hat in den Leserkommentaren eine faszinierende Bandbreite an Positionen zum Eigenen und zum Fremden offenbart. Ich würde hier gern noch ein wenig weitermachen mit einer grundsätzlichen Erwägung: Was machen wir hier eigentlich?
Kürzlich in kleiner Runde: „Hätten die Flüchtlinge aus dem Osten 1945 nicht so viel Zeug mitzuschleppen versucht auf ihrer Flucht, es wären nicht so viele im Eis eingebrochen.“
Ein zynischer, ein grausamer, ein wahrer Satz – wahr wird er vor allem, wenn wir ihn auf unsere Situation heute beziehen. Auch der Konservative versucht etwas zu retten. Auch er ist auf der Flucht. Auch er hat umso mehr zu verlieren, je mehr er mitschleppt. Und vielleicht wird er nicht nur vieles, sondern alles verlieren, wenn er zuviel alten Bestand mit sich schleppt. Wovon kann ein Konservativer sich trennen, welchen Ballast links liegen lassen, ohne sein Wesen als Konservativer zu verraten?
Der Konservative ist ja per definitionem ein Bewahrer. Der deutsche Konservative möchte speziell das Deutsche bewahren. Aha.
Fragen wir also brutal und direkt: Was ist das Deutsche? Möchte man auf eine solche Frage nicht mit Augustinus antworten, der auf die ähnlich komplexe Frage, was die Zeit sei, sagt: Si nemo a me quaerat, scio. Si quaerenti explicare velim, nescio (also: Wenn mich keiner fragt, weiß ich es. Wenn ich es einem Fragenden zu erklären versuche, weiß ich es nicht.)? Würde man zu diesem Thema eine repräsentative Umfrage machen – Luther, Goethe, Schiller, Bismarck, Bach, die Ingenieurskunst, das Reinheitsgebot, der Fußball, die Mittelgebirge, der Rhein, der Wein, der Wald, die deutsche Sprache, der Minnesang, die Treue, das Pflichtgefühl, das Wandern und die Wirtschaftskraft würden neben vielen anderen, weitaus weniger nett gemeinten Dingen wahrscheinlich häufig genannt werden.
All das – nennen wir es mal im weitesten Sinne unsere Kultur, unsere Heimat – wollen wir nun retten vor Überfremdung, vor Zerstörung generell.
Geht das überhaupt? Konservative glauben ganz selbstverständlich daran – doch muß man nicht gerade auch das vermeintlich Selbstverständliche ab und an beherzt in Frage stellen? Ist all das – vor allem die kulturelle Überlieferung, die unsere Identität ausmacht – etwas, was man sich wie einen Schinken unter den Arm klemmen und so wie vor einem Feuer retten kann? Wohl kaum.
Wenn schon, hat man es im Kopf oder trägt es meinetwegen auch in seinem Herzen mit sich. Die kulturelle Identität ist im Wesentlichen nicht materiell – Bauten, Büsten, Bücher, Banner sind zwar materielle Träger, aber nicht der Geist der Identität selbst. Es kommt also auf die Köpfe an, die Herzen – dort und nur dort (und in den Genen, sofern wir sie denn weiterzugeben gewillt sind) wird so etwas wie die deutsche Identität für eine Weile überleben können.
Ist die Rettung dann also nur Privatsache und steht sie im Belieben jedes Einzelnen? Reicht es aus, wenn Einzelne hier und da etwas retten? Oder müsste nicht der lebendige Kulturzusammenhang, das gelebte Leben gewahrt und insgesamt gerettet werden? Dann heißt es jetzt ganz tapfer sein:
Die Hochkulturen der Menschheitsgeschichte sind samt und sonders nach mehr oder minder langer Blüte untergegangen – und zwar nicht vordergründig auf materieller Ebene, sondern auf der des Lebenszusammenhangs.
Überdauert haben einige Ruinen, Scherben, Fragmente des Alltags, Knochen, Texte, Kunstwerke, aber eben nicht das Leben als die eigentliche Kultur. Dadurch, daß man diese Überreste eines fernen Tages wieder ausgräbt, herausputzt und hochhält (wie beispielsweise in der Renaissance oder im Klassizismus), ersteht nicht das Griechentum oder Römertum neu. Was entsteht, ist eine – bestenfalls einen neuen Stil bildende – Interpretation.
Neben diesem bewussten, stilbildenden Umgang mit den Relikten alter Kulturen gibt es auch noch eine andere Art des Fortwirkens, mehr nach der Art der Humusbildung: Es bilden sich Schichten, das Geschichtete wird zur Geschichte und lebt im Einzelnen fort – ganz gleich, ob der sich dessen zu jeder Zeit bewusst ist oder nicht. Es bilden sich sehr tiefe Erinnerungen, so daß in jedem heute lebenden Menschen Paläolithisches, Mesolithisches, Neolithisches, Bronzezeitliches, Eisenzeitliches und ganz obendrauf eine Prise Mittelalterliches liegt – das ist der uralte Humus der Geschichte, ist unser Sicherheit und Halt gebender Wurzelgrund, der umso wirkungsvoller und mächtiger ist, wenn er seiner Landschaft, seiner Region verhaftet bleibt. Und damit zurück zu uns Deutschen:
Ich behaupte: Das, was wir als deutsche Kultur oder Identität retten möchten, wird auf Dauer nicht zu retten sein. Das liegt nur vordergründig an den massenhaft Zuwandernden oder an der Zerstörung unserer Kultur durch die seltsame Allianz von Neomarxismus, christlich geprägtem Humanitarismus und Kapitalismus – dies alles wäre gar nicht möglich, wenn es noch eine starke, virulente Identität gäbe.
Vor allem der Lebenszusammenhang und das durch ein Identitätsgefühl geprägte Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein werden verloren gehen. Ein geradezu klassisches Beispiel ist die Religion: Man kann zwar einwenden, daß Gott (der christliche) überall dort ist, wo an ihn geglaubt wird. Doch die das Individuum oder allenfalls kleine Gemeinschaften übergreifenden Zusammenhänge sind kaum noch vorhanden – die Kirchen (nicht die Gebäude als solche, sondern vor allem der Kirchengedanke selbst) liegen längst in Trümmern, wurden vor allem von innen heraus zerstört. Der Glaube ist Privatsache geworden, im Großen und Ganzen bestimmt er nichts mehr.
Die deutsche Identität im Ganzen wird ebenso untergehen (zumal das Christliche ein durchaus wichtiger Bestandteil dieser Identität war). Nicht heute, auch nicht morgen, aber in einigen Jahrzehnten oder in hundert Jahren werden wir wie die antiken Griechen und die Römer nur noch eine Erinnerung sein. Und doch wird etwas sehr Wesentliches bleiben. Die bewusste Rettung, die Konservierung materieller Beständen ist zwar möglich, aber nicht entscheidend. Entscheidend ist die geistige Humusbildung – die Transformation dessen, was uns ausmacht, in neue Schichten des Wurzelgrunds künftiger Generationen.
Läge mir an zeitgeistkonformer Diktion, würde ich vielleicht von einer Identitäts-Cloud reden, die alles, was jemals wesentlich und wirkungsmächtig war, umfasst und in jedem von uns steckt.
Doch reicht uns das? Welche Hoffnung treibt uns an, daß wir hier dem Zeitgeist nicht hinterherlaufen, den Untergang nicht einfach genießen, nicht gleichgültig werden, sondern widerständig bleiben? Da ist doch noch Hoffnung hier, oder? Welche?
Carl Sand
Zwei Definitionsversuche;
1) Heimat ist dort, wo man sich nicht zu erklären braucht.
Die irrsinnige Illusion, ein Mensch könne (und müsse damit auch) sich stets neu definieren, bis er nicht mehr Männlein noch Weiblein ist, ist bei genauerem Hinsehen das Gegenteil; die Zumutung, sich - seine bloße Existenz - ständig erklären zu müssen.
2) Volk ist die Möglichkeit von Solidarität.
Menschen sind Rudelbestien. Sie verhalten sich willkürlich wie Schweine, wenn sie nicht explizit vom Wohlverhalten einen Vorteil genießen.
Volk ist die bloße Möglichkeit, innerhalb eines biologischen und traditionellen Verbandes dieser menschlichen Naturkondition immerhin Grenzen setzen zu können.