Der Wertewandel unserer Tage kann aber noch weiterreichende Folgen haben. Natürlich veränderten sich auch im christlichen Europa die Werthierarchien im Laufe der Zeit. Die sich herausbildenden Städte etwa verlangten von ihren Bürgern andere Tugenden als adelige Grundherren von ihren Bauern. Doch die zentralen Werte, die Europa prägten, blieben davon unangetastet. Und dies galt auch bei so einschneidenden Ereignissen wie der Reformation oder dem Aufstand der Schweizer, der zur Etablierung einer demokratisch-republikanischen Staatsform inmitten eines monarchisch geprägten Europas führte.
So unterschiedlich die konkreten Vorstellungen auch sind, alle Weltreligionen und die von ihnen geprägten Gesellschaften schätzen zwei Arten von Werten am höchsten: einerseits gemeinschaftsbezogene, mittels derer sich ein Individuum als nützliches Glied einer Familie und einer politischen Einheit jedweder Art, sei es bloß die Dorfgemeinschaft, sei es ein Staat oder Reich, erweisen soll; andererseits jene Kategorie von Werten, die uns zu einem »guten Tod« verhelfen sollen. Diese Werte sind zwangsläufig individualistisch und können in einem gewissen Widerspruch zu den gemeinschaftsbezogenen Werten stehen. Festzuhalten bleibt, daß der »gute Tod« das Lebensziel der vergangenen Jahrhunderte war. Heute ist das »gute Leben« das Ziel des Lebens.
Während des christlichen Äons bemühte man sich darum, sein Leben gemäß den Verkündigungen der Religion möglichst gottgefällig zu führen, um am Ende, wohl über die Zwischenstation des Fegefeuers, in den Himmel zu gelangen. Darüber zerbrechen sich heute immer weniger Menschen den Kopf, und selbst unter vielen verbliebenen »Gläubigen« herrscht eine »wir kommen alle, alle in den Himmel …«-Stimmung, die es erlaubt, den Hauptteil der Gedanken der Erhöhung des eigenen Wellnessfaktors zu widmen. Es mag sein, daß solche Tendenzen in einer Gesellschaft, die echte Not fast nicht mehr kennt und sich gegen die meisten Lebensrisiken versichert wähnt, zwangsläufig auftreten.
Doch muß die Frage nach den Konsequenzen erlaubt sein: Was geschieht, wenn die gemeinschaftsbezogenen Werte (die den Einzelnen an Familie und Staat binden) und die religiösen Werte (die das richtige Leben von der Einhaltung des Dekalogs her definieren) zunehmend schwinden? Persönlichkeiten wie Elisabeth Noelle-Neumann und Konrad Lorenz haben eindringlich vor einer solchen Entwicklung gewarnt, weil sie die Grundlagen von Demokratie, Wohlstand und Freiheit gefährde. Wenn wir dies auch so sehen, müssen wir uns gegen jene stellen, die diesen Wertewandel als freiheitsfördernd vorantreiben. Und wir können dabei ganz nüchtern und kalt argumentieren, ohne Rückgriff auf Begriffe wie »Gott« oder »Nation«, die immer weniger Zeitgenossen etwas bedeuten. Als mehr oder minder automatischen Ablauf, einem Naturgesetz vergleichbar, müssen wir jedenfalls keinen Wertewandel hinnehmen.
Dazu kommt, daß Werte sich nicht nur wandeln, weil sich die Lebensbedingungen verändern, sondern daß sie in den meisten Fällen aktiv gewandelt werden. Schon der Wertewandel der Christianisierung erfolgte nicht von selbst, sondern durch eine predigend durch die Lande ziehende Organisation, die anfangs gegen den entschiedenen Widerstand der (römischen) Obrigkeit auftrat, später oft von verschiedenen (germanischen) Obrigkeiten gefördert wurde.
Die christlichen Werte wurden gezielt propagiert, und zwar nicht nur durch direkte Methoden wie etwa die Predigt, sondern sogar in erster Linie durch bildhafte Erzählungen: Auch Christus hat seinen Jüngern vor allem Geschichten – Gleichnisse – erzählt. Die Reformation wurde später wiederum von einer verhältnismäßig kleinen Gruppe Kleriker ins Volk getragen, wobei der mit ihr verbundene partielle Wertewandel aufgrund der damals weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der zutiefst reformbedürftigen römischen Kirche leichtes Spiel hatte.
Auch die staatliche Obrigkeit ist auf diesem Gebiet aktiv: Die Hohenzollern brachen den Widerstand des auf seine Unabhängigkeit pochenden preußischen Adels nicht nur mit Gewalt, sondern vielmehr, weil sie dessen Söhne in Kadettenanstalten und Offiziersakademien entlang staatsbezogener Werte erzogen. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurde dann das ganze Volk von dieser Propaganda erfaßt.
Das grundstürzend Neue an unserer Situation ist folgendes: Die tendenzielle Abkehr von einer auf die Gewinnung des Jenseits zielenden Lebensanschauung hin zu einer auf die Maximierung des Lebensgenusses gerichteten hat der Linken die Möglichkeit zur Umsetzung ihrer Agenda gegeben:
Kernbestand linken Denkens ist es, daß der Mensch als tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt, gesehen wird, der sich frei entfalten und hin zum Guten entwickeln kann, wobei ihm traditionale Bindungen nur hinderlich sind. Daher wurden als erstes, noch vom Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, die Religion und die mit ihr verbundene Fesselung des Menschen bekämpft.
In der zweiten Phase folgte die Bekämpfung von Nation und Staat, die ihrerseits auch den Einzelnen zu bestimmen versuchen und von ihm gemeinschaftsbezogenes Wohlverhalten einfordern. Nun haben wir die dritte und letzte Phase erreicht, es geht um die Bindung des Menschen an Familie und Geschlecht. Wenn das absolut selbstbestimmte Individuum Ziel aller Bemühungen ist, dann müssen auch diese Prägungen als schädlich entlarvt werden.
Und wiederum kann man diese Entwicklung begrüßen und fördern oder aber sie aufs Schärfste bekämpfen, weil man eben nicht der Auffassung ist, daß das von allen Zwängen, Bindungen und Bestimmungen befreite Individuum Basis eines gelingenden Lebens ist. Man kann en détail begründen, daß das Aufwachsen in einer funktionierenden Familie und die Herausbildung einer klaren geschlechtlichen Identität für die allermeisten Menschen Grundlage ihres Lebensglücks ist.
Man kann ebenso begründen, daß die Zerstörung aller gemeinschaftsbezogenen Werte nicht zu Freiheit und Selbstbestimmung, sondern zu Chaos, Anarchie und zum bellum omnium contra omnes führt. Man kann – und man muß, aus konservativer Sicht – klar machen, daß der Wertewandel unserer Zeit die conditio humana außer acht läßt und daher zur Zerstörung der Grundlagen unserer Kultur und Zivilisation, ja zur Zerstörung der Grundlagen von Demokratie und Freiheit führt. Und man muß jene Kräfte, die ihn propagieren, benennen und bekämpfen. Gender Mainstreaming und andere Umerziehungsprogramme sind nicht einfach Ergebnisse eines Wandels der Gesellschaft, sondern werden dieser von einer kleinen Gruppe von »AktivistInnen« doktrinär verordnet. Und deren Propaganda erfolgt wieder meist auf indirektem Wege:
Durch all jene Fernsehserien etwa, in denen es vordergründig um ganz etwas anderes geht – um Krimi oder Komödie und dergleichen. Doch die Massenmedien sind die Mythenproduzenten unserer Tage. Sie erzählen die Gleichnisse, nach denen wir unser Leben richten. Und sie propagieren subtil und oft unbemerkt, aber nach dem Motto »steter Tropfen höhlt den Stein«, jene neuen Weltbilder, die aus konservativer Sicht zerstörerisch sind.
Der Begriff des »Wertkonservativismus«, mit dem sich viele einst von einem bloßen Strukturkonservativismus abzugrenzen hofften, ist dabei freilich schon überholt. Die entscheidenden Fragen unserer Zeit drehen sich um den Erhalt der europäischen Völker und ihrer biologischen Substanz und um die Bewahrung eines europäischen Europas auf allen Ebenen, von der machtpolitischen über die wirtschaftspolitische bis hin zur kulturellen.
All dies wird ohne eine Rückbesinnung auf die prägenden europäischen Werte zwar nicht gehen. Der bloße Begriff des »Wertkonservativismus« greift aber zu kurz, sogar konservativ im Sinne von conservare mag man sich kaum mehr nennen, geht es doch vielmehr ums restaurare, zu deutsch: erneuern. ¡
Karl Martell
"Festzuhalten bleibt, daß der »gute Tod« das Lebensziel der vergangenen Jahrhunderte war. Heute ist das »gute Leben« das Ziel des Lebens."
Der unwerte Mann meint ewig zu leben,
Wenn er vor Gefechten flieht.
Das Alter gönnt ihm doch endlich nicht Frieden,
Obwohl der Speer ihn spart.
Das Vieh stirbt, die Freunde sterben,
Endlich stirbt man selbst;
Doch nimmer mag ihm der Nachruhm sterben,
Welcher sich guten gewann.
Aus der Älteren Edda, hier in der von Dr. Manfred Stange überarbeiteten Übersetzung des deutschen Philologen und Dichters Karl Simrock aus dem Jahr 1851.