Sezession: Ihr Buch trägt den Untertitel »Meinungsfreiheit nach dem Terror«. Dem Text vorangestellt ist ein Zitat François Villons, dem zufolge »die Lästerzungen« »in Ochsengalle und Latrinenflut« geschmort werden sollten. Was genau ist krumm an den vielfältigen Elogen auf die Meinungsfreiheit, die nach dem Anschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion in ganz Europa angestimmt wurden, und wie ist es seither um die Meinungsfreiheit tatsächlich bestellt?
Lichtmesz: Es ist in Frankreich nicht anders als in anderen westeuropäischen Ländern: “Meinungsfreiheit” ist immer diejenige des linken Spektrums, während es man für selbstverständlich hält, das rechte und konservative Spektrum mit allerlei Schikanen in Zaum zu halten: von Totschweigen über Diffamierung und Lächerlichmachung bis zu handfesten Gesetzesauflagen.
Das bekannteste Beispiel ist natürlich der farbige Komiker Dieudonné, der vom Establishment mit Geldstrafen und Auftrittsverboten zugepflastert und im Nachspiel zu den Attentaten wegen einer bloßen Bemerkung auf Facebook sogar verhaftet wurde. Und er ist beileibe nicht der einzige. Während nun die Kraßheit von Charlie Hebdo als sexy und mutig gepriesen wird, gilt der nicht weniger krasse Dieudonné, der auf seine Art wesentlich subversiver ist, eine Art Staatsfeind.
Der Grund ist, daß Charlie Hebdo fester Bestandteil des französischen Establishments war und der herrschenden Ideologie kaum zuwiderlief, trotz der auch unter Linken umstrittenen antiislamischen Karikaturen. Allein an diesem Beispiel kann man ablesen, wie selektiv und heuchlerisch dieses Elogen à la »Wir sind Charlie« waren. Das Perfide an dem Slogan war freilich auch, daß er zu einer Identifikation mit Inhalten aufrief, wo eine bloße Verurteilung der Tat genügen sollte. Diejenigen, denen Charlie mit Vorliebe ins Gesicht gespuckt hat – Katholiken, Moslems, Patrioten –, wurden auf diese Weise genötigt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Das Villon-Zitat verdanke ich Herrn Albert Pethö, Herausgeber der Weißen Rose (Wien), der in seinem kleinen, nur wenigen Connaisseuren bekannten Flugblatt einen der besten Kommentare zu dem Geschehen abgeben hat. Der Witz ist natürlich, daß das Gedicht selbst eine Aneinanderreihung von gröbsten Lästereien ist – und ich finde, den Fluch Villons haben die Zeichner von Charlie Hebdo mit ihren oft niederträchtigen und billigen Zeichnungen auch verdient.
Sezession: Seit dem bis heute ungeklärten Bombenanschlag auf den Schnellzug Straßburg–Paris 1961 mit 28 Todesopfern ist der Angriff auf Charlie Hebdo der blutigste terroristische Akt auf französischem Boden. Den neun getöteten Redaktionsmitgliedern stehen vier erschossene Unbeteiligte gegenüber, darunter ein Wartungsarbeiter und die vier Opfer im koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes. Im Gegensatz zu den Charlie-Mitarbeitern war im Nachgang von den weiteren Toten von politischer und medialer Seite kaum die Rede; allenfalls der Polizist Ahmed Merabet war kurzzeitig ein Thema, weil sich mit ihm auch ein Moslem unter den Ermordeten befand. Wie erklären Sie sich diese seltsame Unterscheidung zwischen »einfachen« Opfern und den »Märtyrern des Humors«, wie Bernard-Henri Lévy sie genannt hat?
Lichtmesz: Nun gut, das verwundert freilich nicht: Wenn es Prominente erwischt, die eine symbolische Bedeutung für viele Menschen hatten und in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle gespielt haben, fällt die emotionale Reaktion natürlich heftiger aus, weil die Opfer nun ein Gesicht und einen Namen haben… Was man von ein paar zerquetschten zivilen Kollateralschäden durch US-Drohneneinsätze nicht sagen kann.
Insofern ist das ganz “normal”. Aber das zeigt freilich auch, daß es nie um die Opfer an sich geht, sondern stets nur um ihren medialen Ausschlachtungswert. Merabet wurde wahrscheinlich deshalb ein bißchen mehr hervorgehoben, weil er auch ein algerischstämmiger Moslem war. Natürlich war sein Tod auch in dem Video zu sehen, das auf allen Kanälen die Runde machte. Aber letztlich war auch er nur ein Statist.
Sezession: Lévy war die lauteste Stimme, die das Attentat völlig von religiösen und ethnischen Hintergründen abtrennte. Seiner Lesart nach gehe es nun um so mehr darum, die europäischen Werte zu verteidigen – wozu auch die Aufnahme ankommender Flüchtlingsscharen zähle. In Deutschland sekundierte ihm insbesondere Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung. Sie treten dieser Argumentation mit aller Schärfe entgegen. Irren sich all diese keineswegs arglosen Intellektuellen lediglich in ihrer Bewertung der Vorgänge, oder folgen sie einer Agenda?
Lichtmesz: Lévy folgt natürlich einer Agenda, mit vollem Bewußtsein. Das ist ja sein Beruf. Als französische Variante des Neocons ist er einer der vordersten Trompetenbläser und Ependichter eines US-amerikanischen Menschenrechtsinterventionismus, und wenn es um entsprechende Ziele geht, ist er sich auch keineswegs zu schade, sich mit von den USA unterstützten Terroristen in ein Boot zu setzen. Dazu kann man einiges in meinem Büchlein nachlesen; auch, daß und auf welche Weise Charlie Hebdo ganz klar Teil einer spezifischen politischen Agenda war, zu der eben auch die “liberale Islamkritik” gehört, die nicht umsonst ein Kind der Bush-Ära ist.
Was Prantl betrifft, so zitiere ich Adorno, der einmal gesagt hat, kein Deutscher könne eine Lüge aussprechen, ohne sie zu glauben. Gewiß wollen auch viele deutsche Journalisten gerne die Hohepriester spielen, aber das spielt sich in einer etwas mickrigeren Liga ab.
Sezession: Zum Abschluß Ihres Werks diskutieren Sie die Möglichkeit einer großen Inszenierung im Sinne einer »Strategie der Spannung«, vergleichbar den von der NATO gesteuerten Anschlägen rechtsterroristischer Zellen im Italien der 1980er Jahre. Was genau wäre – Ihrer Meinung nach – der Gewinn aus einem solch blutigen »Simulacrum«, wie Deleuze oder Baudrillard es genannt hätten, und wer sollte diesen Gewinn einfahren?
Lichtmesz: Wie so oft in solchen Fällen, gibt es auch beim Attentat auf Charlie Hebdo eine Menge von Ungereimtheiten, die man meiner Ansicht nach ernstnehmen muß. Und daß Geheimdienste terroristische Gruppen unterwandern, fernsteuern oder gar erst aufbauen, ist nun wirklich nichts Neues.
Klassischerweise folgten dem Terroranschlag auch die üblichen Rufe nach mehr Polizei, mehr Überwachung, mehr Gesetzen gegen “Haßverbrechen” und “hate speech”, wie man in den USA sagt. Und nicht zuletzt trifft wohl zu, was Alain de Benoist bemerkte, daß Frankreichs herrschende politische Klasse am meisten von dem Attentat profitiert hat. Hinzu kommt natürlich, daß emotional aufgeputschte und verängstigte Menschen leichter manipulierbar sind.
Die Atmosphäre in Paris ist seither von einer vagen Angst durchzogen, wie ich bei einem Besuch im Mai feststellen durfte. Überall gibt es Terrorkontrollen und Polizeipatrouillen. Allerdings haben mir ansässige Pariser auch erzählt, daß die Attentate eine ziemlich polarisierende Wirkung hatten. Viele Muslime haben sie offen abgefeiert und die Opfer und die Trauernden verhöhnt, während auf der anderen Seite viele liberale und assimilierte Muslime von Franzosen beschimpft und angefeindet werden. Davon profitiert natürlich vor allem Marine Le Pen, die man tunlichst aus den Gedenkfeiern und Beschwörungen der nationalen Einheit zu isolieren versuchte wie einen Grippevirus. Ich selbst besitze natürlich nicht das geringste Wissen über die Hintergründe und kann wie alle Welt nur spekulieren.
Aber jedesmal, wenn wieder eine Terrorgeschichte durch die Kanäle gejagt wird – und so erst überhaupt ihr Ziel der Verbreitung von Terror erreicht – und von entsprechenden Kampagnen begleitet wird, rate ich zu äußerster Skepsis und Zurückhaltung. Das gilt auch für die “Islamkritiker” unter uns, die sich nur allzu gern an ihren bevorzugten roten Knöpfchen drücken lassen.
Martin Lichtmesz: Ich bin nicht Charlie. Meinungsfreiheit nach dem Terror. Reihe kaplaken, Bd. 45, Schnellroda 2015, 96 S., 8,50 €.
Lichtmesz’ Autorenseite bei Antaios mit Werksverzeichnis.
Rabenfeder
Wenn mir ein (nebensächlicher) Kommentar zu Villons Gedicht gestattet ist, dann empfehle ich allen, die es noch nicht kennen, sich die "Lästerzungen" einmal von Klaus Kinski ausspeien zu lassen...
;)
https://www.youtube.com/watch?v=V-qxTn2kM9o