Es liest sich an den Inhalten, mehr noch an der Sprache ab. Diese hier tanzt nicht, turnt nicht, sitzt zurückgelehnt und bevorzugt den Plauderton. Sogar der Humor lächelt gemächlich.
Ulrich Schachts Texte klingen altersweise (nicht ‑milde!), und man hört zu, wie man einem honorigen Herrn zuhört – geduldig, höflich und ohne zu unterbrechen. Da sitzt der Autor in seinem Prager Lieblingscafé, blickt über die Moldau zum Hradschin, genießt Chardonnay, denkt über Absinth nach und raucht. Dieser behagliche Moment wird zum Anlaß, eine Verbindung zu konstruieren zwischen dem Prager Frühling und dem Widerstand gegen das EU-Rauchverbot: »Heute sitzen, ging ich den eingeschlagenen Gedankenweg weiter, die neuesten alternden Revolutionäre zwar weit im Westen, kurz vor dem Ärmelkanal, aber daß in den Restaurants zu Prag noch immer blauer Dunst aufsteigen darf, treibt sicherlich ganze Kommissariate in der Welthauptstadt des Allerneusten Menschen um, in unzähligen Sitzungen zu prüfen, wie man dieses Mal das interventionistische Theorem von der begrenzten Souveränität im Falle Prags anwenden könne …«
Und während man nachsinnt, ob die Invasion der Sowjets und die EU-Bürokratie stimmig zu vergleichen wären und ob solch syntaktische Umständlichkeit gute Literatur ist, zieht der Autor an der Zigarre und erledigt gleich noch den arabischen Frühling, weil er sich sicher ist, der ginge unausweichlich den Weg der iranischen Revolution, hält eine Laudatio auf Vaclav Klaus, der nur die tschechische, nicht aber die EU-Fahne dulde, und wettert gegen die »Wetterapokalyptiker«, die Hysterie verbreiten würden, diese »Priesterkaste der Klimaerwärmungskirche (…), begleitet von schaummauligen Tetzeln, die auf den medialen Marktplätzen dem wohlgenährten Dummvolk die Sündenregister herunterbeten und die große Kehre einfordern, die darin besteht, die Dächer mit vergifteten Sonnenkollektoren zu bepflastern …« Als Suada beachtlich, als Erzählung bemüht.
Der Autor geht lieber shoppen, fidet aber in einem Antiquariat prompt Feuchtwangers Moskau 1937, diese unselige Ehrenrettung des Stalinismus, zitiert daraus das Übelste und erregt sich erneut, bis das Kapitel in einem Absinth-Geschäft verdämmert. Recht großkalibrig, denkt man. Ginge es nicht subtiler? Vor allem: Das ist weniger Prosa als Vortrag, Polemik, Geschichtsdidaktik. Anderes bleibt seltsam, gewinnt aber keine Kraft: »Am Abend las Gregor S., ein Dichter aus den Weiten des Nordens, in einem Schloß an der Grenze zum Böhmischen …« So beginnt Schachts Die Verwandlung. Man erwartet sich also – zumal wegen Gregor S(amsa)! – eine Portion Kafka, wird aber mit einer seltsamen Metamorphose hingehalten, die der »Dichter« aus Erregung während seines Vorlesens durchmacht.
Überhaupt wird wenig erzählt. Der Autor sinniert eher und formuliert Gedankenprotokolle, in denen er sein Weltbild ausbreitet. – Im ersten Abschnitt des Buches aus der Perspektive seines schwedischen Wohnsitzes. Man lebt bewußt im Abseits, das Interieur wie von Carl Larsson gemalt, umgeben von aufgeschlossenen Nachbarn, allesamt intellektuell, ein bißchen berühmt, gut essend, noch lieber gut trinkend – ein geistreiches Milieu, in dem man miteinander spricht, kocht, denkt und in langen Symposien alles vertieft. Damit dieser skandinavische Friedens nicht zu statisch gerät, werden Kontraste eingezeichnet. Ein totes Rehkitz in der Idylle. Eine geheimnisvolle alte Frau, die sich als deutsche Emigrantin erweist, Goethe liebend und Schiller, Selma Lagerlöf gar noch persönlich kennend, allerlei Geistesgrößen bibliophil und in Bildern versammelnd. Ferner eine Gräfin im Pflegeheim, wieder Emigrantin, die auf ein Paar ungarischer Exilanten hinweist, er von den Sowjets verfolgt, sie als Jüdin vorher von den Nazis. Die Nummer am Arm blitzt auf. Schicksal über Schicksal im schwedischen Schnee.
Einmal führt ein Stromausfall auf der Bahnstrecke einen Wahlschweden mit einem echten und einem Niederländer zusammen, und man parliert über Geschichte und Nationen, über Olof Palme, den Fall der Grenzen, die Globalisierung und den Vorteil der Monarchie. Was der Autor pointiert darzustellen meint, was gar als politische Weisheit intendiert wird, das wirkt über die zahlreichen Längen oft behäbig, banal und mitunter gar selbstgefällig. Sicher, es geht um tiefe Lotungsversuche. Wenn der Autor ins Mausoleum unterm Roten Platz hinabsteigt, eine dantesk colorierte Reise, die auch Stalin, den »Höllenhund aus Gori«, aufruft und das tragische Schicksal der Lyrikerin Zwetajewa. Der Ich-Erzähler verharrt als Sieger der Geschichte vorm Glassarg, darin der »Diabolus« Lenin.
Im dritten Teil nach Paris, schöner Jugenderinnerungen voll, eher in Dur, dann nach Venedig, der Serinissima, eher in Moll. Stets assoziierend, deutend und jede Impression mit Bedeutungen aufladend, selbst das, was wenig hergibt. Man versteht das aus Ulrich Schachts traumatisierender Erfahrungen mit dem DDR-Sozialismus. Man versteht es kontextuell, kann es nur nicht durchweg literarisch genießen.
Ulrich Schacht: Kleine Paradiese. Erzählungen. Berlin/Hörby: Edition Rugerup 2013. 184 S., 17.90€.