Dies ist deshalb so einfach, weil klar ist, was dabei herauskommen soll: Die Intellektuellen des Westens sind sich weitestgehend einig, daß die ärmsten Länder der Welt sowie alle Krisenregionen Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Wirtschaftswachstum brauchen. Doch genau das ist falsch.
Die Ursachen der Probleme liegen viel tiefer und können nur durch eine Beschäftigung mit der Geschichte der Länder, in denen die Menschen der „untersten Milliarde“ leben, ergründet werden. Erstaunlich ist dabei jedoch, daß die Ursachen, auf die man bei einer solchen Auseinandersetzung stößt, keineswegs als fremd erscheinen. Vielmehr scheint es so, als hätten Europa und der Westen die Krise, in der die ärmsten Staaten der Welt bereits seit Jahrzehnten stecken, noch vor sich.
So kommt etwa der belgische Historiker und Schriftsteller David Van Reybrouck in seinem, in vielerlei Hinsicht grandiosen Buch Kongo. Eine Geschichte (2010) zu dem Ergebnis: „Der Kongo ist nicht in der Geschichte zurückgeblieben – er ist der Geschichte voraus.“ Van Reybrouck hat in diesem gescheiterten Staat etliche Jahre vor Ort recherchiert, unzählige Interviews geführt, und er wertete zahlreiche Quellen klug aus. Seine Darstellung der Geschichte dieses Landes, das so groß ist wie Westeuropa, beginnt mit der Berliner Kongo-Konferenz (1884/85) und führt bis in die Gegenwart.
Als roten Faden hat er die Zerstörung von Traditionen gewählt, die den Kongo Stück für Stück zu dem gemacht haben, was er heute ist: eines der ärmsten und instabilsten Länder der Welt. Ohne in einen anklagenden Ton zu verfallen, schildert er dabei auch die geopolitischen und geoökonomischen Fehler des Westens und der Großmächte, die bis heute fortgesetzt werden, obwohl längst eine grundsätzliche Kurskorrektur notwendig wäre.
Im Großen und Ganzen geht es in dem Buch um vier Hauptprobleme, die ich als die tatsächlichen Migrationsursachen in den ärmsten Ländern der Welt einschätze:
- Die Mißachtung des Rechts auf politische und ökonomische Andersartigkeit;
- Eine zu frühe Eigenständigkeit nach dem Zeitalter des Kolonialismus;
- Das Aufeinanderprallen der verschiedenen Logiken der Großmächte (Europa, USA, Rußland und seit einiger Zeit China), supranationaler Gebilde, sezessionistischer Bewegungen, der einheimischen Herrscherklasse (in diesem Fall des Kongo), seiner Nachbarländer und fremder Konzerne;
- Die Deformationen durch die Globalisierung.
Zum ersten Punkt erklärt Van Reybrouck:
In einer Gesellschaft, die in so hohem Maße durch Gemeinschaftssinn gekennzeichnet war, bedeutete die „Autonomie des Individuums“ nicht Freiheit, wie sie in Europa seit der Renaissance proklamiert wird, sondern Einsamkeit und Zerrüttung. Du bist der, den andere kennen; und wenn dich keiner kennt, bist du nichts. Sklaverei, das war nicht geknechtet sein, sondern entwurzelt sein, heimatlos.
Van Reybrouck schätzt, daß die Entwurzelung der „Kongolesen“ (ob es diese überhaupt gibt, wird unter 3. zu klären sein) bis Anfang der 1930er-Jahre abgeschlossen war. Der Stammesverband und die dörflichen Strukturen verloren an Bedeutung. Währenddessen versuchten die Kolonialherren rückblickend äußerst erfolgreich, die Gesellschaft so zu ordnen, daß die Wirtschaftsleistung maximiert werden kann.
Dies ging nicht ohne Gewalt und Zwang, aber dies ist ja bekannt. Viel bemerkenswerter ist jedoch die Rolle des Geldes. Der Schriftsteller, Journalist und Politiker Paul Lomami Tshibamba notierte über seine Kindheit und Jugend in den 1920er-Jahren:
In meiner Generation kannten wir die Traditionen unserer Eltern nicht mehr: Wir waren in dieser Stadt (Léopoldville, heute: Kinshasa) geboren, die von den Kolonisatoren gegründet worden war, in dieser Stadt, in der ein Menschenleben der Macht des Geldes untergeordnet war.
Tshibamba berichtet davon, daß Geld für die vorhergehende Generation noch völlig unbekannt war. Doch in seinem Leben drehte sich schon in der Jugend alles darum. Von klein auf sollten die jungen Leute aus den entstandenen städtischen Arbeitermilieus in Firmenkulturen hineinwachsen. Die Unternehmen bauten Schulen, Krankenhäuser und Freizeitclubs und Ende der 30er-Jahre gab es sogar Anfänge eines Rentensystems. Van Reybrouck betont dazu: „Man zog sich vollkommene Arbeiter heran: glücklich und fügsam.“
Zum Ende der Kolonialzeit (1960) stand der Kongo schließlich deutlich besser da als heute. Man könnte diese Tatsache heranziehen, um ein Loblied auf den Kolonialismus anzustimmen, doch dies geht vollkommen an der Realität vorbei, weil der ökonomische Aufstieg mit einem seelischen Verfall einherging. Vladimir Drachoussoff, ein russisch-belgischer Landwirtschaftsingenieur, der 1940 in den Kongo ging, schrieb darüber in seinem Tagebuch:
„Zivilisieren“ im Namen einer Zivilisation, die zerfällt und nicht mehr an sich glaubt? (…) Wir bringen Frieden und bewahren ihn, wir überhäufen das Land mit Straßen, Plantagen, Fabriken, wir bauen Schulen, wir sorgen für eine medizinische Betreuung. Als Gegenleistung nutzen wir ihre Bodenschätze und ihr Land und lassen sie für uns arbeiten, gegen Bezahlung.
Doch was geschieht, wenn die jungen Afrikaner die Macht in ihrem Land irgendwann selbst für sich beanspruchen, fragte sich Drachoussoff weiter.
Nehmen wir einmal an – eine Annahme, die bewusst absurd ist –, der Kongo sei im Jahre 1970 unabhängig. Welch ein Berg von Problemen! Wir in Europa hatten nie einen unüberwindbaren Konflikt zwischen unserer gesellschaftlichen Organisation und unseren technischen Errungenschaften: Beide haben sich mehr oder weniger Hand in Hand entwickelt. In Afrika dagegen stößt eine archaische Gesellschaftsform mit der Allmacht einer technischen Zivilisation zusammen, die sie zerfallen läßt, ohne sie durch etwas Neues zu ersetzen.
Selbstverständlich tritt der Kongo peu à peu in die Moderne ein. (…) Aber geschieht das nicht auf Kosten einer traditionellen Welt, die sich überlebt hat und doch noch immer notwendig und – noch für eine Weile – unersetzbar ist? (…) Indem wir nichts als wir selbst sind, zerstören wir Traditionen, die manchmal grausam, aber ehrwürdig waren, und bieten als Ersatz nur weiße Hosen und schwarze Brillen an, nebst etwas Wissen und einem unermesslichen Warten.
Das Dilemma, das Drachousoff hier beschreibt, besteht bis heute, weil das rasante Tempo der technischen Entwicklung angehalten hat oder sich vielleicht sogar noch beschleunigte. Die bedeutendste Innovation war dabei für ganz Afrika das internetfähige Handy. Fast alle Afrikaner sind darüber mittlerweile an das weltweite Netz angeschlossen, was jedoch nicht zu einem Wirtschaftsaufschwung führen wird, sondern zu einem Massenexodus, den die wohlhabenden Staaten durch ihren fehlenden Selbstbehauptungswillen begünstigen.
Fortsetzung folgt.
Karl-Heinz Labskaus
Ich habe das Buch nicht gelesen, beziehe mich also auf die Zusammenfassung des Artikels. Und da fällt mir sofort auf, das wieder mal, wenn es um Schwarzafrika geht, mit keinem Wort ein kleines interessantes Wort fällt, auch nicht indirekt oder in irgendeiner Variante: Selbstverantwortung. Und zwar des Landes und der Leute.
Alle die im Artikel aufgezählten Probleme, die Verblassung der Traditionen, Entwurzelung, die ideologischen Auswirkungen des Kalten Kriegs, Konzerninteressen, Globalisierung, all das gilt für die ganze Welt. Aber was haben Nordamerika, Europa, viele Länder Ostasiens daraus gemacht, und was hat Schwarzafrika daraus gemacht? Aber nein, wieder mal will uns ein Autor erzählen, was sonst nicht einmal mehr Fußballer nach einer Niederlage sich zu erzählen trauen: Der Rasen war zu nass. Denn wie wir alle wissen: Der Rasen war für alle nass.
Davon abgesehen fingen Schwarzafrikas Probleme nicht mit der Kolonialisierung an, sondern gut 2500 Jahre vorher, weil es ab dieser Zeit dort keine oder nicht mehr genug technologische und gesellschaftliche Entwicklungen gab. Folglich gab es gute Gründe, warum Europa vor mehreren hundert Jahren auf ein vollkommen schwaches und wehrloses Schwarzafrika traf, das dem Kolonialismus weder gesellschaftlich (durch Nationenbildung) oder technologisch einen nennenswerten Widerstand bieten konnte. Der Kolonialismus, der war nur die Folge dieser Schwäche, nicht die Ursache.