die Europa gegenüber den illegalen Zuwanderermassen angeblich hat, beschworen. Wenig Erhellendes aber ist im Hinblick auf die Ursachen zu lesen, sieht man einmal von den vagen Hinweisen auf den Bürgerkrieg in Syrien, Not, Elend und Verfolgung ab. Dieser Befund ist deshalb erstaunlich, weil nur dann, wenn die Ursachen klar benannt werden, effektive Gegenmaßnahmen ergriffen werden können.
Auch auf nationalkonservativer Seite ist das Interesse an den Ursachen nicht sonderlich ausgeprägt; hier liegt das Interesse in erster Linie darin, diese Massen schnell wieder loszuwerden oder gar nicht erst ins Land kommen zu lassen, soll Europa nicht vollends seine Identität verlieren. Diese Hoffnung wird, dazu bedarf es keiner allzu großen Vorstellungskraft, eine Illusion bleiben.
Es soll an dieser Stelle deshalb darum gehen, möglichen Ursachen in gebotener Kürze nachzuspüren. Einsetzen möchte ich bei einem Interview, das Entwicklungsminister Gerd Müller Ende April der Welt am Sonntag gegeben hat:
Müller erklärte in diesem Interview unter anderem, daß Europa Afrika „viel zu lange mit ausgebeutet“ habe, daß es Zeit werde, den „afrikanischen Produzenten faire Preise“ zu zahlen, und daß sich die Marktverhältnisse ändern müßten. Europa, so Müller, gründe seinen Wohlstand auf der „Ausbeutung Afrikas“.
Erstaunlich an diesem Interview bleibt, daß diese Worte von einem CSU-Politiker stammen und nicht von einem Exponenten der politischen Linken. Die Umstände der „Ausbeutung“, die Müller im Auge hat, sind allerdings erläuterungsbedürftig. Ausgangspunkt waren in den 1980er Jahren Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF), die die Entwicklungsländer drängten, ihre Märkte für Agrarprodukte aus aller Welt zu öffnen. Die Liberalisierung des Agrarhandels, so deren Propaganda, schaffe Wohlstand. Es trat dann das ein, was zu erwarten war:
Die afrikanischen Märkte wurden mit Billignahrungsmitteln aus dem Westen überschwemmt und die heimischen Erzeuger mehr und mehr vom Markt gefegt. Das ist dramatisch für einen Kontinent, auf dem ca. 60 Prozent der Bevölkerung von Landwirtschaft leben. Verschärfend kam in der Folge die Agrarpolitik der EU hinzu, die lange Zeit mit hochsubventionierten Nahrungsmitteln eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzte, die heimische Anbietern keine Chance ließ.
Die subventionierten Fangflotten der EU (insbesondere aus Spanien) fischten obendrein die reichen Fischgründe vor der westafrikanischen Küste ab. Den einheimischen Fischern ist so gut wie nichts mehr geblieben. Zwar versucht die EU seit einiger Zeit, immer gebremst von der einflußreichen Agrarlobby, ein wenig gegenzulenken; dazu ist es aber längst zu spät: Vielen Fischern und Bauern ist bereits die Existenzgrundlage entzogen worden.
Hinzu kommen nun illegal fischende Trawler aus China, Rußland oder anderswo, die den Fischgründen den Rest geben. Tetteh Hormeku vom Netzwerk Dritte Welt hat diese Vorgänge selbst erlebt; in einem Bericht der in Oxford ansässigen Hilfsorganisation Oxfam wird er wie folgt zitiert: „Ich komme aus einem kleinen Fischerdorf in Ghana. Meine Familie hat ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei verdient, aber die Fischerei ist unmöglich geworden, seitdem größere europäische Fischereiflotten gekommen sind und unsere Meere leer gefischt haben. Ähnliches ist bei Geflügel passiert. Importe von tief gekühlten Hähnchenflügeln aus der EU haben den lokalen Markt zerstört.“
Die Pirogen im übrigen, mit denen die Westafrikaner mit archaischen Methoden auf Fischgang gehen (oder besser gingen), werden nun, da es kaum mehr Fische zu fangen gibt, an Schlepper verkauft.
Die Auswirkungen der Politik von IWF, Weltbank und EU müssen im Gesamtbild gesehen werden, in das auch einzugehen hat: Die Auswirkungen des „Land grabbing“, also des Ankaufs großer ertragreicher Agrarflächen durch internationale Konzerne, was in etlichen Ländern Afrikas den Zugang zu Nahrungsmitteln zumindest erschwert, wenn nicht dramatisch verschärft hat.
Und natürlich ist auch, mit Blick auf den Mittleren Osten, auf die destabilisierenden Auswirkungen westlicher Interventions- und Destabilisierungspolitik (Irak, Libyen, Syrien etc.) zu verweisen, deren seismische Erschütterungen bis tief in den afrikanischen Kontinent reichen. In diesem Zusammenhang sei pauschal auf das Büchlein „Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet“ (München 2015) des Islamexperten Michael Lüders verwiesen, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt.
Um hier keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Das alles spricht die vielfach korrupten „Eliten“ Afrikas, die in erster Linie in ihre und die Taschen ihrer Clans wirtschaften, in keiner Weise von ihrer Verantwortung frei (sofern sie dieses Wort überhaupt im Vokabular haben). Ein Armutszeugnis ist auch das weitgehende Schweigen der sogenannten Afrikanischen Union (AU), die außer Schuldzuweisungen an den Westen nichts Erhellendes zum beispiellosen Massenexodus auf ihrem Kontinent zu sagen weiß.
Dennoch wird man dessenungeachtet nicht um den Befund herumkommen, daß der Westen ein Gutteil an Mitverantwortung für die nicht enden wollenden Migrationsströme trägt. Mit der Errichtung von Mauern oder der Wiedereinführung von Grenzkontrollen werden sich die tiefgreifenden Verwerfungen, die Auslöser des Massenexodus sind, nicht eindämmen lassen. Die doktrinär durchgesetzte Freihandelspolitik – die mit Blick auf Afrika vor allem dem Westen Vorteile verschafft hat – wendet sich nun in dramatischer Art und Weise gegen die Wohlstandszonen in Europa.
Entwicklungsminister Müller, auf dem ich an dieser Stelle noch einmal zurückkommen möchte, hat schon recht, wenn er feststellt, daß das „alte System vom reichen Europa und dem armen Afrika“ keine Zukunft habe. Über den Markt könnten, so Müller, Milliardensummen nach Afrika geleitet werden, „ohne daß das unseren Wohlstand in Europa schmälern würde“.
Diese Milliarden wären, auch mit Blick auf das stark steigende Bevölkerungswachstum in Afrika, gut investiertes Geld gewesen. Bis Ende des Jahrhunderts sollen 4,4 Milliarden Afrikaner knapp 650 Millionen Europäer gegenüberstehen. Es steht aber zu befürchten, daß diese Option – wer hat sie bisher im übrigen überhaupt als eine solche erkannt? – verpaßt wurde.
Nun werden Milliarden und Abermilliarden für die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlingsströme (und möglicherweise auch für deren „Integration“) investiert, ohne daß sich an den Ursachen etwas ändert – oder besser: ohne daß man deren wirkliche Ursachen zur Kenntnis nimmt. Bleibt das so, reißt der zerrissene Kontinent Afrika auch das „alte Europa“ mit in die Tiefe. Die Indizien dafür mehren sich auch in Deutschland und Österreich.
Philip Stein
Ungeachtet der möglichen Richtigkeit Ihrer Beschreibung, Herr Wiesberg, so möchte ich Ihnen doch eine Frage stellen: Was ist die Schlussfolgerung aus Ihrer Darstellung? Sollen "wir" die afrikanische Wirtschaft, so es sie überhaupt gibt, durch Subventionen aus dem Boden stampfen? Oder wollen Sie lediglich Transferleistungen vorschlagen? Die Ausbeutung, die es fraglos gibt und gab, sofort beenden?
Ich finde Ihre Analyse interessant. Doch wie weiter? Was ist Ihre Konsequenz?