Wie Nagasaki und Hiroshima für die Japaner steht Dresden für das deutsche Volk als Symbol für das Leiden und Sterben der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen der deutschen und der japanischen Tragödie: Während die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki eine weltweite Bedeutung erlangt hat, blieb Dresden eine nationale Angelegenheit. Und im Gegensatz zu Dresden werden Nagasaki und Hiroshima bis zum heutigen Tag ins Feld geführt, um die moralische Legitimität der einzigen verbliebenen Supermacht in Frage zu stellen.
Kurz vor der US-Invasion des Irak erinnerte Nelson Mandela an die beiden Atombombenabwürfe und sprach den USA jegliches moralische Recht ab, den Weltpolizisten zu spielen: »Wenn es ein Land gibt, das auf der ganzen Welt unaussprechliche Greueltaten begangen hat, dann sind es die Vereinigten Staaten von Amerika. Menschenleben bedeuten ihnen nichts.«
Der bemerkenswerteste und deprimierendste Aspekt der nuklearen Bombardierung dicht bevölkerter Ziele ist die durchgehend rein pragmatische Haltung der Verantwortlichen. Wie Barton Bernstein, Professor in Stanford und Experte zu diesem Thema, 1995 herausstrich: »Vor Nagasaki und Hiroshima sahen die Regierenden im Gebrauch von Atombomben kein besonders großes moralisches Problem.«
Die Amerikaner waren seit dem Unabhängigkeitskrieg stolz auf ihre demokratischen Prinzipien gewesen. Daher erwartete die Öffentlichkeit auch während des Krieges, daß sich ihre politischen Führer für den Gebrauch der Steuergelder zu verantworten hatten, in weitaus höherem Maße als andere kriegführende Nationen. Bernstein schrieb: »Das Manhattan Project wäre als gigantische Geldverschwendung betrachtet worden, hätte man seine Effektivität nicht auf dramatische Weise durch den Einsatz von Atombomben unter Beweis gestellt.«
Als im März 1944 ein US-Senator versuchte, dem Zweck eines geheimen Zuschusses für das Kriegsministerium nachzugehen, wurde er angewiesen, seine Nase nicht in die Angelegenheiten von Generalstabschef George Marshall zu stecken. Kriegsminister Henry Stimson bezeichnete diesen Senator in seinem Tagebuch als »Quälgeist«, der »ziemlich vertrauensunwürdig« sei. Es handelte sich dabei jedoch um keinen Geringeren als Harry S. Truman, der später den Abwurf der Bomben befahl.
Wir sollten allerdings mit Truman nicht allzu streng ins Gericht gehen. Schon Franklin D. Roosevelt hatte geplant, Nuklearwaffen gegen Deutschland, Japan oder beide Länder einzusetzen, und als Truman im April 1945 seine Nachfolge antrat, war klar, daß man eine einmal angefertigte Bombe auch benutzen würde.
Als im Juli 1945 die erste Atombombe erfolgreich detonierte, befand sich Japan noch im Krieg, während Deutschland bereits kapituliert hatte. Obwohl Truman und seine Berater wußten, daß Japan früher oder später ohnehin kapitulieren mußte, setzten sie die enorm teure Waffe ein. Ob man die Bomben abwerfen sollte oder nicht, wurde schon nicht mehr diskutiert; es ging nur noch um das Wo.
Der fianzielle Aufwand zur Herstellung der Atombomben spielte bei der Entscheidung über ihren Einsatz in der Tat eine Rolle – nicht aber die Menschenleben, die der Abwurf erwartungsgemäß kosten würde.
Amerikanische Bomber unter dem Kommando von General Curtis LeMay, einem Zwillingsbruder im Geiste des britischen Luftmarschalls Arthur »Bomber« Harris, äscherten am 10. März 1945 nach dem Vorbild Dresdens Tokio ein. Dem Angriff fielen 100 000 Menschen zum Opfer. Dasselbe Schicksal erwartete in den kommenden Monaten die meisten japanischen Großstädte.
Als die Atombomben fertig waren, war Hiroshima eines der wenigen verbliebenen Ziele. Das ursprüngliche Ziel des zweiten Abwurfs, Kokura, wurde aufgrund der Wetterbedingungen verschont; an seiner Stelle wurde Nagasaki Opfer des bislang letzten Nuklearwaffeneinsatzes der Geschichte. Es ist eine tragische Ironie des Schicksals, daß die US-Besatzungstruppen nach dem Krieg enthusiastisch christliche Mission betrieben, wo doch Nagasaki in Japan einzigartig für seinen großen christlichen – katholischen – Bevölkerungsanteil war und bis heute ist.
Die totale Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki begann allerdings ziemlich rasch das Gewissen der amerikanischen Führungskräfte zu belasten, Truman eingeschlossen. Dennoch blieb etwa James Conant, Hochschulpräsident von Harvard und wissenschaftlicher Berater den Einsatz von Nuklearwaffen betreffend, auch nach dem Krieg ein eiserner Verteidiger der Entscheidung für die Bombe.
Der renommierte Chemiker wies die öffentlich geäußerte Kritik von Reinhold Niebuhr, einem der einflußreichsten Theologen seiner Zeit, in einem Brief scharf zurück: »Wenn sich die Amerikaner wegen des Abwurfs der Atombombe schuldig fühlen sollen, warum nicht auch für die Bombardierung Tokios und anderer Städte?« (Barton Bernstein).
Um das aufkommende schlechte Gewissen in der Bevölkerung zu zerstreuen, lancierte die Regierung unter Truman eine gut durchdachte Kampagne, die das Ziel hatte, die fatale Entscheidung zu rechtfertigen. Sie ging im wesentlichen auf das Konto von Conant und Stimson, der als hochrespektierter weiser Alter der amerikanischen Politik galt.
Im einflußreichsten Artikel der Kampagne, publiziert in Stimsons Namen, hieß es: »Mein Ziel war es, den Krieg siegreich zu beenden und dabei das Leben der Männer in unseren Armeen, die ich aufzustellen half, auf bestmögliche Weise zu schonen. Diese bewußte, vorsätzliche Zerstörung war die am wenigsten abscheuliche Wahl, die wir hatten.«
Dies war die Geburtsstunde des seither stetig wiederholten offiziellen Arguments, daß die Entscheidung, die Bomben abzuwerfen, »gewissenhaft abgewogen« worden sei, das Leben von bis zu 250 000 amerikanischen Soldaten gerettet habe und daher fraglos gerechtfertigt gewesen sei.
Dieses Argument ist weder logisch zwingend noch faktisch korrekt. Und selbst dann würde es die Massentötung von Zivilisten nicht rechtfertigen. Wenn wir es akzeptieren, dann müßten wir genausogut das folgende rhetorische Argument schlucken, das der libertäre Historiker Ralph Raico formuliert hat: »Als wir Anfang 1945 in Deutschland einfielen, dachten unsere Führungskräfte, daß die Exekution sämtlicher Einwohner von Aachen, Trier und anderen Städten im Rheinland den Wehrwillen der Deutschen brechen und sie zur Kapitulation zwingen würde. Auf diese Weise wäre der Krieg schneller zu Ende gegangen, und die Leben vieler alliierter Soldaten hätten gerettet werden können.« (Ralph Raico, Great Wars, 2010).
Trotz der gut orchestrierten Schadensbegrenzung nach dem Krieg äußerten viele politische und militärische Würdenträger ernsthafte Zweifel, ob der Einsatz von Atomwaffen gerechtfertigt sei, unter ihnen Dwight D. Eisenhower. Allerdings waren diejenigen, die Trumans Entscheidung später in Frage stellten, ziemlich inkonsequent, wenn sie sich nicht überhaupt selbst belogen.
Denn Conant hatte im Grunde völlig recht: Wenn Dresden und Tokio »erlaubt« waren, warum dann nicht auch Hiroshima und Nagasaki? Wenn es von Dresden bis Hiroshima weder quantitative noch qualitative Steigerungen gibt, und die amerikanischen Politiker dies genauso gesehen haben, ehe sie die Bomben abwerfen ließen, dann war der Rubikon schon lange vor dem pazifischen Kriegsschauplatz in Europa überschritten worden.
Denn der Unterschied zwischen dem Einsatz von Nuklearwaffen und konventionellen Waffen gegen zivile Ziele ist doch recht klein, und ob das Töten von Nicht-Kombattanten absichtlich oder »kollateral« erfolgt, ist lediglich eine Frage der Perspektive.
Marcus Junge
Sie schreiben Japan hätte früher oder später eh kapituliert. Ich hab einst gelesen Japan bot seit Sommer 1944 die Kapitulation an, sofern der Kaiser nicht angerührt würde. Das Angebot wurde im späten Frühjahr / frühen Sommer 1945 erneuert, von den USA aber immer abgelehnt. Erst als die Sowjets den Nichtangriffspakt mit Japan brachen (was bei Siegern ja nie verwerflich / böse / heimtückisch oder ein "Überfall" ist) und die jap. Armee auf dem Kontinent überrannten, da hatten es die USA ganz eilig mit der Annahme der jap. Kapitulation, zu den Bedingungen, die ihnen seit einem Jahr offeriert wurden.