so inflationär und sinnentleert ist sein heutiger Gebrauch durch jedermann. Und steht nicht das hütende, sorgende Bewahren im Gegensatz zur permanenten Neuschöpfung durch den sogenannten kreativen Geist?
Dennoch könnte es sich lohnen, menschliche Kreativität auch aus konservativer Sicht neu zu bewerten – und zwar ohne dabei ausschließlich neue Ingenieursleistungen im Sinn zu haben.
Ein simples Beispiel für den Einstieg mag das Wort „Geschichte“ liefern. Ich denke bei diesem Wort an aufeinander Geschichtetes, an Schichtenbildung, an ein gleichsam archäologisches Freilegen Schicht für Schicht.
Oberlehrerhafte Gemüter schelten mich oberflächlich, weil ich frei assoziierend an der etymologisch richtigen Ableitung von Geschichte aus Geschehen vorbeigehe. Ich habe nie verstanden, warum die Oberfläche als minderwertig gilt, weiß doch jeder Bauer, jeder Geologe, jeder Archäologe und auch so mancher Fischer von der Oberfläche auf das in der Tiefe Verborgene zu schließen.
Nennen wir das eine (das Assoziieren) mal kreativ, das andere (den Verweis auf Lehrbuchweisheit) konservativ. Man könnte auch beides zusammen denken: Das Geschehene bildet Schicht für Schicht Geschichtetes, also Geschichte.
Überhaupt das freie Assoziieren: Man denkt Dinge zusammen, die weder von Natur noch von der bisherigen Empirie her zusammen gehören. Die Ergebnisse dieses freien Assoziierens, dieser wilden Analogiebildung, dieses Bastelns mit verborgenen Ähnlichkeiten sind schräge Einfälle, die der konservative Geist als Mist abzuqualifizieren geneigt sein wird – der kreative sieht im Mist den Dünger.
Der konservative Geist nähert sich einem Problem bestenfalls analytisch-systematisch, meist aber nur von der vertrauten Schulbuchweisheit her (ipse dixit – der Verweis auf gelehrte Spruchweisheit soll oft genug das Selbstdenken ersetzen); der kreative fliegt scheinbar planlos wie die Biene von Blüte zu Blüte – und bringt den Grundstoff für Honig nach Hause.
Können Konservative und Kreative sich annähern? Welche Spielregeln müsste der Konservative, der eher orthodox und dem Dienstweg verhaftet ist, akzeptieren, wenn er in einen kreativen Diskurs eintreten wollte?
Es sind die Spielregeln, die explizit vor allem seit den 60er Jahren in der Werbewirtschaft gelten (aber nicht explizit ausgesprochen auch für die großen Künste aller Zeiten gelten). Bevor wir zu ihnen kommen, halten wir uns vor Augen: Es geht im kreativen Prozess darum, etwas noch nicht bewußt Gewordenes bewußt zu machen – das und nicht die beliebige Schöpfung von irgendetwas Neuem um des Neuen willen ist die Kernleistung des Kreativen.
Die Regeln des kreativen Denkens könnten (zitiert nach R. Fabian „Der Gott aus der Maschine“, 1974) in aller Kürze so formuliert werden:
(1) Kritik ist untersagt. (gemeint sind vor allem die gern genutzten Killerphrasen wie „Alles graue Theorie!“, „Haben wir schon versucht!“ „Haben wir noch nie gemacht!“ und „Ihnen fehlt ganz einfach die Erfahrung!“ – solche Killerphrasen und Denkverbote sind für die hohe Säuglingssterblichkeit der Gedanken verantwortlich)
(2) Freies Umherschweifen der Phantasie ist willkommen.
(3) Quantität der Einfälle ist erwünscht.
(4) Kombination und Verbesserung von ausgesprochenen Ideen ist grundsätzlich gestattet.
Hier geht es um ein Starkmachen der Intuition, die normalerweise nicht zusammenpassende Informationen (diese sollten freilich im Übermaß vorhanden sein) verknüpft und dabei nicht auf der Heerstraße des logischen Denkens marschiert, sondern die Neben‑, Wald- und Holzwege beschreitet.
Wichtig im intuitiven Prozess ist das Element der Verfremdung – alles, was ist, wird mit anderen Augen gesehen. Dieses Sehen mit anderen Augen ist es, was der konservative Geist vielleicht als allererstes lernen müßte. Gern zitiert zur Veranschaulichung der kreativen Leistung wird auch die chinesische Legende vom gelben Kaiser, der seine Zauberperle verloren hatte. Nacheinander sandte er, um sie wiederzuerlangen, Erkenntnis, Denkkraft und Absichtslos aus. Natürlich war es Absichtslos, der die verlorene Zauberperle wiederfand. Warum nicht mal absichtslos in den Zug nach Nirgendwo einsteigen?
Selbstverständlich ist es mit dem freien Assoziieren allein nicht getan. Wenn auch der Konservative oft glaubt, des Kreativen nicht zu bedürfen, so braucht der Kreative doch das konservative Element. Der kreative Geist sucht und integriert zwar schöpferische Spannungen, doch ohne eine organisierende Lebenshaltung wäre er ein Chaot, ein Stück Treibholz im Fluß des Lebens.
Doch das Schräge bleibt. In der Mythologie wie auch im wirklichen Leben ist der Kreative oft mit einem Manko behaftet. Hephaistos, Daidalos, Wieland der Schmied – alle hinken (darauf machte systematisch die auch heute noch sehr lesenswerte Abhandlung von Stephan Sas „Das Hinkende als Symbol“ aus dem Jahr 1964 aufmerksam). Der gelernte Arzt Gottfried Benn hat die Kunstgeschichte im Blick, wenn er in seinem „Lebensweg eines Intellektualisten“ ausführt:
Unter den hundertfünfzig Genies des Abendlandes finden wir allein fünfzig Homoeroten und Triebvarianten, Rauschsüchtige in Scharen, Ehelose und Kinderlose als Regel, Krüppel und Entartete zu hohen Prozenten, das Produktive, wo immer man es berührt, ist durchsetzt von Anomalien, Stigmatisierungen, Paroxysmen. Natürlich sind Goethe und Rubens da, reich, stabil, nahezu rausch- und giftfrei, wenn man sich Götter vorstellen wollte, hier sind sie, aber sie sind die Ausnahme, es ist nachweislich klar, statistisch klar, der größte Teil der Kunst des vergangenen Halbjahrtausends ist Steigerungskunst von Psychopathen, Alkoholikern, Abnormen, Vagabunden, Armenhäuslern, Neurotikern, Degenerierten, Henkelohren, Hustern –: das war ihr Leben, und in der Westminsterabtei und im Pantheon stehen ihre Büsten, über beidem stehen ihre Werke: makellos, ewig, makellos, Blüte und Schimmer der Welt.
Benn weist darauf hin, daß das Abnorme kein Freibrief für Schweine und Schnorrer sei. Doch dieser Fingerzeig auf die Produktivität des Abnormen, die Künstlern als Kreativen oft zueigen ist, sollten den konservativen Büsten- und Büchersammler vielleicht nachdenklich stimmen.
Armenhäusler, Abnorme, Degenerierte – ihnen, diesen Freaks und Schreckensbildern zumindest schlicht gestrickter konservativer Gemüter vom „Bausparer“-Typus, ist zu verdanken, was der Konservative bewahren möchte. Ist seine aus- und breitgelatschte Heerstraße des logischen, des rationalen, des herkömmlichen Denkens wirklich der Königsweg? Warum sich nicht den Feld- und Waldwegen, den Holzwegen (wie denen Heideggers) ein wenig mehr anvertrauen?
Konservative könnten, um sich aus der nicht selten anzutreffenden Erstarrung des Denkens und Fühlens und dem oft nur unproduktiven Festhalten am einmal Gelernten zu befreien, von Kreativen lernen. Dazu freilich bedarf es eines gewissen Mutes und einer Bereitschaft, in die Sphäre des Abnormen, des von jeder Norm Befreiten, einzutreten. Notabene: Es geht nicht um die grundsätzliche Preisgabe des Bewahrens, sondern um dessen produktive Anverwandlung.
Also: Welche Themen, welche Aufgabenstellungen sollen und müssen wir kreativ-konservativ angehen (“kreativ” bitte nicht verwechseln mit “konstruktiv”)?
Exmeyer
Das assoziative Denken ist schnell (reale Gefahrenabwehr), effizient im Umgang mit einer unendlichen Datenmenge, aber ungeordnet, zum großen Teil unaussprechbar und ziellos. Das ist der Nachteil.
Das geordnete analytische Denken ist in seiner geschulten Form begrifflich. Es kann auf den Punkt kommen, führt zu Ergebnissen, erzeugt mitteilbare Ordnung. Sein Nachteil ist die Begrenztheit der Datenmenge, mit der man kalkulieren kann. Dieses Denken ist immer begrenzt, simplifizierend und erkennt diese Begrenzung kaum.
In der empirischen Entscheidungsforschung, die jeder dieser beiden Denkweisen je eine Hirnhälfte zuordnet, stellt sich heraus, daß erfolgreiche Entscheidungen durch beide Hirnhälften zu wandern haben, um sich positiv von Durchschnittsergebnissen abzuheben.
Während die linke begriffliche, analytische, rationale und langsame Hirnhälfte zwar Ordnung in das Denken bringt, im Wesentlichen durch Versymbolisierung, Definitionen und durch Reduktionen, wird sie, aller Philosophie zum Trotze, niemals die Richtung vorgeben können. Wenn unvorhergesehene Phänomene auftauchen, ist es die schnelle rechte Hirnhälfte, die uns das Phänomen als gefährlich oder ungefährlich einordnen läßt und adäquat darauf reagiert: Bei Gefahr Flucht oder Kampf.
Ob die Variante Kampf für mehr steht als das bloße individuelle Überleben? Ist Kampf nicht das Einsetzen der eigenen physischen Existenz für etwas anderes?
Sicher ist, daß das Hirn im Zweifel auf Aktion und auf Gefahr hin ausgerichtet ist, wenn es darauf ankommt. Mittels linkshirnischer Analyse des rechten assoziative Gehirns, erhält man den Ordnungsfaden, den das linke und das rechte Hirn jeweils alleine nicht ermitteln können: Alles rationale Denken SOLL auf das Handeln und auf die Gefahrenbawehr gerichtet sein. Über das eigenen Ich hinaus. Das ist der Anknüpfungspunkt. Bekämpfung von Optionseinschränkungen, erzielen von Optionserweiterungen für das Gemeinswesen und für das ich.
PS: Hier kann es nur einen "Meyer" geben, so wie es ja auch nur einen "Raskolnikov" geben kann.