schließlich sind alle Menschen gleich. Es muß an den Bedingungen liegen. Andere Völker haben es aber auch geschafft, Despoten zu verjagen und eine funktionierende Wirtschaft aufzubauen. Aber die Armen werden doch von den Reichen, also uns, ausgebeutet.
So in etwa verläuft die Debatte über die Staaten der „untersten Milliarde“ seit Jahrzehnten. Die einen erinnern an die Eigenverantwortung der Länder, ihrer Eliten und der dortigen Bevölkerung. Die anderen betonen die Schuld des Westens an dem Elend und wollen helfen, das Ungleiche gleich zu machen.
In Bezug auf Afrika ist die Frage der Schuld allgegenwärtig, doch sie führt zu vorschnellen Schlüssen und verleitet dazu, das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Akteure nicht genau genug zu analysieren. Doch wo fangen wir an? Es liegt so viel im Argen, daß der Einstieg schwer fällt. Michael Wolffsohn setzt in seinem jüngst erschienenen Buch mit dem größenwahnsinnigen Titel Zum Weltfrieden ein „historisch-bevölkerungspolitisches Röntgen“ ein, das ihn zu der einfachen Schlußfolgerung führt, alle Völker würden nach Selbstbestimmung streben. Das Chaos in den ärmsten Ländern könne folglich durch Föderalisierungen beseitigt werden.
Für das künstliche Staatsgebilde Kongo, in dem ca. 250 ethnische Gruppen mit 700 verschiedenen Sprachen und Dialekten leben, bedeute dies, daß die internationale Gemeinschaft die Sezessionsbestrebungen einzelner Landesteile (z.B. des rohstoffreichen Katangas) nicht länger verhindern dürfe und erst recht nicht mit militärischen Mitteln, wie dies seit über 50 Jahren geschieht.
Die Einmischung der verschiedensten supranationalen Organisationen hat darüber hinaus den Aufbau einer eigenen, schlagkräftigen Armee für die Herrscher des Kongo über Jahrzehnte hinweg unnötig gemacht. Diktator Mobutu, der von 1965 bis 1997 Präsident war, konnte jederzeit die Großmächte gegeneinander ausspielen. An Geld und Soldaten für seine eigenen Zwecke mangelte es ihm nie, auch wenn er das Land systematisch ruinierte.
Ende der 70er-Jahre betrug die Kaufkraft im Kongo nur noch vier Prozent der von 1960. Als Lohn dafür schnürte der Internationale Währungsfonds (IWF) Rettungspakete und verordnete dem Land eine Sparpolitik. Mobutu befolgte diese und kürzte kräftig die Ausgaben im Bildungs- und Gesundheitssektor. Genauso verheerend hat sich die „NGOisierung“ des Landes ausgewirkt, die eine Hilfsabhängigkeit, Unselbständigkeit und ein verläßliches Alibi für die korrupten Eliten verursachte.
Gegen die Korruption der Eliten nun wiederum kann sich ein Volk am einfachsten wehren, indem es selbst korrupt wird und keine Steuern mehr zahlt. So entsteht eine Plünderökonomie, die kannibalistische Effekte hat. Der in die USA ausgewanderte, nigerianische Schriftsteller Teju Cole hat dies anschaulich in seinem Buch Jeder Tag gehört dem Dieb am Beispiel des „kreativen Mißbrauchs des Internets“ in Form des Vorkassebetrugs geschildert. Die sogenannten „Yahoo Yahoos“ verschicken als Vorsitzende von fiktiven Staatlichen Ölministerien Briefe mit Zahlungsaufforderung und leben gut davon, wenn irgendein dummer Ausländer tatsächlich darauf hereinfällt.
Werden sie hingegen von der Polizei geschnappt, die mittlerweile vor vielen Internet-Cafés steht, landet eine beträchtliche Summe in der privaten Tasche des Beamten, der Geld dafür verlangt, daß er den entdeckten Ganoven laufen läßt. Solche Zustände nur mit den „Bedingungen“ zu erklären, greift natürlich zu kurz. Man muß einfach anerkennen, daß dafür hauptsächlich eine Mentalität verantwortlich ist, die dem informellen Wirtschaften zugeneigt ist und rechtsstaatliche Strukturen wie in Europa unmöglich macht.
„Schuld“ ist daher der Westen nicht etwa, weil er sich zu wenig einmischt, sondern weil er versucht, Strukturen zu etablieren, die den einheimischen Menschen fremd sind und die Vielgestaltigkeit der Welt mißachten. Stimmt man dieser These zu, könnte man nun als nächstes auf die Idee kommen, deshalb eine Außenpolitik nach chinesischem Vorbild betreiben zu wollen. Die Chinesen haben im Kongo einen ausgezeichneten Ruf. Man erzählt sich, sie würden immer nachts bauen und schon am nächsten Morgen sei das nächste Stockwerk fertig.
Im Gegensatz zu Europa interessiert sich China nicht für politische Fragen im Kongo. Es begnügt sich damit, das „Nareland“ (Natural Ressource Lands) zu erobern und baut als Dank dafür die Infrastruktur wieder auf. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Alle global agierenden Unternehmen setzen bis in die Gegenwart hinein ebenfalls auf diese geoökonomische Strategie, auch wenn sie nicht zu der Rhetorik der europäischen Politiker paßt. David Van Reybrouck betont in seinem Kongo-Buch dazu:
Es waren multinationale Bergbaukonzerne, obskure Mini-Fluggesellschaften, notorische, aber ungreifbare Waffenhändler, zwielichtige Geschäftsleute in der Schweiz, in Russland, Kasachstan, Belgien, den Niederlanden und Deutschland, die beim Hehlen der Rohstoffe aus dem Kongo absahnten. Politisch war der Kongo eine Katastrophe, ökonomisch ein Paradies – für so manchen jedenfalls. Gescheiterte Staaten ermöglichen die Erfolgsgeschichten eines überhitzten, globalen Neoliberalismus.
Einher geht dies im chinesischen Fall mit der Überflutung des Kongo mit Billigwaren. Die lokale Textilindustrie ist deshalb bereits zugrunde gegangen. Doch die Folgen sind noch viel weitreichender: In Chinas Großstädten sind in den letzten Jahren Viertel mit bis zu hunderttausend Afrikanern entstanden.
Die Entwurzelung kennt gegenwärtig also keine Grenzen und betrifft alle Erdteile. Jedes Expansionsstreben – egal ob politischer oder ökonomischer Art – löst Massenmigrationen aus. Müssen wir damit im 21. Jahrhundert nun einmal leben oder gibt es Alternativen? Ganz egal, ob man diese Frage gerade auch vor dem Hintergrund der Überbevölkerung mit einem optimistischen oder pessimistischen Szenario beantwortet, dürfte die skizzierte Situation in den ärmsten Ländern der Welt zumindest zu einer Erkenntnis führen: Einwanderungs‑, Wachstums- und Globalisierungskritik gehören zusammen. Wer hier auch nur einen Faktor ausblendet, wird die Tragweite des Problems nie erkennen.
Andreas Walter
"Müssen wir damit im 21. Jahrhundert nun einmal leben oder gibt es Alternativen?"
Die Frage stellt sich gar nicht, Herr Menzel, so ehrenwert Ihr Verhalten und ihre Diskursbereitschaft aus demokratischer Sicht auch sein mag. Die Situation, in der auch wir uns hier (auch in Deutschland) befinden und da vor allem auch die Sezessionisten (ausserparlamentarische Opposition, eigentlich Widerstandsbewegung), unterscheidet sich lediglich in der Raffinesse der Täuschung durch unsere Herrschaftsklasse von dem, was auch in Afrika passiert.
Die Lage ist noch viel ernster, als auch Ihnen bisher bewusst ist. Doch ich bete zu Gott, hoffe trotzdem auch immer wieder, dass ich mich täusche, denn es tut mir Leid der Weckrufer in der Wüste zu sein, vor allem der jungen Menschen wegen. Denn ich raube ja auch Ihnen jetzt dadurch Illusionen, was allerdings "Gutmenschen" noch weniger vertragen, und genau darum so sind wie sie sind. Blind.
https://www.youtube.com/watch?v=Rx5SZrOsb6M