Bereits in der Romantik hatte sich diese Ernsthaftigkeit geltend gemacht, aber zu zwei unterschiedlichen Reaktionen geführt: der Rückwendung zum katholischen weil mittelalterlichen Christentum einerseits und der Hinwendung zu einer pantheistischen Natur-Religiosität andererseits. Letztere hatte Berührung mit der Aufklärung und mit dem Klassizismus, aber das romantische Element kam darin zur Geltung, daß hier, wenn auch noch nicht im Zentrum, so doch am Rand, die Frage nach dem religiös Eigenen, dem „teutschen” oder „germanischen” wie man sagte, gestellt wurde.
In seinem unlängst erschienenen Buch Der Germanenmythos (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 408 S., geb, 74.90 €) hat sich Ingo Wiwjorra auch mit diesem Zusammenhang beschäftigt, denn er bestimmt den politischen und kulturellen Germanismus als geistige Bewegung, „die einerseits mit dem Christentum, andererseits mit den weitreichenden Säkularisierungstendenzen der Moderne in Konkurrenz getreten” sei. Wiwjorra spürt den Anfängen des Germanenmythos bis in das Mittelalter und die Zeit der Renaissance nach. Er schildert die Vorbereitung im achtzehnten und die Entfaltung im neunzehnten Jahrhundert, erläutert den ideologischen Pluralismus ebenso wie den Einfluß von Sprach- und „Spatenwissenschaft”, von Rassenkunde und Geographie, um schließlich auf die gravierende Umprägung des Geschichtsbildes und damit der kollektiven Identität zu kommen, die nicht nur das „ex oriente lux” fahren ließ, sondern auch die Orientierung an der Antike als Norm in Frage stellte. Wenn an dieser Arbeit etwas zu wünschen übrig bliebe, dann die Klärung des Problems, welchen Wert man den rassengeschichtlichen Ableitungen des neunzehnten Jahrhunderts heute noch zusprechen kann, deren Einfluß wesentlich weiter reicht, als man vermuten möchte. Aber dieses Desiderat soll keine grundsätzliche Kritik an dem vorliegenden Buch sein. Wiwjorra hat ein Standardwerk geschrieben, das allen früheren Arbeiten zu diesem Thema überlegen ist. Das Urteil gilt in bezug auf die Nüchternheit und Gerechtigkeit der Darstellung, in erster Linie aber in bezug auf die außerordentliche Forschungsleistung, die ihr zugrunde liegt.
Etwa das Gegenteil des eben gesagten trifft auf eine Monographie zu, die sich mit einer Frage befassen sollte, die ihrerseits für die religiösen Debatten im Deutschland des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts von großer Bedeutung war. Es handelt sich um das Buch Wie Jesus zum „Arier” wurde von Wolfgang Fenske (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 288 S., geb, 59.90 €). Unbestreitbar spielte der Gegensatz „Arier” / „Semit” für den Germanismus des neunzehnten Jahrhunderts eine außerordentliche Rolle, und in dem Maß, in dem sich die Bewegung als eine religiöse verstand, nahm sie, wenn schon nicht das Christentum selbst, so doch die Herkunft seines Stifters als anstößig wahr. Es gibt insofern ein legitimes Interesse an der genauen Rekonstruktion des Anfangs der „Arisierung” Christi, die zu leisten Fenske aber außerstande ist.
Sein Buch wirkt mit den insgesamt dreizehn Exkursen schon im Aufriß desorganisiert, und der Eindruck verbessert sich nicht durch das Phasen-Schema des Autors. Das Buch läßt jedenfalls keine Vorstellung davon entstehen, wie und in welchem Ausmaß die Vorstellung vom „arischen Jesus” aufkommen und sich verbreiten konnte, inwiefern es vergleichbares außerhalb Deutschlands gab und in welchem Maß solche Ideen tatsächlich akzeptiert wurden.
Einer derjenigen, die in ihrer Biographie den Übergang von einer kirchlich geprägten Gläubigkeit über ein „freies” – und das hieß vielfach: „deutsches”, „germanisches”, „arisches” – Christentum hin zu einer dezidierten antichristlichen Position vollzogen, war der Maler Ludwig Fahrenkrog, der in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als Symbolist eine gewisse Berühmtheit erlangte. Über ihn hat Claus Wolfschlag eine kleine, sehr kenntnisreiche Studie veröffentlicht (Ludwig Fahrenkrog – Das goldene Tor, Dresden: Zeitenwende 2006. 86 S., kt, zahlreiche Abb., 4 Farbtafeln, 12.50 €), die nicht nur die – im Band gut reproduzierten – Werke erläutert, sondern auch die geistige und ideologische Entwicklung Fahrenkrogs nachzeichnet, dessen „Germanische Glaubens-Gemeinschaft” zu den ältesten neuheidnischen Gruppierungen in Deutschland gehörte.
Fahrenkrog war auch Mitarbeiter eines Sammelbandes, den Richard Ungewitter – ein anderer Protagonist völkischer Religiosität im wilhelminischen Deutschland – herausgegeben hat. Das Buch Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen erschien jetzt als Nachdruck in der Reihe „Quellentexte zur Konservativen Revolution” (Die Völkischen, Bd 1, Toppenstedt: Uwe Berg 2006. 500 S., geb, eine Beilage, 26.00 €). Vorangestellt findet sich ein Blatt im Reprint, mit dem Ungewitter im Frühjahr 1919 erklärte, warum das Buch nicht wie geplant Anfang 1917 erscheinen konnte. Ursache war, daß die Zensurbehörde eine Veröffentlichung verboten hatte, weil ein Beitrag zur Kriegszielfrage das Existenzrecht eines unter deutschem Schutz gegründeten Polens in Frage stellte. Die Zensur wurde auch sonst in dieser Richtung tätig, so daß neben Publikationen der radikalen Linken vor allem solche aus dem antisemitischen Lager betroffen waren. Ein Sachverhalt, der heute ähnlich unbekannt ist wie die außerordentliche Breite der Völkischen Bewegung in der Anfangszeit, als ihre Anhängerschaft von Lebensreform, Nacktkultur und Wandervogel über alle möglichen Glaubensbewegungen bis zu den Alldeutschen und Rassenhygienikern reichte.
In dem Band von Ungewitter findet sich das ganze Spektrum der Völkischen Bewegung, deren Bild erst nachträglich durch den Nationalsozialismus bestimmt und eingeschränkt wurde. Wie kompliziert diese Beziehung tatsächlich war, kann man der Tatsache entnehmen, daß sich in der NS-Zeit das Verhältnis der politischen Führung gerade zu den völkischen Hardlinern außerordentlich kompliziert gestaltete. Ein aufschlußreiches Beispiel dafür war die „Deutsche Glaubensbewegung” (DG), die unmittelbar nach der Machtübernahme durch den Indologen Jakob Wilhelm Hauer gegründet wurde. Zur Person Hauers hat vor zwanzig Jahren Margarete Dierks eine umfassende, in manchem vielleicht zu wohlwollende, Biographie vorgelegt, aber zur Geschichte der DG gibt es nach wie vor keine überzeugende Gesamtdarstellung.
Vor einigen Jahren hatte der kleine Marburger Diagonal-Verlag schon eine Studie von Ulrich Nanko zu diesem Thema veröffentlicht, die aber weder inhaltlich noch formal überzeugen konnte. So zurückhaltend kann die Kritik an der jetzt erschienenen Arbeit von Schaul Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (Marburg a.d.L.: Diagonal 2006. 281 S., kt, einige Abbildungen, 20.00 €), nicht ausfallen. Es handelt sich um ein Buch, dessen Publikation als solche fragwürdig ist: Der Verfasser zeigt sich der Materie intellektuell nicht gewachsen, die Menge der Fehler und Schlampigkeiten überschreitet das Maß und die Zahl der unbelegten und schwerwiegenden Behauptungen ist zu groß. Das erscheint besonders ärgerlich, weil die Klärung zweier von Baumann angesprochener Komplexe – die Radikalisierung der rassischen und religiösen Auffassungen Hauers im Zusammenhang mit seiner Andienung an die SS sowie der Konflikt mit Heinrich Grabert – sicher sehr aufschlußreich für die Interpretation der Glaubensgeschichte der NS-Zeit gewesen wäre.
Die Bedeutung der SS für diesen Komplex ist unbestreitbar. Insofern erlaubt auch die verwickelte Geschichte des Nordland-Verlages gewisse Einblicke. Das 1933 gegründete Unternehmen verfolgte von Anfang an einen scharf antichristlichen, neuheidnischen Kurs, erhielt aber erst nach und nach eine Schlüsselbedeutung unter den Verlagen der SS, die erklärt, warum in seinen Veröffentlichungen eine neuartige, nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen viele völkische Traditionsbestände gerichtete Weltanschauung zum Tragen kam.
In der gleichfalls bei Uwe Berg erscheinenden „Toppenstedter Reihe”, die schon zahlreiche, unverzichtbare Bibliographien zur Konservativen Revolution herausgebracht hat, erschien jetzt ein weiterer Band, der sich ganz dem Nordland-Verlag widmet (Heinrich W. Schild und Audrey Gregory: Der Nordland Verlag. Eine Bibliographie, Toppenstedter Reihe, Bd 12, Toppenstedt: Uwe Berg 2005, 357 S., kt, zahlreiche Abb., 25.00 €) und neben einem Verzeichnis der erschienenen Titel zahlreiche Dokumente sowie einen Abriß der Verlagsgeschichte enthält. Obwohl Hitler das gelegentlich spöttisch mutmaßte, kam es auch in den Reihen der SS nicht dahin, daß er selbst in einem heidnischen Kult als Gott verehrt wurde. Derartige Blüten trieb der religiöse Sumpf erst in der Nachkriegszeit und bemerkenswerterweise außerhalb Deutschlands.
Das bekannteste Beispiel dürfte die Französin Maximine Portaz sein, die als Wahlinderin unter dem Namen „Savitri Devi” mit ihrer bizarren Mischung aus Hinduismus, Arierkult und Hitlervergottung eine gewisse Bekanntheit erreichte. Material über diese Seltsamkeit der religiösen Zeitgeschichte ist verständlicherweise rar. Insofern sei der Interessierte hingewiesen auf die Nummer der Zeitschrift Junges Forum, die dem 100. Geburtstag Savitri Devis gewidmet wurde und neben zwei Texten aus ihrer Feder eine ganze Reihe von Zeugnissen über ihre Person enthält (Ausgabe 5, hrsg. vom Regin-Verlag, Postfach 21 29, 47632 Straelen, 80 S., kt, 8.50 €).
Von dem Verdacht, auch nur in der Nähe eines religiösen „Hitlerismus” zu stehen, muß sich jeder fernhalten, der heute darum bemüht ist, die heidnische Tradition überhaupt wieder zu beleben. Zu den ambitioniertesten Versuchen dieser Art gehört heute ohne Zweifel derjenige Daniel Junkers, der in der Vergangenheit schon mit einer Arbeit über Fahrenkrogs Germanische Glaubens-Gemeinschaft hervorgetreten war. Für 2006 hat er außerdem ein Heidnisches Jahrbuch herausgegeben (Norderstedt: Daniel Junker 2005. 352 S., kt, zahlreiche Abb., 26.80 €; Bezug über: Verlag Daniel Junker, Postfach 62 04 52, 22404 Hamburg), das auf mehr als dreihundert Seiten nicht nur Positionsbestimmungen enthält – hervorgehoben seien hier die Beiträge von Baal Müller und Reinhard Falter -, sondern auch Arbeiten, die sich sine ira et studio mit der Geschichte des Neopaganismus befassen, angefangen bei einem Aufsatz von Hans-Jürgen Lange über „Wunderglaube im Heidentum und in der alten Kirche” bis zu Thomas Lückewerths Abhandlung über den Maler Hermann Hendrich, einen Zeit- und Gesinnungsgenossen Fahrenkrogs.
Das Neuheidentum der Gegenwart setzt nur zu einem kleinen Teil die Traditionen der wilhelminischen oder der Zwischenkriegszeit fort. Häufig wird die Überlieferung sehr selektiv aufgegriffen und mit anderen Elementen kombiniert. Das fördert die Individualisierung und damit die Anähnelung an die Ausgangssituation, als der Zerfall des christlichen Abendlandes einen religiösen Pluralismus entstehen ließ, der alle möglichen Glaubensvarianten hervorbrachte, aber keine Gestaltung des Glaubenslebens anstelle des kirchlichen.