainstreaming inbegriffen. Im Gegenteil: Schmidt macht sehr klar, daß er die Technikkritik Heideggers verstanden hat und weiß, daß die rationalistische Manipulation der Natur und des Menschen die Probleme nicht löst, sondern vergrößert. Ich interpretiere daher seinen Begriff von der befreiten Gesellschaft als eine vom Gestell der Technik befreite Gesellschaft. Das ist zwar als durch rationales menschliches Handeln zu erstrebendes Ziel immer noch weit entfernt vom Denken Heideggers. Aber ich meine, darüber sollte der philosophische Diskurs geführt werden, auch unter Heideggerianern, gleich ob rechten oder linken!

Irrlicht

18. Mai 2015 10:52

@Meier Pirmin
Wennn Sie, wie an anderer Stelle behauptetet, Logik gelehrt hätten , wüßten Sie, dass Sie mit Ihrem Verweis auf die platonischen Dialoge keine Definition des Begriffs der "gute Argumentation" angeben, abgesehen davon, dass die Mäeutik eine bloß didaktische Vorgehensweise darstellt. Geschwätz ist kein Ersatz für Diskursfähigkeit.
@Harald de Azania
Berücksichtigen Sie bitte bei zukünfitigen Diskussionsbeiträgen Wittgenstein, Trac. 7: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
EOD

Hermann Karst

18. Mai 2015 11:01

@ Meier Pirmin

Zu Ihrem Kommentar gestern, 21. 01 Uhr: ICH wollte keineswegs von Ihnen wissen, was "gute Argumentation" ist, das war Irrlicht. Um 14.05 Uhr wiederum, da war's umgekehrt. Sie nahmen Bezug auf Irrlicht, meinten aber mich.

Als ich noch ein kleiner temperamentvoller Knabe war, nannte mich meine Mutter manchmal einen Irrwisch. Nie aber Irrlicht. Glauben Sie's mir: Ich bin nicht Irrlicht! Das muß jemand anders sein.

Nun aber zurück zu dem gehaltvollen Aufsatz von Sellner... Gespannt sehe ich weiteren Kommentaren entgegen.

Apropos: Mir steht zwar nicht zu, Herr Sellner, Sie hier zu willkommen zu heißen, aber ich freue mich wie viele Mitkommentatoren, daß Sie an Bord sind!

Meier Pirmin

18. Mai 2015 11:49

@Danke, Herr Anonymling, für die Belehrungen, möchte mich aber noch bei Herrn Karst für die Verwechslung entschuldigen. Die meisten Diskurse, die Resultate zeitigen, sind einfach und beruhen darauf, dass man zuerst sicherstellt, dass 1+1=2 sind, was nur unter ganz speziellen Bedingungen nicht stimmt. So diskutierte Sokrates, zu meinen Lebzeiten auch noch Popper. William S. Schlamm wurde einmal gefragt, was sein Programm sei. Die Antwort war denkbar einfach: "Das Einmaleins, die Zehn Gebote und Mozart". Wahr ist, dass ich zum Beispiel das Buch "Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse" von Lübbe als Beispiel einer gelungenen Falsifikation, aufgrund derer der historische Materialismus ein für allemal erledigt ist, mehrfach gelesen habe, sogar zeitweilig bei seiner Entstehung dabei war, etwa bei Lübbes Antrittsvorlesung "Was heisst, das kann man nur historisch erklären?". Eine vergleichbar klare Leistung haben weder Heidegger noch Habermas noch Adorno vorzuweisen. Platon habe ich teilweise auf Griechisch gelesen. Über Dinge, worüber ich ein bisschen was aus der Originalquelle mitbekommen habe, schweige ich nicht. Ich bin im Ernst der Meinung, dass die Dialogtechnik bei "Laches" für die Führung eines philosophischen Dialogs, der bis hinüber zum Normalleser transportiert, genügt. Auch Kant argumentierte in manchen Diskursen in ausreichender argumentativer Schärfe. Ab Schelling, Fichte und Hegel, zu schweigen von Marx/Engels, ging es mit dem Argumentationsniveau eher schon wieder etwas bergab, zu schweigen von Nietzches Suggestivurteilen. Aus Mangel an überragenden Lehrern hätte ich heute jedoch Mühe, an irgendeiner deutschsprachigen Universität ein Philosophiestudium anzufangen.

Den guten Wünschen an Herrn Sellner habe ich mich angeschlossen. Dass er vom derzeit verfemten und darum interessant bleibenden Heidegger so viel Substanz wie möglich herausholen will, scheint mir verdienstvoll. Hingegen missfällt mir die Ausdrucksweise betr. "der Aufgabe unseres Lagers". So hätte sich vielleicht Carl Schmitt geäussert, nicht aber der Heidegger ab 1934. Über Erasmus von Rotterdam, der alle derzeit lebenden deutschen Philosophieprofessoren noch immer überstrahlt, nicht bloss als Stilist, auch an humanem und ethischem Gehalt, sagte man: ERASMUS HOMO NULLIUS FACTIONIS EST. ERASMUS EST HOMO PRO SE. Dieser Satz hätte vermutlich auch zum späten Ernst Jünger, zu Günter Anders, zu Elias Canetti und Eduard Kaeser gepasst. Ganz gewiss eher als zu Armin Mohler, der immer ein "Lagerphilosoph" blieb, sofern das nicht ein Widerspruch in sich bleibt.

Langer

18. Mai 2015 19:31

Der Kapitalismus ist der äußerste Ausdruck, der extremste Ausdruck dieser Dialektik der Aufklärung. Es war und ist der Umschlag von gesellschaftlicher Rationalität in Irrationalität auf höchstem technischem und tiefstem menschlichem Niveau. Der reine Kapitalismus ist die totale Reduzierung des Menschen auf eine Sache, auf einen Fall, auf ein Mittel zum Zweck. Jederzeit verfügbar, ist der Mensch dann ein reines Objekt der Macht und der Gewalt.

Hugo

19. Mai 2015 09:01

Zunächst meine Hochachtung an Herrn Sellner und meinen Respekt an die anderen Diskutanten, welche auf diesem intelektuellen Niveau mitzuhalten vermögen.

Ich will allerdings nicht verhehlen, daß mich bei der Lektüre ein mehr als nur leichtes Unwohlsein beschleicht. Mögen Philosophen die Welt noch so anspruchsvoll interpretieren, verändert wird sie gerade von mutmaßlich gänzlich ungebildeten (mit Ausnahme der Koran-Kenntnisse) Männern und Frauen, die eine Geburtenrate >> 1,3 verwirklichen.

Irgendwann kommt mal ein kleiner braunhäutiger Junge mit einem Besen und fegt all die nicht im Hocharabischen verfaßten Schriften zusammen, wie welkes Laub im Herbst, da alle längst verstorben sind, die sich an Wittgenstein und Heidegger hätten erfreuen können. Wozu ich erklärtermaßen nicht gehöre.

Meier Pirmin

19. Mai 2015 12:42

@Andreas Walter. Dass jeder Mensch "leer im Kopf", gleichsam als ein weisses Blatt Papier, wie Hobbes die Seele genannt hat, auf die Welt kommt und dass der Tag 24 Stunden hat, hat nichts mit der Fragestellung der Gesetzmässigkeit der Geschichte zu tun, welche eine Ereignisfolgegesetzmässigkeit wäre, die dann zum Beispiel entweder "zum gesetzmässigen Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus" führen würde oder, wie bei Spengler, zum "Untergang des Abendlandes" oder zur historischen Vormacht von geographisch-politischen Strutkuren wie Amerika und Russland (diese bestimmen nach Spengler die Gesetzmässigkeit der Geschichte). Selbst auch der Weltmeistertitel Deutschlands 2014 in Brasilien lässt sich in keiner Weise auf eine Gesetzmässigkeit der Geschichte zurückführen, weil, wäre nur schon Neymar nicht verletzt worden im Halbfinal, vielleicht alles anders herausgekommen wäre. So wie noch nie eine Mannschaft, selbst die beste nicht, wegen der Gesetzmässigkeit der Geschicht eine Turnier gewonnen hat, so war auch die Krise der Demokratie etwa in den zwanziger und dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts ihrerseits nicht Ausdruck irgendeiner Gesetzmässigkeit der Geschichte. Und dass zu bestimmten historischen Phasen der Geschichte Diktatoren verhältnismässig leicht an die Macht kommen, ist ebenfalls nicht einer Gesetzmässigkeit der Geschichte geschuldet. Nicht mal das Nichtfunktonieren des Sozialismus erfolgt aufgrund einer Gesetzmässigkeit der Geschichte, sondern, wenn schon, aus anderen Gründen. Um auf den Fussball zurückzukommen: ein Beispiel, das ich in Konstanz mal mit dem Spitzenschiedsrichter Dr. Merck erörterte: Jede einzelne Ballberührung usw. auf dem Spielfeld hat physikalisch usw. ihren nach Leibniz zureichenden Grund, erfolgt also im Sinne von Kant und Newton absolut gesetzmässig, aber es gibt kein Gesetz, aufgrund dessen das Resultat zustande kommt. Man kann beispielsweise das Resultat des Spiels Deutschland - Ungarn in Bern 1954 nicht aufgrund einer Gesetzmässigketi als zwingend und von Anfang an unvermeidlich analysieren, sondern es bleibt einem nichts anderes übrig, als die Geschichte jenes denkwürdigen Spiels als Prozess der Systemindividualisierung und als Folge von Handlungsinterferenzen nachzuerzählen. Das Spannende war, dass man überhaupt nicht wissen konnte, dass Rahn in der 87. Minute die Entscheidung schafft. Wäre das Tor auch nur wenige Minuten zuvor gefallen, die Chance des Ausgleichs durch den Favoriten wäre weit höher gewesen. Es entsprach keineswegs der Gesetzmässigkeit der Geschichte (z.B. gibt es keine Gesetzmässigkeit, welche den Sieg Bayern-Münchens gegen eine unterklassige Mannschaft erzwingt, selbst dieser Sieg muss mit einem Ungewissheitsfaktor erarbeitet werden und es kann vorkommen, dass aller anders herauskommt als es nahe gelegen hätte), dass Deutschland 1954 oder auch 1972 und 1990 Weltmeister wurde. Auch dass unser Grossvater ausgerechnet unsere Grossmutter geheiratet hat und nicht eine andere, folgt, trotz aller Gründe für Heiraten von Geschlechtstrieb, Wunsch nach Nachkommenschaft, soziale Verhältnisse , Tradition, Zwang usw. letztlich aus keiner einheitlichen und voll kontrollierbaren voraussehbaren "Gesetzmässigkeit der Geschichte". Darum sind auch historische Prognosen, wie Marx und Spengler sie gewagt haben, absurd, genau so wie die dümmliche unreflektierte These von Fukuyama vom "Ende der Geschichte". Bei letzterem fehlte anfängerhaftes Grundwissen über die Pragmatik und Analytik der Geschichte, wie eben im Buch "Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse" von Hermann Lübbe dargetan.

Meier Pirmin

19. Mai 2015 13:55

Ein Gesetz des Handlungsablaufs der Geschichte, welches zwar nicht existiert, müsste

a) kontrollierbar sein, es gibt aber jeweils den "Kontrollfall" unter genau gleichen Bedingungen nicht

b) einfach sein, auf eine stringente Formel reduzierbar. Sobald man etwas lange und ausführlich erzählt, etwa wie Hitlers Russlandfeldzug zum Scheitern kam, welche Interferenzen da hineinspielten, geht es gerade nicht um einen gesetzmässigen Vorgang.

c) Historische Erklärungen bestehen sogar wesentlich, selbst wenn mal alles so herausgekommen ist wie geplant, aus der Schilderung, wie das Ziel immer wieder trotz Hindernissen und Abweichungen von der Norm erreicht wurde. Eine Slalomweltmeisterin, Favoritin, die sich in letzter Hundertstelssekunde vor dem Einfädeln bei der Stange gerettet hat, hat am Ziel was zu erzählen. Selbst die haushohe Favoritin wird nicht "gesetzmässig" Siegerin. Es wird aber auch nicht behauptet, sie verdanke ihren Sieg dem reinen Zufall. So verlaufen "Geschichten" im Sport, in Kriegen, in der Politik, im privaten Leben. Erst recht gibt es keine Ereignisfolgegesetz der Gesamthistorie oder der Historie Deutschlands oder der Historie des Kapitalismus. Die einzelnen Themen der Geschichte werden "Referenzsubjekt" genannt. Diese beruhen auf begrifflichen Abmachungen.

gerdb

19. Mai 2015 22:25

@Meier Pirmin

Man sollte doch darauf hinweisen dürfen ,dass das nicht Erkennen von Gesetzmässiglkeiten nicht zwangsläufig ihr Nichtvorhandensein bedeutet.
Die Philosophie als "Mathematik für Arme" ist möglicherweise ein schlechter Ratgeber.
Die Hoffnung richtet sich daher auf eine Art probabilistische Numerik, d.h. der Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie mit der man elementare Rechenregeln mit einer Art "Bewusstsein" ausstatten kann.
Mit Hilfe dieser Art empirischer Inferenz lassen sich auch ohne exakte Algorithmen Gesetzmässigkeiten erkennen, z.B. bei der Klimavorhersage
und warum nicht auch bei komplexeren soziologischen, gesellschaftlichen Zusammenhängen.
Prinzipien des Maschinenlernens werden deshalb bereits bei der Verbrechensbekämpfung eingesetzt ,wobei dei Polizei schon vor der Tat am Tatort sein kann.

Meier Pirmin

19. Mai 2015 23:43

@Danke, Gerdb. Das Klima ist aber eine ganz andere Gegebenheit als die "Geschichte", deren Referenzsubjekte wir sprachlich ernennen, die es aber als "Ganze" gar nicht gibt. Schon allein die Bewertung "gesetzmässiger Fortschritt" hat gar nichts zu tun mit dem, was auf der Welt passiert. Es ist eine reine Wertung in unserem Kopf drin. Natürlich gibt es aber auch bei Theorien betr. die Klimaerwärmung methodische Probleme. Ein exzellenter Klimakenner, der nichtsdestotrotz nicht methodisch über Sinn und Unsinn der Zukunftsforschung sich schlau gemacht hat, kann schon rein aus methodischen Gründen keine genügend reflektierten Voraussagen machen. Prognosen sind dann besonders problematisch, wenn sie die Zukunft betreffen. Noch relativ sicher ist die Prognose während einem Flugzeugabsturz.

gerdb

20. Mai 2015 10:41

qMeier Pirmin

Nun bin ich auch gar kein Anhänger irgendeines vermeintlich gesetzlichen Fortschritts. Eher lässt sich eine gesetzliche Entropie in Vielem erkennen.
Trotzden deutet einiges darauf hin, dass auch die Referenzsubjekte und Wertungen in unserem Kopf, und das sich daraus ableitende Verhalten, nach z.B. in der Klimaforschung (chaotische Systeme etc.) gültigen Regeln ableitbar ist und scih dementsprechend Gesetzmässigkeiten zu erkennen geben. Schliesslich lässt sich Geschichte als ein Produkt menschlichen Verhaltens verstehen.
In der Hirnforschung ist dann sogar der "freie Wille" verhandelbar.

Johannes Konstantin Poensgen

20. Mai 2015 15:28

Ad Meier Primin

Ich fürchte sie bringen erstens hier Beobachtungsebenen durcheinander und bekämpfen zweitens einen Popanz.
Es ist aber nicht ohne weiteres zulässig größere Zusammenhänge mit Verweis auf das Gewusel des Klein-Klein von der Hand zu weisen.
Wenn das ginge, müssten sie auch die Gültigkeit der Newtonschen/Einsteinschen Physik aufgeben, weil sie auf subatomarer Ebene nicht gilt.

Welche Analyseebenen für eine bestimmte Fragestellung berücksichtigt werden müssen, darüber kann im Einzelfall endlos gestritten werden.
Da wir jedes Problem unter Berücksichtigung der für es spezifischen Analyseebenen behandeln, gibt es in der Tat keine Theorie von allem und jedem. Es gibt letztlich nur Theorien kleiner und mittlerer Reichweite.

Eine solche Theorie mittlerer Reichweite ist selbst die von Marx. Lassen wir den eschatologischen Aplomb weg, bleibt die Behauptung, dass:

1. Überall wo sich moderne Produktionsmethoden verbreiten entstehen gesellschaftliche verhältnisse der Art, wie Marx sie "Bourgeois" genannt hat.

2. Die modernen Produktionsmethoden werden sich aufgrund ihrer hohen Konkurrenzfähigkeit über den ganzen Globus verbreiten.

3. Die Fortentwicklung der Produktionsverhältnisse wird in Zukunft die bourgeoisesen Verhältnisse sprengen und zur sozialistischen Gesellschaft führen.

These Nummer 1 hat sich bis heute bestätigt. These Nummer 2 hat sich zu einem guten Teil bestätigt. Die mangelnde Fähigkeit bestimmter Völker sich diese Produktionsmethoden ganz anzueignen ist nicht das Ergebnis irgendeiner Abenteuergeschichte der wir abends am Lagefeuer lauschen, sondern von ganz handfesten Erkennbaren kulturellen und rassischen Eigenschaften dieser Völker. Oder erklären sie mir einmal narrativ warum die Ostasiaten den Sprung in die Moderne geschaft haben, die Schwarzafrikaner nicht. Wirre politische Zustände mit vielen Unsicherheitsfaktoren hatten nach dem Ende der Kolonialzeit beide.

These Nummer 3 hat sich als grottenfalsch herausgestellt. In industriealisierten Gesellschaften kam es nie zu einer erfolgreichen sozialistischen Revolution und die Experimente mit sozialistischen Gesellschaftsmodellen in den wenig und nichtindustrialisierten Ländern schlugen katastrophal fehl. Warum Sozialismus nicht funktioniert lässt sich aber ökonomisch und politikwissenschaftlich erklären (und etwa Rathenau konnte es bereits vor dem sowjetischen Experiment erklären), auch wenn mir eine solche Theorie natürlich nicht sagt, warum Stalin über Trotzki triumphierte.

Auch Spengler, dem sie offenbar eine Theorie "der Geschichte" unterstellen gibt explizit an, eine solche Theorie mittlerer Reichweite zu erstreben. Er schreibt, dass man sich im Umgang mit der Geschichte vor zwei Irrtümern hüten muss. Einmal, dass die gesammte Geschichte einem Gesetz folge, zum andreren, dass sie überhaupt keinem Gesetz folge.
Des weiteren entwickelt Spengler im Untergang des Abendlandes eine Theorie über die Entwicklung von Kulturen, nicht von "geographisch-politischen Strutkuren" (meinen sie vielleicht die Landschaftsgebundenheit er Kulturseele?). Welchen Einfluss der Zufall auf die Entwicklung einer Kultur nimmt ist eine der zentralen Fragen Spenglers. Seine Antwort besteht darin, dass der Zufall die Ausgestallung einer Epoche und die äußeren Einflüsse auf einer Kultur bestimen. Napoleon hätte bei Marengo fallen können, aber das Abendland hätte auch ohne ihn eine Revolutionsepoche erlebt. Die Deutsche Klassik hätte es auch ohne Goethe gegeben, auch wenn dann niemand ihren Geist in die Form des Faust gegossen hätte.
Zufall war, aus Sicht der orientalischen Kultur, dass sie zu Beginn ihres Daseins mit den Trümmern der Antike belastet war, aus Sicht der altmexikanischen Kultur die Konquistadoren.

Dieser Morphologie mit einer Zerlegung in kleine und kleinste Ereignisabschnitte beikommen zu wollen halte ich für ein aussichtsloses Unterfangen. Bestenfalls redet man aneinander vorbei.

Meier Pirmin

21. Mai 2015 11:54

@Poensgen. Natürlich muss man zwischen dem Morphologen Spengler und dem politischen Spengler unterscheiden. Ich anerkenne Ihre Argumentation als auf hohem Niveau stehend. Es wäre aber trotzdem richtig, die Diskussion auf der Basis des Buches von Lübbe "Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse" weiterzuführen, weil wir sonst aneinander vorbeireden. Die Frage nach der "Gesetzmässigkeit der Geschichte" wäre allenfalls mal eine Tagung wert, sie müsste nicht notwendigerweise in Schnellroda stattfinden.

gerdb

21. Mai 2015 13:18

@Poensgen

3. Die Fortentwicklung der Produktionsverhältnisse wird in Zukunft die bourgeoisesen Verhältnisse sprengen und zur sozialistischen Gesellschaft führen.

Anonyme Aktiengesellschaften, "to big to fail", Staatsquoten über 50 Prozent, shared economy, crowdfunding, Wertlosigkeit von Besitz grundsätzlich in der Massenproduktiongesellschaft durch "obsolescence",
DDR 2.0....

-- trifft alles zu.

Laokoon

22. Mai 2015 17:21

Kurze Frage: Wie sollte die erste Annäherung an Heidegger neben einer Biographie aussehen? Welches Werk sollte man lesen? Besser eine Zusammenfassung am Anfang lesen, oder ein Orginalwerk? Welches ist das Grundlegenste?

antwort kubitschek:
lesen Sie die artikel des heidegger-heftes der sezession, darin finden sich sehr viele literaturhinweise sowie eingängige einführungsartikel.

Kartoffelstampfer

25. Mai 2015 02:56

Die Ruhrbarone hauen euch gerade Carl Schmitt um die Ohren, ihr Kartoffeln!
https://www.ruhrbarone.de/der-geist-der-feindschaft-der-islamische-staat-und-carl-schmitts-begriff-des-politischen/107506

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