Ach, von wegen! Heute fuhren wir zum abendlichen Schwimmen an den Geiseltalsee. Bei unseren sonstigen Aktivitäten orientieren wir uns nicht in Richtung Mücheln, der nächstgelegenen Kleinstadt. Nachdem wir hierhergezogen waren, hatten wir schnell gemerkt:
Schnellroda war ein blinder Glücksgriff gewesen. Ob ein Ort hier „noch was taugt“ in punkto Lebensqualität, bemißt sich nicht an Regionen, sondern zeigt sich in den je einzelnen Dörfern und Städtchen, und zwar unabhängig von deren Größe. Schnellroda ist schön und lebendig, umliegende Dörfer sind es teils nicht. Unsere regionale Metropole Querfurt etwa kommt „gut gepflegt“ daher; in die andere Richtung, nach Merseburg, sieht es deutlich düsterer aus, von Weißenfels mit seinem jüngst abgerissenem Barockviertel und seiner ziemlich ausgetauschten Bevölkerung gar nicht zu reden.
Gut, also Mücheln, unser Badeort. Toller Stadtkern mit Wasserschloß, Barockgärtchen und frisch renoviertem Marktplatz; aber: hier liegt der Hund begraben. Braunkohlebau und andere Industrie ist nicht mehr, ein paar Alte sind geblieben. Die Kinder des badenden Volkes hören auf Namen wie Macy, Fuel (?), Jameston und Lyndon (vom Klang her notiert).
Bei wechselhaftem Wetter – heute – badet keiner, nur wir. Die Große kennt eine prächtige Pfefferminzstelle am See und will pflücken gehen – dort sind schon drei, vier andere. Dunkle. Immerhin!, sagt die Tochter, wer pflückt schon Minze, wenn´s die auch für 69 cent/20 Stk. als Teebeutel gibt? Aber da sind ja auf einmal überall diese Frauen! Mit dicken Bäuchen, mit Kinderwägen, mit kleinen Kindern, mit großen (die wiederum mit Handies), mit Kinderwägen! Man grüßt sich. Man erlaubt sich, nach der Herkunft zu fragen: „Kosovo.“ Man ist irritiert. Auf dem Weg zurück zum Auto zählt man 17 fremd ausschauende Menschen. Und keinen Deutschen!
Doch, dann halt doch. Dort an der Mauer zum Park, wo sie immer stehen, auch schon um halb neun früh. Jung, mitteljung, halbalt, männlich, aufgedunsen und traurig, mit dem Bier in der Hand und den aufgerissenen Sixpacks zu ihren Füßen. 17 zu 4. Und wir. Schlechtgelaunt bringen wir heute unsere Kinder zu Bett.
1.August 2015 – Eigentlich eine Fortsetzung des gestrigen Eintrags. Mann, irgendwie geht das alles recht schlagartig, oder sind´s Zufälle? Bringe eine Tochter zum Naumburger Bahnhof. Was ist da los? Wo sind wir? Träum ich? Die ethnische Lage stellt sich als 50/50 dar (letztere 50% als Vielvölkergemisch zu verstehen), das ist hier völlig ungewöhnlich. Ich habe rund 28 Jahre Erfahrung, in „durchrasster“ (Edmund Stoiber) Gesellschaft meinen Alltag zu verbringen, dennoch bin ich hier & heute völlig vor den Kopf gestoßen.
Neben uns am Bahnsteig braunhäutige Menschen, die sich in einer Lautstärke unterhalten, die selbst den Lärm einfahrender Züge plus Lautsprecherdurchsage übertönt. Die Sprechlautstärke wird auch nicht bei haltendem Zug und Verstummen der Lautsprecherstimme gedimmt. Ich schärfe meiner Tochter, abreisend in ein mittelfernes Land im Osten ein, daß man das als Gast niemals tut: sich ohne Not fremdsprachig in die Gehörgänge der Umstehenden einzuschrauben. (Sie nickt verständig, ich vertraue ihr.)
Nach dem Gewinke muß ich am Automat Fahrkarten für andere Kinder kaufen. Die 50/50 gefüllte Halle ist groß, etwa zwei Dutzend Leute darin. Auf dem Quadratmeter, auf dem ich stehe, halten sich, nachdem ich mit dem Tippen auf dem Bildschirm begonnen habe, plötzlich drei weitere Leute auf, tiefschwarz alle. Einem davon, einem Hünen mit rotgefärbten Locken, ist es offenkundig wurscht, daß seine Kleidung ständig meine berührt. Seine Stimme dröhnt fremd an meinem Ohr.
Ich komme mir vor wie eine hilflose Rentnerin, wie ich so meinen Geldbeutel fest umklammere, hektisch tippe. Ich versuche mich breitbeinig hinzustellen, aber der Typ ist im Weg. Einen Landsmann hätte ich längst angewiesen, mal Abstand zu halten. Aber den hier? Würde der mich verstehen? Ich überlege, die Geldbörse bis zum Zahlvorgang in meinem Stoffbeutel zu versenken. Nee, muß schon zahlen, ich werde ganz fahrig. Zwanzig Euro Restgeld spuckt der Automat in 50-cent-Stücken aus. Das Dauergeräusch läßt die Fremden verstummen, jetzt berühren dreierlei Stoff meine Arme. Ist Afrika so überfüllt, daß die es nicht anders gewohnt sind?!
Was, wenn ich laut um Distanz bitte? Kullert mir das Geld dann vor Aufregung auf den Boden? Wie reagieren die dann? Zum Glück erhält dann einer von denen breaking news auf sein Apparätchen, und ich hab Platz, den Automat zu verlassen.
Leider muß ich noch an den Schalter. Eine Gruppe aus drei hellen Schwarzen vor mir, Mann, Frau, Kind. Es ist kompliziert, „ohne Aufenthaltsstatus geht das leider nicht ohne weiteres“, höre ich die Frau hinterm Tresen. Ich halte genau den Abstand, der per Markierung auf dem Boden von mir gefordert wird. Ein recht weiter, europäischer Abstand.
Kommt ein vierter, Tiefschwarzer hinzu. Stellt sich vor mich. Kann kein Wort deutsch. Die hellschwarze Familie hat ihr Problem geklärt, ich signalisiere der Tresenfrau, daß ich dran bin, sie hat’s längst gesehen. Mit patriarchalischem Gestus gebietet mir der Hellschwarze, abzuwarten, bis er das Begehren des Tiefschwarzen vernommen hat (beide verständigen sich radebrechend auf französisch) und leitet den Auskunftswunsch an die Bahnmitarbeiterin weiter. Die zuckt entschuldigend mit Blick zu mir mit den Schultern, zieht den Fremden vor.
Mir wurde kein Leid getan. Es waren nur fünf Minuten Lebenszeit. Hätte ich mich durchsetzen sollen? Um welchen Preis? Den des häßlichen Deutschen? Man frißts in sich hinein, und man möchte speien.
3. August 2015 – Tochter: „Ich nehm mir echt vor, nicht mehr politisch zu diskutieren. Andererseits: es geht nicht. Beides geht nicht. Das Rumdiskutieren nicht, das ‘Dazuschweigen’ auch nicht.“ Eine Schulfreundin hat in ihrer (privaten) Kommune zwei syrische Flüchtlinge (männlich, jung) aufgenommen. Es seien tolle und tapfere Leute, die jetzt erst mal Erholung bräuchten.
Tochter: „Hm, aber doch interessant, daß die ohne Familie geflohen sind, oder? Wie kamen die eigentlich hierher?“ – „Na! Zu Fuß, und zwar die ganze Wegstrecke! Wenn du mich fragst, das sind Helden.“
Tochter: „ Ah. Von Syrien also exakt ausgerechnet nach Westdeutschland. Und die Eltern? Oder die Kinder? Die Frauen?“ – Freundin, eifrig-aggressiv: „Die sind natürlich mitgelaufen! Sind aber auf der Strecke geblieben!“ – „Also tot oder was?“ – „Weiß nicht, ob tot oder in irgendwelchen Lagern in anderen Ländern. Die haben es halt nicht geschafft. Meinst Du, ich frag da jetzt detailliert nach?!“
Tochter: „Na klar, nachfragen! Alles andere wäre Ignoranz, oder? Aber wenn jetzt in der Türkei oder in Serbien allerhand tote Syrerinnen rumlägen – davon hätte man schon was gehört, oder?“ – „Eben nicht. Die Medien verschweigen das.“ – „Warum sollten sie?“ – „Um Mitleid zu verhindern. Weil hier keiner das Leid der Flüchtlinge wahrnehmen soll.“
Tochter, entnervt: „Gut. Die Syrerinnen und die Kinder sind also, sagen wir, in türkischen Lagern. So ist es wohl. Und diese Männer, warum die nicht?“ – „Na, die werden die Familienmitglieder schon nachholen. Würdest du doch auch so machen.“ – „Nee, würd i c h ganz sicher nicht.“ – „Okay, glaub ich Dir sogar. Unsere Syrer streben das aber an. Würd fast jeder machen. Würd ich auch machen. Jeder Mensch hat ein Anrecht auf ein besseres Leben!“
Tochter: „Gut. Und welches Recht haben wir?“ – „Wer, ‚wir?´“ – „Na, wir Deutschen. Mach vielleicht mal die Augen auf, dann siehst Du, was hier alles im Argen liegt! “ – „Wir Deutschen [Freundin äfft], echt, also sorry, hier kann ich nicht weiter. Du hast ja immer bedenkenswerte Argumente, aber auf Rassismus laß ich mich nicht ein!“
Tommi
Man merkt, jetzt geht alles ganz schnell. Was wird in 10 Jahren sein? Ich mag nicht daran denken.