Alain de Benoist: Wußtest du, daß du in den französischen Gefängnissen ein wahrhafter Star geworden bist? Neulich habe ich einen Freund in Fleury-Merogis besucht und, weil ihm die Zeit lang wurde, habe ich ihm einige Bücher mitgebracht, darunter auch das Deine. Du brauchst es nicht zu glauben, aber mein Freund ist eine Art Held geworden, weil er dich offenbar kennt, und dein Buch wird von einer Zelle zur anderen weitergereicht. Im Gefängnis ist ein ganzer arabischer Stamm, der auf dich schwört. Sie marschieren an meinem Freund vorbei und fragen ihn: „Haste den Zemmour? Haste’n?“
Eric Zemmour: Lieber Alain, weißt du, was mein Vater gesagt hätte? Er war 50 Jahre in Algerien und sprach sehr gut arabisch. Ich gebe dir den Schlüssel zum Verständnis, denn ich habe ihn von meinem Vater. Er hat mir immer gesagt, daß die Araber Ehre und Mut respektieren. Es geht ihnen nicht um Ideen, es geht ihnen um den Mann. Seine arabischen Kumpel mochten mich sehr. Diese Anekdote geht mir sehr nahe und bezaubert mich immer wieder. Das werden natürlich unsere ridikülen Preziösen im Fernsehen nie begreifen. Sie erkennen nicht die Kraft der menschlichen Realitäten, Auge in Auge.
Alain de Benoist: Ich war neulich in Montpellier für einen Vortrag. Am Ende bittet mich ein junger Maghrebiner um eine Widmung für seinen Vater. Ich frage ihn, welchen Namen ich denn hinschreiben soll. Er sagt: „für Mohammed, von seinem Sohn, der ihn liebt“. Ich fand das ganz rührend und weniger nichtssagend, als man denken könnte …
Eric Zemmour: Um dir entgegenzukommen: neulich habe ich ein Gespräch mit Franck Ribéry, einem französischen Fußballer bei Bayern München gesehen oder gelesen, in dem er seine Übertritt zum Islam begründet. Dieser Mann, der im Französischen haufenweise Fehler macht, hat einfach erzählt, wie ihn die Wärme, die ihm aus der Familie seiner algerischen Frau entgegenschlug, geschätzt hat und wie er sich dann mit der Geschichte Algeriens vertraut gemacht hat. Stell dir vor: Das ist Renan in der anderen Richtung! Ich habe gleich an meine Kumpels gedacht, die zu meiner Mutter kamen, um Couscous zu essen, während ich nur ein Ziel hatte, nämlich zu ihnen zu gehen, weil zwar ihre Eltern nie zu Hause waren, wohl aber ihre Schwestern! Ich verstand nicht, warum meine Kumpels immer zu uns kamen, um bei meiner Mutter Couscous zu essen: Sie suchten die Wärme eines Heims, das es bei ihnen zu Hause nicht mehr gab.
Alain de Benoist: Du untersuchst im Einzelnen, wie sich „Frankreich in den letzten vierzig Jahre aufgelöst hat“. Als Ausgangspunkt nimmst Du symbolisch den Mai 68, oder genauer gesagt diesen „68er Geist“, aus dem der Individualismus und der dazugehörige gesellschaftliche Liberalismus hervorgegangen sind. Das ist schon recht kühn, denn, erlaube mir zu sagen, der Mai 68 war kein „Block“: neben den Leuten, die von einem „uneingeschränkten Genuß“ träumten, gab es auch die, die den Geist der Commune am Leben erhalten wollten und denen es gelang, den letzten großen Generalstreik unserer Geschichte herbeizuführen. Aber glaubst du wirklich, daß das, dem du nachtrauerst, keine tieferen Wurzeln hat? Keine früheren Wurzeln?
Eric Zemmour: Ich habe den Mai 68 nicht als Bezugspunkt ausgewählt, sondern als Symbol, als Paradox, denn es war die Niederlage dieser Bewegung, die den Sieg der 68er herbeigeführt hat. Du hast ganz recht, der Mai 68 ist kein Block. Die beiden Seiten der Linken, die Arbeiterbewegung und die Libertären, sind hart aufeinander gestoßen. Aber, zum ersten Mal in unserer Geschichte, und das sage ich in der Einleitung meines Buches, hat die liberale und libertäre Linke den Sieg über die Arbeiterlinke davongetragen. Deswegen wollte ich nicht die Ereignisse von ’68 erzählen. Die sind nur von anekdotischem Interesse, eine Parodie der revolutionären Tage, die unsere französische Geschichte säumen. Ein jammervolles Schachmatt.
Ich bringe immer mein Publikum zum Lachen, wenn ich berichte, wie der General de Gaulle am 29. Mai 1968 Ludwig XVI. nachgeahmt hat, mit dem Unterschied, daß er einen Hubschrauber hatte und nicht in Varennes Station gemacht hat. Abgesehen von diesem Witz scheint mir, daß de Gaulle – von der französischen Geschichte durchtränkt, wie er es war – diese Beziehung sicher im Kopf hatte.
Natürlich hat der Abstieg eine viel größere historische Tiefe. Man könnte bis zur Aufklärung, zum Individualismus, zur Revolution von 1789 usw. zurückgehen. Es gibt jedoch ein aber. Und dieses aber habe ich bei Michéa gefunden, was dich sicher nicht in Erstaunen versetzen wird. Jean-Claude Michéa hat verstanden, was ich nur gefühlt hatte. Solange es noch Spuren der alten Welt gab, also das Gefühl der Ehre, der guten Arbeit, der Familie, den Respekt für die Alten, die Rollenverteilung in der Familie zwischen Mann und Frau, all diese Dinge die noch aus dem vorindustriellen Zeitalter stammen, standen dem emanzipatorischen Individualismus Barrieren im Weg. Er war emanzipatorisch, gerade weil er ein Gegengewicht hatte. Ab 1968 kippt das: Es gibt kein Gegengewicht mehr. Die alte Welt ist endgültig tot. Das ist Chestertons berühmter Satz von der modernen Welt voller verrückt gewordener ehemals christlichen Tugenden, die frei herumlaufen. Wir laufen nicht mehr frei herum, aber sind eine kapriziöse Gesellschaft.
Alain de Benoist: Du wendest dich zu deiner Jugend zurück und sagst: „Früher war es besser!“ Das ist sicher nicht falsch, obwohl man mit der Verallgemeinerung vorsichtig sein sollte. Aber wenn man das einmal gesagt hat, kann man doch nur noch Nostalgien daraus hervorziehen und das hat dir den Vorwurf eingebracht, ein unsäglicher Reaktionär zu sein, einen Vorwurf den du mit Stolz akzeptierst. Wenn ein Land fehlsteuert, kann es nur die Richtung ändern, denn jede Umkehr ist ausgeschlossen. Also wohin? Was für ein Neubeginn?
Eric Zemmour: Das ist natürlich die schwierigste Frage. In seiner Streitschrift L’erreur de calcul [Der Rechenfehler] zitiert Régis Debray ein herrliches Gespräch zwischen Daumier und Ingres. Daumier sagt, man müsse sich doch seiner Zeit anpassen. Darauf Ingres zu seinem Freund: „Und wenn die Zeit Unrecht hat?“ Ich bin natürlich auf Seiten von Ingres, obwohl seine Antwort die Frage nicht löst. Ich habe keine neuen Wege. Vielleicht liege ich falsch, aber ich glaube, daß es unerbittliche Logiken gibt, die uns auferlegt sind. Entwicklungen laufen seit Jahrzehnten und werden bis zum Ende von dem, was ich sage, weiterlaufen, also bis zum Ende der Unordnung, des Zusammenpralls, der Kriege.
Alain de Benoist: Für deine Gegner steht die „Zemmourisierung“ der öffentlichen Meinung für einen „Rechtsumschwung“. Stimmt das? Du bist doch offensichtlich kein Erbe Maurrasscher oder antirevolutionärer Ideen und noch weniger ein Erbe der liberalen Ausrichtung. Alles, was du schreibst, zeigt doch eher, daß es heute nicht mehr die Spaltung rechts-links ist, nach der sich die Geister richten. Die grundsätzliche Spaltung besteht doch heute zwischen dem Volk und den globalisierten Eliten, die, wie du sagst, „nie die Souveränität des Volkes geschluckt und sich stattdessen einer weltweiten Wirtschaft und nicht dem Interesse der Nation verschrieben haben. Hier sind wir sehr weit von der Paarung rechts-links entfernt, aber im Grunde genommen sehr nahe bei einem neuen Klassenkampf. „Die Rechte hat den Staat im Namen des Liberalismus aufgegeben, die Linke hat die Nation im Namen des Universalismus aufgegeben, beide haben das Volk verraten“ schreibst du doch. Im Winter 2004, in einer bemerkenswerten Ausgabe der Zeitschrift éléments, steht auf dem Einband „Man sollte Marx von Marxismus befreien“. Du sagst doch jetzt von dir, „mehr und mehr links zu stehen“ – würdest du das unterschreiben?
Eric Zemmour: Marx hat eine ganz hervorragende und prophetische Analyse des Kapitalismus erstellt, wie er sich über die Welt ausbreitet und dabei alle traditionellen Strukturen zerstört. Da braucht man nichts wegzunehmen. Wie seine gebildeten Zeitgenossen hatte er außerdem ein Gefühl für Stil und der Formulierung, etwa, wenn er die “eiskalten Wasser egoistischer Berechnung “ anklagt. Man darf Charles Maurras nicht übergehen. Er ist vor allem interessant als Kritiker seiner Zeit, der Dritten Republik, willenlos, regierungslos und unregierbar, wie sie war. Der General de Gaulle schuldet ihm sehr viel, vor allem seine Analyse des einsamen Frankreichs, die meiner Meinung nach die letzte Zeit seiner Präsidentschaft auszeichnet. Zwar geht es heute mehr um Marx als um Maurras, selbst wenn die Frage der nationalen Souveränität weiterhin wesentlich ist, aber das Umfeld ist völlig anders.
Weil die Spaltung rechts-links sich buchstäblich vor der Globalisierung in Luft aufgelöst hat, haben wir jetzt die Spaltung zwischen Piazza und Balkon, wie sie in den kleinen Städten und Gemeinden Italiens typisch war, bevor nach der französischen Revolution die Spaltung rechts-links eingeführt wurde. Neu ist, daß die Bürger auf dem Hauptplatz nie Anspruch auf einen Platz auf dem Balkon erheben können, weil dieser Balkon mittlerweile in New York, Singapur oder Shanghai liegt. Wie der amerikanische Milliardär Warren Buffet frei heraus gesagt hat, erleben wir m. E. einen neuen Klassenkampf, denn es gibt ihn ja durchaus und die Reichen sind dabei, ihn zu gewinnen. Die Sache ist um so alarmierender, wenn man bedenkt, daß in Frankreich nicht nur ein wirtschaftlicher Klassenkampf stattfindet, sondern auch ein Völkerkampf im eigenen Land. Diese geographische Aufteilung zwischen kürzlich angekommenen Einwanderern, länger ansässigen Einwanderern und angestammten Franzosen ist eine Folge einer kulturellen, ja sogar zivilisatorischen Trennung innerhalb unserer Grenzen. Beide Konflikte verhaken sich zu einem explosiven Gemenge.
Alain de Benoist: Was ich in deinem Buch wichtig finde, was aber nie so richtig angemerkt wurde, ist, daß du den französischen Abstieg auf die geduldige und gezielte Einwirkung einer heute herrschenden Ideologie zurückführst, die du als grundsätzlich „dekonstruktiv“ bezeichnest (und deinerseits „dekonstruieren“ willst). Du glaubst also, und mit Recht, daß das „Ende der Ideologien“ nur ein Mythos ist und wir heute in Ideologie geradezu baden. Deswegen hast du auch keine Angst davor zu sagen: „Ich führe eine ‚gramscianische‘ Politik mittels eines Kampfes von Ideen im Rahmen eines Kampfes um die intellektuelle Führung.“ Ich bin weit davon entfernt, dich dafür zu tadeln, denn wir tun das ja nun seit bald vierzig Jahren. Aber glaubst du, daß deine Leser wissen, worum es geht? Daß sie aus einer rein reaktiven Haltung heraus zu einer ideologisch strukturierten Denkweise übergehen können, wo doch so viele „Konservative“ und „Reaktionäre“ sich nicht aus den geistigen Kategorien befreien können, in welche die liberale Ideologie sie eingeschlossen hat?
Eric Zemmour: Seit dem Erscheinen des Suicide français reise ich viel in Frankreich herum. Ich treffe mit Menschen zusammen, die soziologisch, sozial, intellektuell sehr verschieden sind. Ich bin beeindruckt – und ich sage das ohne irgendeine Demagogie – durch den Grad der Aufmerksamkeit meiner Gesprächspartner. Ich glaube, das Buch hat eine wesentliche Tugend: Alle verstehen jetzt, um was es in dem ideologischen Krieg geht und wie erbittert er geführt wird. Darauf bin ich ziemlich stolz. Alle reagieren so. Meine Zuhörer in der Provinz verstehen, daß da ein echter Kulturkampf geführt wird, der frontal gegen sie gerichtet ist. Die Franzosen ertragen ihn seit Jahren, ohne etwas zu sagen, obwohl er ihre Lebensart zerstört und sie selbst unglücklich macht. Wenn sie dann mein Buch gelesen haben, sie sind ein bißchen wie der Inspektor Bourrel, den wir aus unserer Jugend kennen und der immer rief „Mein Gott, so isses!“ Mir gefällt das, wie du dir vorstellen kannst, denn ich höre diese Begleitmusik von seiten vieler Leute, die kulturell und geistig ganz verschieden sind, und ich höre sie überall und immer wieder.
Nach der ersten Etappe, des „Nie wieder!“, des „Mich kriegen die nicht noch mal!“ ist die zweite natürlich die problematischere. Was für eine Alternative? Wenn ich etwas Optimistisches hervorheben sollte, das mir auf meiner Reise durch das Land aufgefallen ist, dann liegt das völlig in der Stellungnahme gegen die herrschende Ideologie. Sie übersteigt die Spaltungen. Neulich war ich nach Nantes zu einer Versammlung von ehemaligen Franzosen aus Algerien eingeladen, sehr nette Leute, die natürlich mit de Gaulle nicht viel am Hut haben. Manche haben mir gesagt: „Sie sind da mit de Gaulle sehr weit gegangen, aber wir verstehen das, Sie haben nicht Unrecht“.
Ihre Einstellung gegen de Gaulle hindert sie nicht daran zu verstehen, worum es geht, jenseits der algerischen Angelegenheit, jenseits ihrer Geschichte, jenseits ihres eigenen Lebens. Für mich ist das ganz großartig. Man merkt, daß sich das Land bewegt. Anders ausgedrückt meine ich, daß es zwar einen französischen Selbstmord gegeben hat, aber auch eine Faszination der Franzosen für ihre Mörder. Ich glaube, daß diese Faszination zerbrochen ist. Die Franzosen haben ihren Gehorsam abgeworfen und sind nun verdrossen und krank. Es wird ihnen klar, daß sie sich Leuten anvertraut haben, die sie verraten haben. Sie leiden und sind wütend. Die Wut geht tief.
Alain de Benoist: Du hast gesagt, die deutsche Wiedervereinigung sei eine „Katastrophe“ für Frankreich gewesen. Aber war das nicht eine ganz natürliche Sache? Bei dem Bild, daß du von General de Gaulle zeichnest, gehst du darüber hinweg, daß er ein überzeugter Kämpfer für die deutsch-französische Verständigung und den „karolingischen Kern“ war. Wenn es um Symbole geht, war nicht er der Initiator der Messe, die am 8. Juli 1962 in der Kathedrale von Reims, am Ort der Taufe von Chlodwig, dem König aller Franken, der westlichen wie der östlichen, die deutsch-französische Verständigung besiegelte? Ganz gegen seine Erziehung als Offizier und genährt mit der Milch Bainvilles, der die Zersplitterung Deutschlands predigte, hielt dieser General de Gaulle ohne Notizen mehrere Reden auf deutsch, wobei ihm Beifall gezollt wurde, als er erstmals von einem „großen Volk“ sprach, in Bezug auf das zweigeteilte Deutschland. Hat es den deutschfeindlichen General de Gaulle, den du beschreibst, jemals gegeben? Und glaubst du, wäre er noch unter uns, daß er Europa mit der Europäischen Union verwechseln würde?
Eric Zemmour: Nein, nein, mein lieber Alain, ich habe nicht gesagt, daß General de Gaulle deutsch-feindlich war. Dagegen sage ich, daß de Gaulles Überlegungen so waren, wie in der Fabel vom Jockey und dem Pferd. Das Deutschland der 50er Jahre, zweigeteilt, wie es war, glich fast einem Deutschland, wie Bainville es sich vorgestellt hatte. Der Historiker der „Action française“ hatte Recht: Der Frieden war nur möglich, weil man Deutschland geteilt hatte. Amerika und die UdSSR machten das, was Frankreich 1918 hätte machen sollen, wenn uns die Engländer das erlaubt hätten – das Rheinland zurückholen und Deutschland in zwei oder drei Stücke zerbrechen. Man wirft Frankreich sein Verhalten nach 1918 vor, wo dies doch die von den Amerikanern und den Russen praktizierte Politik nach 1945 war. Was nun Adenauer angeht, so sprach er französisch und war frankophil, er war für ein französisches Rheinland. Wie Napoleon bin ich für ein karolingisches Reich, wenn Frankreich es führt. Ich gestehe, daß ich da ein wenig borniert bin.
Alain de Benoist: Nun ist Deutschland ja nicht das Fürstentum von Monaco. Es läßt sich nicht aus der Landschaft ausradieren …
Eric Zemmour: Die Wiedervereinigung war nicht von vornherein festgelegt; sie war nicht unumgänglich. Schwierig, die Geschichte neu zu bauen. Ich bedaure immer noch, daß Frankreich das Rheinland nach der deutschen Remilitarisierung von 1936 nicht sofort besetzt hat. Das 20. Jahrhundert ist für Frankreich ein Jahrhundert der verpaßten Gelegenheiten. Du täuschst dich in Bezug auf de Gaulle. Er war für ein Deutschland, dessen industrielle Dynamik für Frankreich nützlich wäre. Für ihn war ein von Frankreich geführtes Europa der Sechs eine Gelegenheit, wie man damals sagte, sich auf das Niveau der beiden Supergroßen zu hieven. Der Mann der Amerikaner hat übrigens die deutschen Abgeordneten stark angeleitet, um das Europa von Adenauer und de Gaulle, das Europa der „beiden Alten“ zu torpedieren.
Alain de Benoist: In deiner Kritik regionaler Identitäten und örtlicher Partikularismen gebrauchst du den Ausdruck von Paul Morand über de Gaulle – „dieser Linke, der zur Messe geht“ – um ihn für sein Referendum von 1969 zur Dezentralisierung, zur Regionalisierung und zur sozialen Beteiligung zu tadeln. Man hört bei dir auch zuweilen lustige jakobinische Töne heraus, die an den Abgeordneten Barrère erinnern, als er vor dem Wohlfahrtsausschuß den Föderalismus und den „Aberglauben“ mit ihrem Niederbretonisch, die Emigration und den Haß auf die Republik mit ihrem Deutsch, die Gegenrevolution mit ihrem Italienisch und den Fanatismus mit seinem Baskisch geißelte. Diesem Abgeordneten verdanken wir übrigens das Gesetz, das den Lehrern vorschreibt, „täglich die französische Sprache und die Menschenrechtserklärung zu lehren“. Wie bringst du dein Jakobinertum und deine Kritik an den Menschenrechten zusammen?
Eric Zemmour: Ah, ah, ah … ich wußte schon, daß ich wegen der Regionen etwas auf die Finger bekommen würde! Hör mal, es ist doch unbestreitbar, daß die Dezentralisierung eine Katastrophe war. Ich gebe zu, daß das nicht hätte sein müssen, wenn man sie anders durchgeführt hätte, mit anderen Optionen. Leider, und das steht fest, hat die Dezentralisierung Mini-Könige in die Welt gesetzt, die die Verschwendung in die Politik eingebracht und die öffentlichen Ausgaben zur Explosion gebracht haben, viel stärker als die Defizite des Zentralstaates. Die örtlichen Organisationen haben sich immer an die technischen Gegebenheiten angepaßt.
Die Gemeinde paßte zu den Bauern – man ging zu Fuß; das Departement paßte zu den Reitern und die Regionen zu den Autobahnen von Georges Pompidou. Mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV und dem Internet brauchen wir die Regionen nicht mehr, um so weniger, als sie mit den Ländern [sic], Baden-Württemberg etwa, oder Bayern, diesen ehemaligen Königreichen oder Herzogtümern, nicht konkurrieren können. Die Regionalisierung ist ein von den französischen Technokraten erfundener Mythos. Ich befürchte durchaus, daß wir mit diesem Schwung ein Frankreich bekommen werden, daß ein großeuropäisches Bayern ist.
Ich bin sehr stolz darauf, dieses Wort von Mirabeau ausgegraben zu haben, daß keiner der Verfasser der Menschenrechtserklärung „daran gedacht hatte, die Rechte der Kaffern oder der Eskimos zu erklären, oder auch nur die der Dänen oder der Russen“. Ich werde mal etwas Zynisches sagen, wie vorhin über das karolingische Europa. Seit der Revolution sind die Menschen- und Bürgerrechte zu unserer Religion geworden, zur Religion Frankreichs, von den Soldaten der Grande Armée geschützt und im Dienste seiner Interessen. Sie war sozusagen eine Seelenergänzung, die immer gut zu einer militärischen und politischen Herrschaft paßt. Aber, Spaß beiseite, ich bin für eine Staatsräson und nicht dafür, daß eine Religion oder eine Ideologie die Politik bestimmt.
Alain de Benoist: „Wenn du in Rom bist, mach es wie die Römer“ ist ein Ratschlag, den du immer anbringst und der deine Stellung zugunsten des republikanischen Modells der Assimilierung zusammenfaßt. Aber wenn die Assimilierung heute nicht mehr klappt, beweist das nicht, daß die republikanischen „Prinzipien“ heute kaum noch etwas bedeuten? Und sind es nicht sie, die im Namen der „unteilbaren“ Republik, systematisch die organischen Hilfestrukturen und die unterschiedlichen Kulturen, wie sie den traditionellen Gesellschaften eigen sind, zerstört und so den Boden für den sich ausbreitenden räuberischen Individualismus vorbereitet haben?
Reicht es, seine ursprüngliche Kultur zu vergessen, die Religion seiner Vorfahren zu verwerfen und sich einen französischen Vornamen zuzulegen, um das Desaster einer ungeregelten Einwanderung zu zügeln? Der junge belgische Historiker David Engels geht mehr oder weniger von denselben Feststellungen aus wie du und sagte neulich, dass die identitären, die migratorischen, die wirtschaftlichen und die kulturellen Probleme der späten römischen Republik gar nicht so anders waren als die im heutigen Europa. Das waren Probleme, die ihre konkrete politische „Lösung“ in der von Augustus geschaffenen imperialen Ideologie gefunden haben. Muß sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts die französische Republik in ein „Imperium“ umwandeln, wie damals, im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, die römische Republik?
Eric Zemmour: Ich bin für das Kaiserreich von 1800, auch wenn es sich damals um einen imperialen Nationalstaat handelte. Frankreich hat es nie geschafft, ein Imperium zu sein. Du hast völlig Recht. Problem Nummer eins ist die Demographie. Individuen kann man assimilieren, Völker aber nicht. Und die Völker sind zuerst da, vor den Individuen. Gemeinschaften sind da, das springt einem ins Auge. Man kann sie nicht wegzaubern. Ich gebe zu, daß das republikanische System überall in den französischen Regionen die traditionellen Bindungen zerstört hat, aber gib du auch zu, daß es eine Zeit gegeben hat, die gar nicht so weit zurückliegt und die wir beide erlebt haben, in der es wirklich ein Gefühl der nationalen Solidarität gab, das den Verlust der regionalen und der örtlichen Solidaritäten kompensierte. Ich weiß das noch genau.
Im Gegensatz etwa zu Italien verhindert die Kraft des französischen Staates, daß das französische Volk sich gegen eine übermäßige Einwanderung zur Wehr setzt. Es gibt da hinsichtlich der Migrationen zwei ineinander verwobene Phänomene. Zuerst einmal das Übermaß (die Zahl) und dann den Verzicht unserer Eliten auf eine Politik der Assimilation zugunsten einer sogenannten Integration. Als Frankreich noch wirklich assimilationistisch war, funktionierte die migratorische Auswahl von selbst. Die Fremden, die sich nicht assimilieren wollten oder konnten, verschwanden von selbst oder wurden weggeschickt.
Die strikte Anwendung einer Assimilationspolitik regelt das Problem der migratorischen Bevölkerungsströme zum Teil. Hinsichtlich der italienischen Einwanderung nach Frankreich hat der Historiker Pierre Milza besonders aufschlußreiche Zahlen vorgelegt. Ich zitiere mal aus dem Gedächtnis: zwischen 1870 und 1940 sind drei Millionen Italiener nach Frankreich gekommen. Geblieben sind 1,1 Millionen. Zwei Drittel sind wieder weggegangen. Da Frankreich sehr assimilationistisch war, sehr anspruchsvoll, sind viele – und das war ihr gutes Recht – wieder ausgereist. Hätte man diesen Weg weiter verfolgt, wäre das Migrationsdrama heute weit weniger kraß.
Alain de Benoist: Was mir besonders auffällt, wenn ich in Europa herumreise – das ist vielleicht jetzt subjektiv – finde ich, daß die Italiener ungemein italienisch sind, die Deutschen ungemein deutsch, dto. für die Spanier. Dagegen gibt es bei den Franzosen eine unglaubliche Entpersönlichung.
Eric Zemmour: Die Franzosen sind absolut keine Franzosen mehr. Als der Kopf, also Paris, angefangen hat zu zerfallen, ist alles verfault. Ich bestreite das gar nicht. Die Nachteile eines fehlenden Staates wirken sich zum Vorteil der Italiener aus und erlauben der Gesellschaft, sich besser zu verteidigen, während wir uns nicht verteidigen können, weil der Staat noch zu stark ist. Die Trümpfe unseres Zentralismus haben sich gegen uns gewendet. Das ist nicht erst seit gestern so. Als Napoleon nach Moskau kommt, zünden die Russen die Stadt an, und der Krieg geht weiter. Als dann zwei Jahre später die Russen und die Österreicher Paris einnehmen, ist der Krieg zu Ende. Der Kampf hört auf. Sogar Napoleon verzichtet. Da liegt der Unterschied.
Alain de Benoist: Jean-Christophe Cambadélis, Erster Sekretär der Sozialistischen Partei, hat vor kurzem dieses umwerfende Geständnis abgelegt: „Seit zehn Jahren hat die Linke den Kampf der Ideen verloren“. Da nun in dieser Zeit auch die „Rechten“ in der intellektuellen Debatte nicht gerade geglänzt haben, wer ist denn nun der große Sieger der letzten zehn Jahre? Und du, in all diesen Jahren, in denen du dein Buch geschrieben hast, wer sind denn die Autoren, die dich am meisten beeindruckt haben?
Eric Zemmour: Philippe Muray, Jean-Claude Michéa, Christophe Guilluy und Alain Finkelkraut von den Lebenden. Eléments natürlich, ich lese da immer in jeder Nummer die Notizen und die Artikel. Aber paradoxerweise finde ich meine kümmerliche Kost bei den Alten. Da ist eine Freiheit, die wir total verloren haben. Ich lese andauernd die großen Autoren des 19. Jahrhunderts.
Wer nun von den letzten zehn Jahren am meisten profitiert hat, da würde ich sagen: Niemand. Die Rechte und die Linke sind erloschene Sonnen. Man erkennt klar, daß die Zukunft einer großen einheitlichen Partei gehört, unter Manuel Valls oder Alain Juppé, vielleicht auch François Bayrou, die einer nationalen Front entgegensteht, die ihrerseits bislang keine intellektuelle Arbeit geleistet hat. Als du in den 70er Jahren Dornröschen wachgeküßt hast, konnte man gut erkennen, daß sich gewisse Politiker mit deiner intellektuellen Arbeit befaßten. Ehrlich gesagt gibt es dieses Interesse für Ideen nicht mehr, nirgendwo, in der politischen Welt. Das Niveau der Politiker ist schrecklich abgefallen. Die Minister sind ehemalige parlamentarische Referenten, die Premiers ehemalige kaufmännische Direktoren.
Das politische System dreht sich, hat aber keinen Kontakt mit dem Boden. Wir sind in einem totalen ideologischen Umbau. Das ist schwer zu ertragen und gleichzeitig sehr spannend. Leute, die ihre Stellung verlieren, werden immer gehässiger und lehnen eine Debatte um so mehr ab, als sie alles zu verlieren haben, wie etwa Noël Mamère, der ein Pamphlet gegen mich verfaßt hat, aber es kategorisch ablehnt, darüber zu diskutieren. Die Präsidentschaftswahlen von 2017 werden schrecklich sein. Alle werden sich prügeln, um gegen Marine Le Pen in den Endkampf zu kommen. Da stehen wir nun.
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Eric Zemmour et Alain de Benoist: Accords & désaccords, in: Éléments. Le magazine des idées (Paris), Januar–März 2015, Nr. 154, S. 39–44.
Bernhard
Zemmour ist kein echter "Franzose". Mit jüdisch-algerischen Wurzeln könnte er ansonsten auch ein echter "Deutscher" sein. Beides ist unmöglich.