aß ich eine dicke Gemüsesuppe aus Kohl, Rüben, Lauch und Zwiebeln, versalzen auf Wunsch, gegen die Krämpfe in den Beinen. Das Gemüse für die Suppe hatte der Wirt neben Gasflaschen, Wein und ein paar neuen Ziegeln für die frischen Sturmschäden am Schleppdach seiner Hütte mit Maultieren aus dem Tal an die Baumgrenze geschafft, weil es auf den schmalen Pfaden gar nicht anders geht. Als die kleine Karawane um die Mittagszeit an mir vorbeizog, sah ich, wie der Wirt mit seinem handy eine Nachricht verschickte, als sei dies ganz normal, weit oben in den Südkarpaten.
Denselben schroffen Gegensatz hatte ich in der Nacht zuvor erlebt, als ich mein Tagesziel erreichte: ein kleines Kaff, in dem nicht eine Lampe brannte, durch das ich nur stolpern konnte, so finster war es dort. Als ich dann die Tür zur Kneipe öffnete, fiel blaues Licht heraus, an vier Flachbildschirmen wurde im Internet gechattet: vielleicht mit irgendwelchen jungen Leuten, die aus dem Kaff am Fuße des Negoi, dem Kaff, in dem nicht eine Lampe brannte, nach Kanada geflohen waren, nach Deutschland, Frankreich oder in die USA.
Tags darauf traf ich einen der Chatter wieder, als ich das Dorf verließ und den Pfad in die Höhe fand: Er trieb vor mir die Büffel der Gemeinde auf eine Weide. Er pfiff dabei ein Lied und schien am abendlichen Blick ins Internet, am sekundenschnellen Flug durch tausend virtuelle Räume nicht allzu lange zu verdauen. Gleich erkannte er mich wieder, und wir zogen ein Stück gemeinsam weiter. Dann lagerte er sich im Schatten einer Mauer und wünschte mir viel Glück auf meinem Weg. Als ich nach einer halben Stunde noch einmal zurückblickte, sah ich ihn noch immer an der Mauer sitzen, und ich sah auch die kleine Karawane, die der Wirt führte und die mich in zwei Stunden eingeholt haben würde.
Nun speiste ich also in der Berghütte meine Suppe. Nach der Mahlzeit setzte ich mich auf eine Bank ins Freie, um zu rauchen. Aus dem Schatten eines Baumes löste sich ein alter Mann und sprach mich an, auf Deutsch, akzentfrei.
Was ich hier machte, fragte er, warum ich hier sei und wie mir Rumänien gefalle. Und dann entschuldigte er sich und sagte, sein Name sei Mihail.
Was wollte ich in Rumänien? Wandern, in Ruhe wandern, überhaupt: Ruhe. Pferdekarren, Sensen und Brunnenwasser, das war der Rhythmus, den ich mir gefallen ließ für einen Gang nach Innen. Ich wollte ein wenig nach verlorenen Dingen suchen.
Mihail, mit dem ich gleich ein Bier trank, verstand, was ich meinte, er verstand es so gut, daß er mich, indem er es von seiner Warte aus deutete, regelrecht entlarvte.
Mihail erklärte mir, daß meine Heimat schnell, glatt, durchorganisiert sei, und daß ich mich aus Überdruß in die Rustikalität und in das einfache Leben seiner Heimat stürzte, in ein Leben also, das in Deutschland so nicht mehr zu finden war.
„Aber du begegnest”, erklärte mir Mihail, „meiner Heimat inmitten eines großen Freiraums, den ich nicht kenne, und den kein Rumäne kennt. Du trägst drei mittlere Monatslöhne mit dir herum. Das macht frei. Und du weißt, daß du dieses Land wieder verlassen wirst. Das macht geduldig. Eigentlich nimmst du ein Bad, ein, zwei Mal im Jahr ein großes Bad. Du läßt eure schnellen Städte und eure lauten Berufe zurück und badest dich gesund in unserer Ruhe oder Anspruchslosigkeit oder: Rückständigkeit. Dir wird selbst das Warten auf den Bus zur erlebenswerten Gegenwart, weil du auf diesen Bus nicht angewiesen bist.”
Ich mußte ja sagen zu allem, was Mihail mir erklärte. Ich mußte ihm eingestehen, daß alles, was ich für echt hielt, künstlich herbeigeführt war. Wenn ich in einem Dorf bei Hermannstadt die beiden letzten Deutschen besuchte, einen Bauern und seine Schwester, und den beiden half, eine Wiese mit der Sense zu mähen oder ein paar Klafter Holz zu spalten: selbst dann lebte ich genaugenommen auf Kosten der beiden alten Leute, die ja gar nicht anders konnten.
Denn hätten sie das Geld gehabt für einen Rumänen und seinen Traktor, für einen Zigeuner und seine Hackmaschine, dann wäre die Wiese nach einer Stunde gemäht, dann wäre das Holz nach einem Tag geklaftert gewesen.
Und ich? Ich hatte dieses Geld und kam nicht auf den Gedanken, es für die Alten einzusetzen; ich bot statt dessen meine Studentenarme und war stolz, als man mich lobte, weil ich Stunde um Stunde mit dem Beil Stücke eines Eichenstamms ofengerecht hackte. Der Moment selbst: Er war stets so echt. Aber es mußte alles nicht sein. Aus der Distanz betrachtet: ein Spiel, ein Luxus, sogar ein wenig Selbstgefälligkeit.
Ich war beschämt, und Mihail sah mir das an und lachte und sagte „Prost”, und ich – nachdem ich einen Schluck getrunken hatte – betonte, daß ich eben jetzt sehr viel gelernt hätte. Dann fragte ich Mihail, woher er so gut Deutsch könne.
„Als junger Mann”, erzählte Mihail, „habe ich ein ganzes Jahr in Heidelberg verbracht, bloß um an dem Versuch zu scheitern, auch nur ein einziges Gedicht von Hölderlin – ich halte ihn für magisch – nach Klang und Sinn und Rhythmus ins Rumänische zu übersetzen. Andenken und Brod und Wein und ganz zuletzt wars das vom Blinden Sänger, dazwischen viele andere, die Titel habe ich mir nicht behalten.”
Ich sah, daß er nach einer Zeile suchte, die er vor mir zitieren könnte. Das war so wunderlich, so wenig naheliegend nach den paar Minuten, die wir im kalten Abendwind, im Schatten der Cabana, verplaudert hatten.
Doch ihm fiel keine Zeile ein. So fragte er mich, ob ich denn mit Andenken, Brod und Wein und Der blinde Sänger etwas anzufangen wüßte. „Lang lieb ich dich schon”, antwortete ich, „möchte dich mir zur Lust Mutter nennen und Dir singen ein kunstlos Lied, du, der Vaterlandsstädte ländlichschönste so viel ich sah.”
„Heidelberg”, sagte Mihail lächelnd.
„Eben”, sagte ich.
Dann erzählte ich, daß ich vor meiner Mahlzeit, vor der versalzenen Gemüsesuppe, an ein Regal getreten sei: die Bibliothek der Baude, und daß allein der Umstand mich begeistert habe, in dieser Hütte, in der doch alles leicht marode, in der doch alles so zufällig, auf kurze Frist, auf Abbruch hin gebaut und eingerichtet scheine, sich eine Büchersammlung finde.
Ein Buchregal mit Hunderten von Büchern, darunter auch ganz neue Sachen, und schon der dritte oder vierte Band, den ich aus einem der Regale zog, verleitete mich dazu, die ganze Sammlung Buch für Buch zu überfliegen: Es waren deutsche Bücher und amerikanische, kein Kitsch, kein Groschenheft, nur gut gebundenes, von Grass und Andersch, Hemingway und Updike, ohne Staub, gerade so, als würde ständig einer lesen. Was ich mich dann fragte, nachdem ich schon vor meiner Suppe saß, war, warum in keinem der Regale auch nur ein einziger Rumäne mit auch nur einem seiner Werke vertreten sei, noch nicht einmal das Dreigestirn, das nach dem Krieg im Ausland blieb: kein Eliade, kein Cioran und kein Ionesco.
„Und dieser Umstand ist”, so sagte ich, „bezeichnend für ein Land, das – wie aus einem ungewollten Schlaf erwacht – nun alles von sich stößt, was man das Eigne nennen kann, und alles ausprobiert, was aus der Welt der Freiheit stammt.”
Mihail nickte.
„Vielleicht jedoch”, schloß ich mit einem Lachen, „steckt in diesem Beispiel gar kein höherer Sinn, sondern bloß ein lustiger Zufall: Vielleicht nämlich hat der Wirt von einem Siebenbürger Sachsen, der das Land verließ, den ganzen Bücherschrank geschenkt bekommen und ihn nun dort, wo hin und wieder deutsche Wanderer vor einer Suppe säßen, zu deren Überraschung aufgestellt.
Mihail lachte nicht mit, er nickte nur und sagte, daß auch ein lustiger Zufall kein Zufall sei. Wer ein Zeichen für einen Zufall halte, lasse sich täuschen. Während ich darüber nachdachte, ob dieser Satz stimmen konnte, sah ich dicht unter dem Kamm ein Geröllfeld, das sich in eine Schafherde verwandelte: Ein paar Tiere zogen von der Weide zum Bach und dann hinüber, die anderen folgten nach und nach. Das Geröllfeld beulte sich und floß ab, und langsam glitt eine Perlenkette in ein grünes Futteral. Geröll sammelte sich auf der anderen Seite des Baches und häufte sich zur Nacht. Drumherum würden ein paar Köter schleichen, darunter eine Dogge mit gelblichem Fell.
„Was hast Du von Eliade gelesen”, fragte unvermittelt Mihail.
„Das Heilige und das Profane”, antwortete ich.
„Ich meine: von den Romanen?”
„Noch keinen”, antwortete ich.
„Ich empfehle Dir den Hundertjährigen”, sagte Mihail.
Als ich dann später in der Gaststube auf einer Holzbank meinen Schlafsack ausbreitete, dachte ich daran, wie seltsam die letzte Antwort war, die Mihail mir gab, bevor wir unser Gespräch beendeten und er hinter seinem Baum verschwand. Was er so mache, hatte ich gefragt, was er hier oben so mache.
„Schau genauer hin”, hatte er geantwortet. „Überfliegen reicht nicht.” In der Nacht brach ein Unwetter vom Berg her über die Hütte herein. Der Wirt rannte nach den Fensterläden, ich half, wo ich konnte, und dann saß ich beim Licht einer Petroleum-Lampe in der Gaststube und hörte Donner auf Donner gegen die Berghänge rollen: ein unausgesetztes Grollen, unterbrochen bloß durch harte Schläge, wenn die Blitze näher einschlugen.
Irgendwann wurde es stiller. Ich trat an den Bücherschrank, der von der Lampe nur sparsam ausgeleuchtet war. Nicht überfliegen, hatte Mihail gesagt. Und so schaute ich die Sammlung noch einmal gründlicher durch und stieß tatsächlich zwischen einer dreibändigen Kleistausgabe und einem Band moderner deutscher Erzähler tatsächlich auf ein Buch von Eliade. Es war Der Hundertjährige, in deutscher Übersetzung. Und weil ich gar nicht müde war, brühte ich mir in einer Blechtasse über der Flamme meiner Lampe einen starken Kaffee, setzte mich in meinen Schlafsack und begann zu lesen. Ich las den Hundertjährigen ohne abzusetzen, und als ich die letzte Seite gelesen hatte, legte ich das Buch beiseite und starrte in den Raum. Es dämmerte und ich nickte ein.
Der Morgen war neblig und kühl. Ich fröstelte, als ich mich von der Holzbank im Speisezimmer erhob und das Fenster aufstieß. Ich wusch mich am Brunnen, stellte das Buch zurück und rollte meinen Schlafsack ein.
Mich ärgerte das Geheimnisvolle oder Sonderbare an dieser Übereinstimmung, mich ärgerte, daß mich der Fund aufforderte, die abendliche Begegnung mit Mihail und den nächtlichen Fund im Regal in einen Zusammenhang zu stellen und diesen Zusammenhang auszudeuten. Warum stand gerade der Hundertjährige in dieser Sammlung? Warum nicht irgend etwas anderes von Eliade? Warum begann die Erzählung mit einem furchtbaren Gewitter? Ich wischte die Gedanken weg, der Morgen war nicht danach, mir war nicht danach, ich wollte wandern, wollte einen klaren, kühlen Aufstieg auf den Gipfel des Negoi, ganz ohne Verschiebung der Perspektive. Ich wollte meine Ruhe.
Ein rascher Kaffee, ein paar Kekse, ich trat vor die Hütte. Der Wirt ersetzte Ziegel und rief irgend etwas von der Leiter herunter, als ich meinen Rucksack schulterte und in den Pfad einstieg, der auf den Gipfel führen sollte. Die Steine und die freigespülten Wurzeln der letzten Bäume waren glitschig, die Luft war schwer und dunstig, die frühe Sonne kochte den nassen Boden aus. Weit oben sah ich die Schafherde auf dem letzten grünen Fleck lagern. Ich mußte dicht an ihr vorbeikommen, ich ging eigentlich ständig an irgendwelchen Schafen vorbei, seit ich wanderte.
Vor drei Tagen war ich auf dem Weg ins Gebirge am Ende eines langgestreckten Tals an einem Wald angelangt. Unter den wenigen vorgelagerten Bauminseln ruhte in der Mittagshitze eine Schafherde. Am Hang sah ich einfache Gatter, eine Schäferhütte, ein Wasserloch. Ich schlug einen Bogen, um den Schafen nicht zu nahe zu kommen, und erwartete das Gebell anstürmender Köter. Doch es blieb ruhig.
Ich sah die Schäfer erst, als ich zwischen die Bäume trat. Für den Weg durch den Wald schloß sich mir einer von ihnen an, er sprach Deutsch, weil er bis zur Wende als Angestellter einer LPG gearbeitet und seine Ausbildung in der DDR abgeschlossen hatte. Im Dorf hatte man mir erzählt, daß erst gestern Wölfe zur Mittagszeit in die ruhende Herde eingebrochen wären. Der Schäfer hatte den Kampf mit den Wölfen miterlebt. Die panische Herde sei in den Wald gestoben und hätte zwei Opfer zurückgelassen. Von den mittagsschläfrigen Hunden, die von den Schäfern in einen Angriff geprügelt wurden, sei einer mit zerbissener Kehle am Abend erst verendet, den Kopf in einer Pfütze. Ich hatte ihn noch liegen sehen, als ich die Herde umging.
Als ich die Frage bejahte, ob ich Schaffleisch gerne mochte, schlug mir der Schäfer eine Spezialität vor, die ich bei ihm zu Hause kosten und erwerben könnte.
„Du nimmst ein Milchlamm, das gerade bei seiner Mutter getrunken hat, wirklich gleich danach, und erschlägst es. Du nimmst ihm den Magen und legst ihn in ein Bett glühender Kohlen, wendest ihn, bis er durchgebraten ist. Stich den kleinen Magen an, es darf keine Milch daraus tropfen. Sie ist zu Käse geworden und du kannst den Magen in Scheiben schneiden.”
Aber ich wollte nichts von diesem Milchmagen. Wir trennten uns in seinem Dorf, das im Tal hinter dem Wald lag. Nur einer seiner schielenden Köter lief mir ein Stück nach und trollte sich erst, als der Schäfer zum dritten Mal pfiff und einen Stein nach ihm warf.
Auch jetzt, als ich der Herde im Gebirge näherkam, hoffte ich auf einen Schäfer. Ich hatte Angst vor den Kötern, die bei der Herde lagerten. Das waren keine Schäferhunde, wie ich sie aus Deutschland kannte: abgerichtet, folgsam, wachsam. Das war eine Meute, das waren fünf, zehn, manchmal noch mehr struppige Beißer, die nur deshalb bei der Herde blieben, weil man ihnen ab und zu ein schwaches oder krankes Schaf zutrieb.
Immer wieder hatte mich der deutsche Bauer, bei dem ich aushalf, vor diesen Kötern gewarnt, vor allem am Morgen noch, als ich aufbrechen wollte. Da trat ich früh in seine kleine Küche, das Feuer brannte schon, der Bauer selbst war im Stall, um seinen Büffel zu melken. Ich setzte Milch vom Vortag auf und schnitt Brot hinein. Auf dem Tisch lagen Brot, Speck, Zwiebeln, Käse und Paprika für meine Wanderung. Der Bauer begleitete mich ans Tor.
„Den Stock da nimmst du mit. Und achte auf die Hunde bei den Herden. Den Schärfsten binden die Schäfer ein Querholz vor die Läufe, das soll sie unbeweglich machen. Im Zweifelsfall aber hindert sie das an gar nichts.”
An diese Warnung dachte ich, als es heranbellte. Ich stand nach einem schmalen Durchstieg mitten in der Herde, die zu beiden Seiten des Trampelpfads weidete. Der erste Köter sprang von rechts vorne an, die Lefzen bis übers Zahnfleisch gezogen, und er sprang genau in meinen Hieb. Er blieb benommen neben dem Pfad liegen. Drei andere stießen kehlig vor und zurück, aber mein Stock hielt sie fern. Dann tauchte eine Dogge mit gelblichem Fell auf, der ein schweres Querholz an einer Kette bei jedem Schritt gegen die Gelenke schlug. Doch verhinderte dies nicht den Angriff. Der kam wie beiläufig, weil die Dogge den eiligen Gang nicht verzögerte oder in einen Sprung münden ließ; sie trabte in mich hinein und ich schlug ihr Maul aus meiner Richtung. Sie warf sich herum, schnappte und verbiß sich in meinen Stock.
Dann endlich kam der Schäfer. Mit drehenden Schritten und sieben Schalen unter seinem Umhang trat er hinter einem Felsen hervor und verjagte mit Steinen und Flüchen seine Hunde. Die Dogge gab erst auf, als ihr der Hirtenstab in den Nacken krachte. Sie lagerte sich mit ihrem Rudel abseits.
Der Schäfer stand vor mir, es war Mihail. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu plaudern, ich hatte eine maßlose Wut, und als er zu lachen begann, setzte ich meinen Weg fort. Er holte mich ein.
„Nein, Nein” sagte er. „Du hast ja recht. Das war gefährlich. Das war unverzeihlich von mir. Komm, setz Dich her, die Nacht war schrecklich, ich bin froh, Dich zu sehen.”
Jetzt erst fiel mir ein, daß Mihail das Gewitter bei seinen Schafen verbracht haben mußte. Ich dachte an den Hundertjährigen, als ich in sein Gesicht blickte und übermüdete Augen sah.
„Jünger bist Du jedenfalls nicht geworden”, sagte ich. „Außerdem ist nicht Osternacht, sondern Hochsommer, und soweit ich verstanden habe, muß einen der Blitz in der Osternacht erwischen.”
„Du hast das Buch gefunden”, sagte Mihail zufrieden. „Und Du hast es gelesen. Ich dachte an Dich, als ich heute nacht versuchte, die Hütte zu erreichen. Aber es war zu gefährlich. Also habe ich mich wieder zwischen den Felsen verkrochen und ein paar Gedichte gebrummt.”
„Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, / Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen, / Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigener Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.” „Wieder Hölderlin”, sagte Mihail zufrieden. „Wie heißt das Gedicht?”
„Mir fällt es nicht ein”, sagte ich. „Jedenfalls hast Du nach einer solchen Nacht wieder eine Geschichte mehr zu erzählen.”
„Ich habe Dir ja noch nicht einmal meine beste erzählt. Kennst Du die Miorita, die Geschichte vom kleinen weissagenden Lämmchen?”, fragte Mihail. „Komm, ich erzähle sie Dir. Ich erzähle dir eine Geschichte über uns Rumänen. Jeder hört sie in der Schule. Jeder fühlt, daß er so ist wie der gute Schäfer in der Geschichte. Wir spüren, obwohl wir längst anders sind oder anders sein wollen, daß wir so sind wie der gute Schäfer.”
Mihail bot Schnaps aus einer alten Plastik-Wasserflasche an. Ich nahm meinen Rucksack auf und stieg voran. Mihail begleitete mich. Und während wir höher und höher stiegen, erzählte er mir die Geschichte vom guten Schäfer:
„In einem schönen Tal im Vorland der Karpaten lebten drei Schäfer. Sie kannten einander von jung auf und führten ihre Herden friedlich auf die Hänge über dem Tal. Einer aber war geschickter als die anderen beiden, fleißiger wohl auch. Jedenfalls gedieh seine Herde prächtig und er wurde ein reicher Mann. Das weckte den Neid der beiden anderen. Sie blickten Tag für Tag auf den Reichtum ihres Freundes und waren bald bereit, ihn umzubringen und seine Habe aufzuteilen.
Eines Tages trieb der gute Schäfer seine Herde ganz in die Nähe der beiden Freunde, um wieder einmal Geschichten auszutauschen und Neuigkeiten zu erfahren. Dabei hörte das Lieblingsschaf des guten Schäfers die anderen Schafe von dem bevorstehenden Mord sprechen. Es eilte zu seinem Herrn und berichtete, was es vernommen hatte.
Der gute Schäfer nahm daraufhin seinen schweren Wanderstab und zog mit seinem Lieblingsschaf ins Gebirge. Bald erreichten sie einen Felsvorsprung, der von einer großen Kiefer beschattet wurde. Unten rauschte das Wasser zu Tal.
Dies, sagte der gute Schäfer, ist meine Heimat, mein Land. Sieh die hohen Berge. Sieh das Wasser, die Kiefer, den Fels. Sieh mein Dorf und meine Herde, die wie Geröll am Hang liegt und auf meine Rückkehr wartet. Alles, der Wind und der Regen und das Schilf in der heißen Sonne, wartet auf meine Rückkehr.
Und der gute Schäfer stand lange versunken in den Anblick seiner Heimat. Weil ich aber bald sterben soll, sprach er zu seinem Lieblingsschaf, merke dir diese Stelle. Hier sollen mich meine Mörder begraben, und sie sollen meine Flöte in die Zweige hängen.
Und der gute Schäfer wanderte den Weg zurück zu seiner Herde. Ihm folgte verzweifelt sein Lieblingsschaf.”
Die Geschichte war zu Ende. Mihail sah mich an. Er hatte gut erzählt. Aber er war noch nicht fertig.
„Im Schäfer, der für eine letzte Nacht zurück zu seiner Herde geht, liegt der Grund für alles, was in unserem Land so seltsam ist. Nur Rumänien konnte einen Stümper wie Ceaucescu so lange und widerstandslos ertragen. Uns ging es
schlechter als allen anderen in Europa, von den Albanern abgesehen. Aber wir haben nichts dagegen unternommen. Im Winter: vierzehn oder sechzehn Grad in den Wohnungen, ab den frühen Achtzigern wieder Lebensmittelkarten, aber kein Aufstand. Warum? Es liegt an dem Schäfer, der nicht mit dem Messer in der Hand auf seine Freunde lauerte. Es liegt daran, daß unsere Vorfahren keine Burgen gegen die Türken bauten. In den deutschen Dörfern Siebenbürgens stehen Kirchenburgen, die niemand je eroberte, obwohl das Dorf drumherum ein Dutzend Mal bis auf die Fundamente niedergebrannt wurde. Die Kirchenburg wurde nicht erobert, weil eure Erzählung nicht von einem Schäfer auf dem Heimweg handelt, sondern von einem Ritter, der Drachen tötet und bis zu seinem Tod gegen die Hunnen kämpft.”
„So ungefähr”, sagte ich.
„Wie hieß dieser Held?”
„Siegfried hat den Drachen getötet, Hagen in Etzels Saal bis zur Erschöpfung gekämpft. Sie heißen: die Nibelungen. Aber: Hagen hat Siegfried hinterrücks mit dem Speer durchbohrt.”
„Hätte Siegfried sich gewehrt, wenn er gewarnt worden wäre?” fragte Mihail.
„Ja, er hätte sich gewehrt. Er hätte Hagen erschlagen.”
„Es ist nicht nur der einfache Unterschied zwischen aktiv und passiv. Ich glaube, es ist etwas Religiöses: Wir Rumänen sind Fatalisten, wir versuchen nicht, auf Teufel komm raus unser Schicksal zu ändern. Wir geben uns dem Lauf der Dinge hin, das ist wohl ein sehr weiblicher Zug. Die Taktik unserer Dörfer auf der anderen Seite der Karpaten war nie die einer Burg. Man wich in die Wälder aus, man ließ den Feind wüten und wich in die Wälder aus.”
„Was daran ist religiös?”
„Warst du schon in einem orthodoxen Gottesdienst? Das sind drei Stunden Liturgie, Weihrauch, Gesang, und die Menschen träumen sich in Gott hinein, fallen in einen Schlaf des Aufgehobenseins, der willenlosen Geborgenheit, während in der evangelischen Kirchenburg der Pastor das Wort auszulegen hat, eine Lehre zieht, eine Handlungsanweisung gibt, ein religiöses Bewußtsein schafft. Das ist schon der ganze Unterschied: Der Traum kommt über mich, Ziel und Beharren setzen ein Bewußtsein voraus. Verwandle dich in einen Vogel – oder bau eine Burg.”
„Und wenn es doch noch etwas anderes ist: beispielsweise die Fähigkeit, im richtigen Moment in ein neues Gewand zu schlüpfen?”
Jetzt dachte Mihail eine Weile lang nach.
„Warum bist Du Schäfer geworden?”, fragte ich.
„Weil es mir nicht gelang, ein Hölderlin-Gedicht zu übersetzen”, sagte Mihail.
Wir verabschiedeten uns am Grat, dem ich nun eine Stunde bis zum Gipfel des Negoi folgen würde. Eine Wetterfahne knatterte.
„Sprachlos im Wind klirren die Fahnen”, sagte Mihail. „Das ist mir heute nacht wieder eingefallen. Übersetzen kann ich es immer noch nicht, und ich versuche es auch gar nicht mehr. Aber wer weiß, wann einen der Blitz trifft? Dann war die Hälfte des Lebens doch nicht die Hälfte …”
Und er rief, als ich schon weiter war: „Hier oben gibt es keine Köter!” Dann verschwand er zwischen den Felsen.