Nach außen keine Kapitulation, nach innen keine Revolution.« Mit diesen Ankündigungen beendete der deutsche Staats- und Parteichef am 23. November 1939 eine Ansprache vor der engeren Staats- und Militärführung. Sie paßten in ihrem Tenor zu einer ganzen Reihe ähnlicher Bemerkungen aus dieser Zeit.
Wer in den damaligen internen Äußerungen einen Diktator namens Hitler sucht, der frohgemut oder wenigstens siegesgewiß zur Eroberung von Teilen der Welt aufbricht, der wird nicht fündig. Schon der dürre Beifall des sicherheitshalber zusammengerufenen Reichstags gab die Richtung vor, als dessen Mitgliedern am 27. August auf einem Empfang in der Neuen Reichskanzlei von Hitler erklärt worden war, der Krieg sei wohl doch nicht zu vermeiden. Der Kampf werde aber schwer und möglicherweise aussichtslos.
Doch war und blieb es nicht der einzige 23., der in dieser neueren deutschen Geschichte eine besondere Rolle spielen sollte. Auf den Tag genau ein halbes Jahr zuvor hatte die gleiche Person am 23. Mai einem fast identischen Zuhörerkreis versichert, er »werde nicht der Idiot sein, der wegen Polen in einen Krieg schliddert.« Und auf den Tag genau sechs Jahre nach dem 23. Mai 1939 kam dann das Ende dieser Phase des Krieges. Die Alliierten verhafteten die deutsche Reichsregierung und deren Regierungschef Karl Dönitz.
Freunde assoziativer Analysen könnten nun zügig vier Jahre weiterspringen, zum nächsten 23., dem Mai 1949 und damit zum Gründungstag der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings haben derartige Zahlenspiele wohl weniger Aussagekraft als eine Betrachtung der näheren Umstände und Folgen des 23. Mai 1945. Tatsächlich besiegelte dieser Tag die im November 1939 vorausgesagte Entwicklung. Der Diktator war tot, eine Revolution von innen war ebenso ausgeblieben wie eine Kapitulation nach außen. Zwar hatten die deutschen Streitkräfte am 8./9. Mai 1945 offiziell den Widerstand eingestellt. Die Regierung selbst hatte dies aber bewußt nicht als politische Erklärung, sondern als rein militärischen Akt gestaltet. Kein Kabinettsmitglied war an der Kapitulation der Streitkräfte beteiligt, statt dessen handelten die beteiligten deutschen Offiziere auf Vollmacht der deutschen Regierung, die also durch die Annahme der militärischen Kapitulation unter diesen Umständen von den Alliierten indirekt anerkannt worden war. Zudem blieb ein kleines Stück Deutschland unbesetzt. In dieser Enklave besaß die deutsche Regierung ein Fleckchen eigenes Territorium, in dem sie tatsächlich Regierungsgewalt ausüben konnte, was in der Regel eine Voraussetzung für die Anerkennung jedweder Regierung ist.
Zweifellos hatte es Zeiten gegeben, in denen solche völkerrechtlichen Feinheiten einen gewissen Einfluß auf den tatsächlichen Gang der Dinge gehabt hatten. Das Deutsche Reich selbst und die damals verbündete Sowjetunion hatten 1939 den Fortbestand einer Regierung der eben besiegten Republik Polen ausdrücklich auch mit dem Argument bestritten, daß bei dem im Londoner Exil residierenden Personenkreis, der diesen Anspruch erhob, weder personelle Kontinuität noch tatsächliche Herrschaft vorliegen würde. Polen sei demnach »zerfallen«, als Staat nicht mehr existent und alle mit diesem Staat geschlossenen Verträge automatisch nichtig.
Wer also mit dem eben besiegten Deutschland im Jahr 1945 politisch etwas Konstruktives anfangen wollte, für den konnte die weitere Existenz einer deutschen Regierung, die man gegebenenfalls einen Vertrag unterschreiben lassen konnte, durchaus von Vorteil sein. Die in Schleswig-Holstein sitzende Regierung Dönitz war nun faktisch in der Hand der Westmächte. So scheint es denn eben in der Führungszentrale der Sowjetunion Sorgen in dieser Beziehung gegeben zu haben. Im Vorjahr 1944 war man selbst wieder nach Polen vorgedrungen und hatte dort prompt eine neue »Regierung« installiert. Möglicherweise würden die Westmächte ähnliche Gedanken verfolgen.
Aber es gab 1945 letztlich keine Aussichten, den Nutzen einer deutschen Regierung auf dem Verhandlungsweg auszuloten. Bereits im Exil waren solche Bemühungen gescheitert, als etwa der schon 1932 gestürzte sozialdemokratische Ministerpräsident von Preußen, Otto Braun, eine Anknüpfung an diese demokratische Tradition vorgeschlagen hatte. Man könnte den damaligen »Preußenschlag« gegen die SPD für illegal erklären, ihn wieder ins Amt setzen und die Demokratie Weimarer Prägung erneuern, so seine Idee. Das wäre möglich gewesen, hätte aber nicht den sich immer mehr herauskristallisierenden Wunschvorstellungen auch der Westmächte entsprochen, Deutschland auf unbestimmte Zeit einfach als geographischen Bereich zu betrachten, mit und innerhalb dem nach Gutdünken verfahren werden konnte.
Mit solchem Gutdünken und einem beachtlichen Willen zur Demütigung wurde auch die Verhaftung der Regierung selbst vollzogen. Man ließ es sich nicht nehmen, die Verhafteten zur Entledigung aller Kleider zu zwingen, ihnen die Papiere und Wertgegenstände zu stehlen und sie dann in diesem Zustand der Weltpresse zum Ablichten vorzuführen. Dabei entstanden peinliche Bilder, offenbar zu peinlich, um wirklich Weltgeschichte zu machen. Es wurde ein Stück Selbstentlarvung der Siegermacht. Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg, der als letzter Oberbefehlshaber der Kriegsmarine als einzige Person beide Kapitulationsurkunden in Ost und West unterzeichnet hatte, nahm unter diesem Eindruck dennoch lieber eine Giftkapsel. Er zog diesem Schauspiel den Tod als einzigen sicheren Ausweg vor.
Als das bekannte Bild der Verhaftungsaktion ging statt dessen der aufrechte Gang von Großadmiral Dönitz in die Gefangenschaft ein, den er im weiten Uniformmantel antrat. Von seinem Vorgänger auf einen undankbaren Posten gesetzt und teilweise umgeben von Offizieren, die statt einer Übergabe eine »letzte ordentliche Schlacht« mit den in Norddeutschland und Skandinavien noch intakten Truppen vorgezogen hätten, hatte er vor einer schweren Aufgabe gestanden. Der – auch von seinem Vorgänger als Staatschef gern zitierten – Devise »Ewig allein lebt der Toten Tatenruhm« setzte er die trockene Feststellung entgegen, es sei nun genug mit »Heldenkampf«. Die deutsche Niederlage war auch die Niederlage dieser Vorstellungswelten.
Für das deutsche Staatsrecht und die Verhältnisse der beinahe leeren Rechtshülle »Deutsches Reich« zur internationalen Politik bedeutete der 23. Mai 1945 einen weiteren Schritt hin zum dauernden Ausnahmezustand. In welchem Umfang es das Reich ohne Regierung weiterhin gab, das wurde Gegenstand umfangreicher Rechtsliteratur. Ein Konsens hat sich dabei nicht entwickelt. Allerdings fanden sich nicht einmal die Siegermächte zu der Behauptung bereit, das Reich existiere nicht mehr. Eine solcher Satz findet sich in keiner ihrer Verlautbarungen. Lediglich Preußen wurde nach einiger Zeit für aufgelöst erklärt, wobei es dann auch keine Rolle mehr spielte, daß dieser Staat zu demokratischen Zeiten zuletzt von Sozialdemokraten regiert worden war.
So traten die Anmerkungen aus dem November 1939 letztlich in die Realität ein. Tod, keine Revolution, keine Kapitulation – jemand war entschlossen gewesen, die gesamte vorhandene Substanz des Landes notfalls bis zum Letzten aufzubrauchen. Andere waren entschlossen gewesen, ihn dann auch dazu zu zwingen. Entsprechend sah das Ende aus.
Peter Niemann
Warum bauen wir diese Substanz Deutschlands nicht einfach wieder auf? Kinder, Intellektualtiät und eine Verweigerung der Gegenwart ("innere Emigration") sind unsere stärksten Mittel. Muß man wirklich morgens aufstehen und Steuern für ein Land erwirtschaften an das man nicht glaubt? Es ist doch absehbar, daß das gegenwärtige System in einer stetig sich beschleunigenden Schleife einem agonalen Etwas (ein Ende? eine massive Veränderung?) zusteuert.