Das Tagebuch ist eine verführerische Textform, weil es dem Autor zweierlei erlaubt und dem Leser eines vorspiegelt: Der es schrieb, kann ergänzen oder streichen und eine Druckfassung vorlegen, die dem, der sie liest, dennoch authentisch vorkommt. Germanisten lernen mit den Lesarten derlei Textentstehung umzugehen, und sie werden in ein paar Jahrzehnten auch die vollständige Urfassung beispielsweise jener Notate Ulrich Schachts philologisch durchleuchten dürfen, deren Auswahl aus den Jahren 1983 bis 2011 nun erschienen ist.
Schacht ist sicher einer der moralisch redlichsten Schriftsteller, die derzeit an der Arbeit sind. Er kam im Frauengefängnis Hoheneck/Stollberg zur Welt, saß als Dissident in Haft und schrieb gegen linke Utopien und Verbrechen an. Schacht gilt zu Recht als unbestechliche, antitotalitäre Instanz. Die Lage der Nation ist sein Thema, er dekliniert es durch: vom 11. Januar 1983 (»Zwei Nationen in Deutschland? Wer das durchhalten will, muß bereit sein, ein Idiot zu werden«) über den 28. Mai 1991 (»Die Nation ist nichts Heiliges, gewiß; aber sie ist etwas Wesentliches«) bis zum 3. September 2011 (»Die Nation ist kein Konstrukt von Theoretikern vor jeder Empirie, vielmehr ist sie eine realitätsgesättigte Ableitung daraus«) – um nur drei von vielen Textstellen zu nennen.
Beseelt ist er ab dem 9. November 1989, wenn auch nur für eine kurze Spanne: Die Mauer fällt, »alle Träume waren schamlos sinnvoll. Alles Durchhalten hat in diese Zielgerade geführt: Deutschland hat Gnade vor der Geschichte erfahren.« Und weiter: »Kein Hauch von Rachsucht durchzog mich«, das Werk der Aufarbeitung will angegangen sein: »Nicht hämisch oder gar triumphierend; wohl aber genau, präzise, nichts auslassend.« Das ist nicht hart gesagt, sondern so, als sei es selbstverständlich.
Aber da dieses Unterfangen nicht selbstverständlich war und scheiterte, notiert Schacht über den Verlauf der Jahre seine Suche nach einer Ruhe, einer Ankunft: am Ende ist es Schweden, und ein heiles Haus auf einem wohl traumhaften Stückchen Land. Darüber und über die Liebe zum Licht, zum Norden, zum Schnee, zur Kälte handeln die Notate eines unbeirrbaren, sehr belesenen Mannes, der kämpfen mußte, obwohl er auf einen milden Grundton gestimmt ist.Zu einem besonderen Kampf allerdings fehlen die Notate: Einmal hat Schacht in die Restituierung der Würde der Nation direkt einzugreifen versucht. Das weiß, wer sich mit der Geschichte der »Neuen demokratischen Rechten« um Rainer Zitelmann, Heimo Schwilk und eben Ulrich Schacht beschäftigt hat: Diese Publizisten bekamen in den frühen Neunzigern – jener Phase einer Wende-paralysierten Linken – sowohl in der Welt als auch im Ullstein-Verlag Machtpositionen in die Hand.
Schacht war unter anderem Mitherausgeber des Sammelbandes Die selbstbewußte Nation, gegen den das Feuilleton geradezu panisch Sturm lief. Indes: Über diesen Kampf um rechtsintellektuelle Vorposten findet man in den Tagebüchern des Kombattanten Schacht kein Wort. Er hat sie aussortiert für diese Veröffentlichung, kein Zweifel: Schacht überspringt einfach jene Monate und Ereignisse, die für uns besonders interessant wären. Nun hoffen wir, daß dereinst die vollständige Fassung für die Forschung freigegeben wird.
Ulrich Schacht: Über Schnee und Geschichte. Notate 1983–2011, Berlin: Matthes & Seitz 2012. 335 S., 22.90 €.