Und die Sprungbretter! Ich ziehe meine Bahnen. Die kleinen Kinder haben sich eine morbide „Lippen-Ampel“ ausgedacht. Rote Lippen – alles im grünen Bereich. Lila Lippen – aufpassen, besser aufwärmen! Blaue Lippen – kritisch! Blasse Lippen- Krankenwagen! Noch blasser – leider tot.
Die Kleinste fragt im Zehnminutentakt bei mir ihre Lippenfrage ab. Das typische sanguinische Blut des Kleinkinds: Tiefe Sorge, dann gleich wieder quietschvergnügt. Das Thermometer im Schwimmbad zeigt: Luft 15 Grad, Wasser 22 Grad. Wer will da schon das Wasser verlassen? Trotz blauer Lippen? Es regnet Bindfäden. Die neunmalkluge Neunjährige taucht auf: „Gell, Mama, typisch für uns, das heute außer uns keiner baden geht!“- „Hm, meinst du: wir sind besonders krass?“ – „Nö, nicht grad krass, aber wir tun genau das, was die anderen nicht tun!“
So ist es nicht ganz. Wir sind hier, weil die mittleren Kinder sich gerade zum Rettungsschwimmer ausbilden lassen. Und sollen wir anderen anderthalb Stunden im Auto hocken, während die Kinder Theorieunterricht machen?
Neunjährige, eifrig: „Gell, es ertrinken grad zur Zeit so viele Leute. Da wäre es gut, wenn’s mehr Rettungsschwimmer gäbe.“ – „Ja, meinst Du? Ertrinken grad so viel?“- „Klar, hat die Oma doch erzählt. Schon acht am Bodensee dieses Jahr, und der Mirco hat gesagt, auch in der Ostsee ertrinken sie massenweise.“
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23. August 2015
Man tut ja viel für die eigene Brut, da darf man sie auch mal ärgern. Mein Lieblingsärgertopos heißt „arrangierte Ehe“. Mein Impuls, mich auf die Seite der „arrangierten Ehe“ anstelle der „Liebesheirat“ zu stellen, hat seinen Ursprung in meiner eigenen Schulzeit, und zwar im Englischkurs. Damals waren, über verschiedene Schulhalbjahre verteilt, drei Erörterungen zu verfassen: Einmal, zum puncto „Immigration“: Melting pot oder salad bowl, dann: Prügelstrafe: ja oder nein; und schließlich: Liebesheirat oder arrangierte Ehe?
Natürlich (das war meinem Temperament geschuldet und meinem Widerwillen, artig den Mainstream zu bedienen) argumentierte ich weder für Salad bowl noch melting pot, für die Prügelstrafe und gegen die Liebesheirat. Wo käme man hin, wenn man stets die Erwartungen des Lehrkörpers bediente, gerade bei banalen Fragen, die als Gegenargumentation eine schier mittelalterliche Position erforderten? Also: contra Liebesheirat, ich liebe diesen Standpunkt!
Im Alltag stellt sich das heute ungefähr so dar: Tochter erzählt was, beispielsweise: „Mit S. hab ich mich dann über Auswanderungsziele/Laufschuhe/Hühner (etc.) unterhalten…“ Ich: „S.? Wer ist das noch mal? Der mit dem neongelben Fahrradhelm?“ Tochter (seufzend): „Ja, Mama. Und der dir beim Gutentagsagen nicht ins Gesicht schaut. “
Oder, andere Tochter: „M. meint ja, daß die Einwanderungswellen…“ Ich : „Ach, M. meint das? Der mit dem Soziologenvater und der schlechten Angewohnheit, den halben Teller stehenzulassen?“
Manchmal sage ich auch nur zu Kubitschek am Abendbrottisch: „ Der P. und der F., das sind richtig gute Jungs. Die haben Ideen, die sind kräftig und klug, von solchen Leuten bräuchte man mehr!“, und das (wiewohl fast nebenher gesprochen) langt schon, daß die Töchter sich die Ohren zuhalten: „Mama, bitte keine Loblieder auf junge Männer in unserer Gegenwart…“
Ich weiß, daß ich meine Töchter mit diesem (halb lustig/halb unernst gemeinten) Fimmel der „arrangierten Ehe“ zur Weißglut treiben kann. (Zumal es sich bei S und M gar nicht um „Kandidaten“ handelt. Zumal ich mich bedankt hätte, meine Eltern hätten mir eine Ehe arrangiert – die dann sicher auf einen Bankkaufmann hinausgelaufen wäre.)
Ich treibe das Spielchen aber allzugern. Heute lese ich ihnen aus Oriana Fallaci, Das unnütze Geschlecht vor. Die Fallaci ließ bekanntlich kein gutes Haar am Islam. Aber:
Hier weilt sie im Pakistan der sechziger Jahre, und zwar nimmt sie an einer tränenreichen, arrangierten Hochzeit teil. Sie sagt den Freundinnen der Braut („So fortschrittliche und unbefangene Frauen, daß sie sich ohne Schleier hatten photographieren lassen“):
„Bei uns im Abendland suchen sich die Frauen den Gatten selbst aus. Würdet ihr das nicht auch gern tun?“ Bei dieser Frage aber sahen sie mich geradezu entsetzt an, dann antworteten sie im Chor: „Nein!“ „Warum nicht?“, beharrte ich. – „Vor allem bringt es eine Frau in eine demütigende Situation, sich den eigenen Mann auszuwählen“, rief die Jüngste aus. „Um einen Mann zu kriegen, muß sich die Frau schöner, interessanter machen, muß ihn mit Blicken und Geplauder verführen. Das ist unwürdig, und außerdem unaufrichtig. Eine Freundin aus London hat mir erklärt, wie die europäischen Mädchen einen Mann suchen, und wie ich es verstanden habe, ist das eine schrecklich mühsame und dumme Sache. Um von den Männern beachtet zu werden, sagt sie, tun die Mädchen immer so, als wären sie besser, als sie wirklich sind, und wenn die Männer sie dann bemerken, verstellen sie sich weiterhin, um geheiratet zu werden. Schließlich heiraten sie. Dann aber haben sie genug davon, Theater zu spielen, die Wahrheit kommt an den Tag, und die Ehe geht in die Brüche. Geht es wirklich so vor sich?“ – „Ungefähr“, gab ich zu. „Wenigstens ziemlich oft. Aber nicht immer gelingt es ihnen, geheiratet zu werden.“
„Wirklich?“, sagten sie im Chor. „und was geschieht dann?“
Nichts, sagte ich. „Sie fangen bei einem andern von neuem an.“
„Oh!“ riefen sie ungläubig.
„Ich brächte es gar nicht fertig, einen Mann zu suchen“, meinte die Jüngste. „Wenn wir jung sind, haben wir doch gar keinen Verstand. Meine Eltern hingegen haben ihn, und sie werden einen passenden Mann für mich suchen. Gibt es denn im Abendland keine arrangierte heiraten?“
„Hier und da“, räumte ich ein. „Es gibt Leute, die sogar ein Inserat in die Zeitung setzen oder sich an eine Agentur wenden.“
„Wie unfein!“, rief das Mädchen.(…)
„Und diese Liebesheirat hält ein ganzes Leben lang?“, fragte die Schwiegermutter.
„Hier und da“, sagte ich, „eher selten. Oft bekommen sie einander satt, und schließlich können sie sich nicht mehr ausstehen.“
„Was für ein Unsinn“, meinte die Schwiegermutter.
Schon okay, meinte eine meiner Töchter, hübsch hätt ich das vorgelesen. Sei wohl so. Mit dem Unterschied: Sie hätten Verstand.
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27.8. 2015
Ich betone: Meine Vornamensammlungen aus unserer Gegend ergänze ich keineswegs voller Spott, sondern aus heller Faszination. Heute am See, sehr wenige Leute. Darunter ein, wenn man so sagen mag, knall-arisches Paar, hellblond beide, hellblond die beiden kleinen Töchter. Untätowiert, unberingt, selbst die Erwachsenen, also ohne dezidiert schichtspezifische Merkmale. Name der Jüngsten, x‑mal gerufen: „Jucy“. Oder: „Juicy“? Bewegt mich.
M. M.
> Gell, es ertrinken grad zur Zeit so viele Leute
Ein Blogger hat sich mal gefragt, wer denn da gerade so viel
ertrinkt. Mir nächstgelegen ist das Prinzenbad in Kreuzberg--frühmorgens oder Bindfadenregen ist auch meine Alternative für Deutschland.