Diese „Rahmenbedingungen” haben die Politikwissenschaftlerinnen Valerie M. Hudson und Andrea M. den Boer in ihrem Buch Bare Branches. The Security Implications of Asia’s Surplus Male Population (Cambridge 2004) untersucht. „Nackte Äste” nennt man in Ostasien, wo das Problem heute besonders virulent ist, das Phänomen junger Männer, die aus demographischen Gründen keine Frau finden können. Polygamie, Hypergamie und Infantizid sind die universellen Muster, die zu diesem Männerüberhang führen. Unter Polygamie versteht man die Neigung mächtiger Männer, mehr als eine Frau zu ehelichen, unter Hypergamie die Neigung von Frauen, sozial „aufwärts” zu heiraten. Infantizid bedeutet die weit verbreitete Erscheinung, daß die Zahl der Kinder, vor allem Mädchen, durch Schwangerschaftsabbruch oder Kindstötung reduziert wird.
Wenn Frauen knapp werden, sind aufgrund der Neigung von Frauen, Männer mit höherem sozialem Status zu heiraten, vor allem die Männer der Unterschicht von Ehelosigkeit betroffen. Das hat in vielen Kulturen Auswirkungen auf das gesamte soziale Gefüge: unverheiratete Männer werden zu permanenten Außenseitern. In diesem Fall kommen universelle statistische Tatsachen zum tragen: Männer sind gewalttätiger als Frauen. Junge Männer zeigen häufiger antisoziale Verhaltensweisen als ältere. Unverheiratete Männer neigen eher zur Gewalt als verheiratete. Männer mit niedrigem sozialem Status sind gewalttätiger als Männer mit hohem sozialem Status. Der Mißbrauch von Drogen und Alkohol macht den Ausbruch von Gewalt wahrscheinlicher. Junge, unverheiratete Männer riskieren Gewalt eher in Gruppen als allein. Das bedeutet: Die „nackten Äste” sind, wo sie zu einem Massenphänomen werden, sozialer Sprengstoff.
Die antisozialen Instinkte dieser jungen Männer aus der Unterschicht werden nicht durch Ehe und Vaterschaft pazifiziert. Sie sind eine Gefahr für sich selbst und ihre Umwelt, besonders für Frauen. Denn mehr potentielle Bewerber bedeuten für die Frauen nicht etwa mehr Wahlfreiheit, sondern das Gegenteil: Frauen werden entführt oder bereits im Kindesalter verheiratet. Sie können das Opfer von Übergriffen Fremder sein und unterstehen der permanenten Kontrolle durch die eigenen Männer.
Auf der anderen Seite entwickeln die Männer aus den Unterschichten eine Konkurrenzkultur, die immer nur einen Schritt von der Gewalttätigkeit entfernt ist. Kein Wunder, daß die Autorinnen feststellen: „Es gibt nur wenige Dinge, die bei einer herrschenden Elite mehr Angst verursachen als eine Masse unverheirateter, kinderloser Männer mit einem Minimum an politischer Energie.”
Aus diesem Grund beschäftigte sich Frank Schirrmacher in der FAZ vom 20. September 2006 mit der Rolle des Männerüberschusses in Mitteldeutschland für die politische Perspektive der NPD: Aufgrund der Frauenarmut in Mitteldeutschland, so Schirrmacher, entziehe sich das Problem allen „sozialtherapeutischen Maßnahmen”. Zwischen Harz und Oder herrscht ein Geschlechterverhältnis wie sonst nur in Ostasien und in Europa allenfalls in Nordschweden und Nordfinnland. In den neuen Bundesländern kommen nach Untersuchungen der Universität Greifswald schon heute auf 100 Männer nur 86,5 Frauen. In sechs bis sieben Jahren werden zwei Männer um die Gunst einer Frau konkurrieren müssen, betonte der Chemnitzer Soziologe Bernhard Nauck bereits in einer Pressemitteilung vom 4. Dezember 2001 (www.tu-chemnitz.de/tu/presse/2001/12.04–13.30.html). Damit wäre die klassische Situation zur Formierung gewalttätiger Männerbünde bereits gegeben. Schirrmacher kommt zu der Einschätzung: „Die demographischen Ursachen des Extremismus erzeugen Risiken, die sich nur durch die kostspieligen Mittel von Überwachen und Strafen in Schach halten lassen.”
Schirrmacher ist nicht der erste, der solche Auffassungen vertritt. Die Herrschenden aller Zeiten und Länder haben sich einiges, darunter manches Skurrile einfallen lassen, um den ewigen Störenfrieden der gesellschaftlichen Ordnung Herr zu werden. In Australien forderten die offiziellen Stellen im neunzehnten Jahrhundert Prostituierte aus dem Mutterland an, weil sonst Rebellionen nicht zu verhindern wären. In den USA war der Kult um den Cowboy auch die Legitimierung einer Lebensform, in der sich überschüssige Männer mehr oder weniger ungestraft gegenseitig umbringen konnten. In Kalifornien wurde der Opiumkonsum chinesischer Immigranten toleriert, um die von Testosteron gesteuerte Vitalität der einsamen Einwanderer quasi einzuschläfern. In China, wo das Problem schon damals besonders prekär war, ging man während der Ming-Dynastie dazu über, Zweitund Drittgeborene zu kastrieren, um das Übel sozusagen an der Wurzel zu packen. Mit dem Ergebnis, daß schließlich über 100.000 Eunuchen Dienst für den chinesischen Kaiser taten. Ein anderer Versuch zur selben Zeit in China sah vor, unverheiratete Söhne zu Mönchen zu machen, in der Hoffnung, Spiritualität und Askese würden die jugendliche Zerstörungswut dämpfen. Die kämpferischen Shaolin-Mönche haben hier ihren Ursprung.
In den meisten Fällen brachte jedoch nur die Verlagerung des Problems nach außen durch Raubzüge und Kolonisation der Gesellschaft Entlastung. Dieser Mechanismus läßt sich bereits bei primitiven Völkern nachweisen. Der amerikanische Ethnologe Napoleon Chagnon stellte bei seinen Forschungen über das kleine Volk der Yanomami im brasilianisch-venezolanischen Grenzgebiet fest, daß der Frauenmangel, der durch die krasse Polygamie in ihrer Kultur bedingt war, zu regelrechten Raubzügen zur Erbeutung der Frauen anderer Stämme führte. In diesem „Krieg um Frauen” kam dem „Töter” das höchste Prestige zu. Mit seinem soziobiologischen Ansatz, Männlichkeitsideale mit der Verbesserung der individuellen genetischen Fitneß in Zusammenhang zu bringen, wurde Chagnon weltberühmt – und umstritten. (Yanomami Social Organization and Warfare, in: Morton Fried: War. The Anthropology of Armed Conflict and Aggression, Garden City 1967).
In Deutschland wird dieses Problem zunehmend virulenter. Seit den siebziger Jahren vergrößerten die Arbeitsmigranten den Männerüberschuß in Westdeutschland. Ohne die „Familienzusammenführung”, in deren Rahmen sich türkische Männer Frauen aus ihrer Heimat nachkommen ließen, wäre die Konkurrenz um Frauen vermutlich noch wesentlich härter und die Zahl sexueller Übergriffe größer gewesen. Die massive Abwanderung von Frauen aus Mitteldeutschland bringt heute das paradoxe Ergebnis hervor, daß dort alleinstehende Männer der Unterschicht als potentielle „nackte Äste” einerseits besonders ansprechbar für völkisch-nationalistische Parolen sind, andererseits die Ehe mit Einwanderinnen, die in Deutschland ein besseres Leben suchen, mangels einheimischer Frauen für sie vermutlich die einzige Chance bietet, überhaupt eine Familie gründen zu können.