Ein ganz anderer Kopf als Schacht ist Peter Sloterdijk. Er hat im Vergleich zu ihm sozusagen kein historisches Schicksal durchleiden müssen. Wo Schacht biographisch gebannt ist, haben wir es bei Sloterdijk mit einem jener intellektuellen Vorreiter zu tun, die nichts aufarbeiten müssen, sondern in einer Mischung aus Überdruß und Luzidität den Zeitgeist kommentieren.
Sloterdijk kann das glänzend, vielleicht sogar wie kein zweiter: Er zerlegt linke Ikonen, Glaubenssätze und Phrasen in ihre Einzelteile, ohne rechts zu sein.
Über die »Mannschaft um Adorno« heißt es am 27. März 2009, kaum jemand habe damals bemerkt, »was diese Akteure sich erlauben konnten, moralisch gedeckt durch ihren Opferstatus, intellektuell gesichert durch ihre Stellung auf den Kommandohöhen von Theoriekonstrukten, deren Schwächen man sich erst viel später zu bemerken gestattete.« Oder die Eintragung vom 30. Dezember desselben Jahres: »Ulrich Beck prognostiziert für das Jahr 2010 schwere soziale Unruhen, zumindest aber Tarifverhandlungen. Er rechnet unter die Virtuosen der vagen Rede, die es vorziehen, ungefähr recht zu behalten, als sich genau zu irren.«
Solche Sätze bündeln und ersetzen ganze Regalmeter der Lektüre. Man liest sie und kann nicht begreifen, daß Sloterdijk wenige Seiten zuvor allen Ernstes über ein Gespräch mit Peer Steinbrück berichtet, mit dem er Möglichkeiten der Intellektualisierung der SPD erörterte. Aber genau das ist typisch intellektuell. Fast alles fügt sich in diesem Baukasten, selten ist es so unangestrengt und schön ausgestellt wie bei Sloterdijk. Wir dürfen uns bei ihm bedienen.
Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage. Notizen 2008–2011, Berlin: Suhrkamp 2012. 639 S., 24.95 €.