so ernst genommen wie in Deutschland. Von Südeuropa ganz zu schweigen: selbst in „ordentlichen“ Ländern wie Japan oder England (jeweils auch außerhalb der Metropolen) gilt die rote Ampel Passanten als Angebot, nicht als Gesetz.
Im eigenen Land gibt es nach meiner Beobachtung Unterschiede: In Dresden wartet man auch dann über eine Minute auf Grün, wenn weit & breit kein Auto zu sehen ist; in Süddeutschland scheint man das Rot-Steh-Gebot etwas ernster als im Norden zu nehmen.
Heute in Offenbach (und zwar ebendort genauso zum x‑ten Mal) beobachtet: Die Ampel am Marktplatz zeigt rot, Autos und Busse sind weit entfernt. Wir haben‘s eilig und wollen rüber, aber: Alles steht. Die Kopftuchfrauen, die dunklen Halbwüchsigen, die älteren, bärtigen Typen mit ihren Gebetsketten in der Hand. Klar warten wir halt auch, befangen in einer Art Integrationsschleife.
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13. Juni 2015 – Erstens: Flohmarktbesuch. Aus ökologischer Überzeugung kaufen wir seit etwa fünfzehn Jahren nur in Sonderfällen neue Kleidung für unsere Familie. Für uns muß keine kambodschanische Familienmutter schuften.
Ich gerate regelmäßig in Erinnerungsräusche, wenn ich etwa unserer Jüngsten einen Trägerrock anziehe, den bereits die heute Achtzehnjährige im Kindergarten getragen hat, und schon damals war dieser ein Flohmarktfund gewesen: Wolle-Seide, mit gestickten Applikationen, wundervoll! Heute: 11 Euro ausgegeben für Trachtenrock, Strickjacke, weiße Bluse und Gummistiefel.
Die Verkäufer sprechen in seltenen Fällen einheimisches Deutsch. Eine Frau mit Kopftuch bietet Dokumente polnischer Grausamkeiten aus dem Arndt-Verlag feil. Ich frage spaßeshalber: wieviel? Sie holt in fremder Sprache ihren braunhäutigen Mann heran, der sagt: „Nicht billig, aber selten und gut, machen wir 6 Euro“.
Zweitens: Obst- und Gemüsestand jenseits des Flohmarkts. Hier kauf ich ganz gern ein und wundere mich immer, warum etwa die Erdbeeren hier 2, 90 Euro pro Kilogramm kosten, wenn der Großmarkthallenpreis bei 3, 50 Euro liegt.
Fünf oder sechs junge Ausländer verkaufen hier, sie sehen alle ein bißchen aus wie Akif Pirincci. Der Stand ist supergut besucht. Ich werde entgegen aller Offensichtlichkeit als „junges Frollein“ angesprochen, mein Verlangen nach zwei Kilo (Spargel) wird in „vier Pfund“ korrigiert. Die jungen dunklen Herren agieren äußerst selbstbewußt. Gerade das gefällt der (hauptsächlich deutschen) Kundschaft.
Ich höre folgende Slapsticks: Ein alter deutscher Herr greift in die monströsen Äpfel, schaut sich ein kleines Hagelloch an. Türkischer(?) Verkäufer: „Oh, hallo, bist Du Ingenieur? Oder bist Du vom Bau? Hast Du da ein Loch gegraben? Dann mach es schnell zu, aber hopphopp!“ Der Altdeutsche lacht und nimmt drei Kilo.
Eine gebückte Deutsche hat Tomaten geordert, soll fünf Euro fuffzisch bezahlen, sie kramt langwierig in ihrem Geldbeutel. Der Verkäufer ruft ihr was auf türkisch (?) zu. Der muntere Kollege schaltet sich ein: „Mein Partner fragt, wie lang es ungefähr dauert. Wir stehen nur noch vier Stunden hier. Vielleicht noch was dazu?“ Die Frau lacht halb beschämt und nimmt noch eine Melone.
Hinzu tritt ein kleiner, buckliger Greis, der den Salat anschaut. Einer der Türken(?). „Ach, für Sie habe ich eine gute Nachricht: Soll heute noch regnen. Vielleicht wachsen Sie dann noch ein bißchen!“ Alle lachen herzlich. Multikulti ist schon schön.
Drittens: Wir wollen zur Oper. Sehr typisch für uns, ja, sehr undeutsch: Wir sind ein bißchen spät. Ich galoppiere mit den Kindern unfein über den Römerberg Richtung Oper. Wortfetzen aus einer Besuchergruppe, aufgeschnappt: „Holla, lauter blonde Walküren! Gibt´s das also auch noch – hier?“ – „Wie gesacht, mer sinn hiär im alldn Frankfodd!“ Gelächter.
In der (Kinder-)Oper das vertraute Bild: Ausschließlich sehr weißhäutige Mütter und Väter mit ihren Zöglingen, adrette Kleidung, Perlenohrringe, Friseurfrisuren, Modebärte. Dabei kostet die Veranstaltung nicht mehr als ein Besuch im Cinemaxxx, und dort hingegen hat man eher einen repräsentativen Schnitt der Stadtbevölkerung. Was ist bloß los mit den migrantischen High Potentials? Hier sieht es doch noch so aus, als ob die jungen Neuen alle gern in die Alte Oper stürmen wollen!
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14. Juni 2015 – Erstens: Der Papa erzählt, auf die Vermietungsanzeige seiner ehemaligen Kollegin in der Innenstadt habe sich das Sozialamt der Nachbarstadt gemeldet: Die wollten die Wohnung für eine fünfköpfige Familie aus Eritrea mieten. Der Papa breitet diese Anfrage im gemainstreamten Freundeskreis aus.
Es sei doch komisch,sagt er, wieso suche das Sozialamt der Nachbarstadt eine Wohnung in Offenbach? Ist die eritreische Community in Offenbach so bedeutend? Gibt es keine Wohnungen in der zuständigen Nachbarstadt? Der Freundeskreis unisono: Wieso nicht? Eritrea sei doch hochinteressant? Von solchen Leuten könne man nur profitieren!
Der Papa fragt erst X, dann Y: „Aber ihr habt doch jetzt auch ein Stockwerk komplett leerstehen? Wie wär´s denn?“ Antwort unisono: „Na komm, also! Wir sind Vorort, das geht nicht, das wär doch … auch nicht schön für diese Menschen. Das ist doch echt was anderes…“
Zweitens: Rückfahrt mit dem IC. Kind: „Mama, hast du die Frau mit dem Kopftuch gesehen?“- „Nein, wieso?“ – „Guck dir mal die Kette an!“ Ich muß hochauffällig ein paar Mal durch das Großraumabteil gehen, immer wenn ich vorbeikomme, bückt sich die Betuchte und wühlt in ihrer Tasche. Beim dritten Vorbeigehen seh ich die Kette: ein Schwarzrotgoldanhänger, faustgroß. Was das wieder zu bedeuten hat?
Martin
Ihr Stil fasziniert mich, schon lange. Ihre Impressionen, aber auch meine eigenen, wenn ich mal nach Deutschland reise, lassen mich an die dreisten, gleichwohl sich bewahrheitenden Worte von Walid Nakschbandi denken. Die Deutschen, nichts mehr als lästige Gaffer und Zaungäste ihrer eigenen Abschaffung.