Wenn, dann soll er selbst seinen wirklichen Namen preisgeben und auch den Zeitpunkt für sein »coming out« festlegen. Wir überschlagen: ein Drittel der Sezession-Leser wüßte mit diesem Autor sofort etwas anzufangen.
»Thalheim«: Kennt er die »neurechte«, »konservative«, »kernbügerliche« Szene, die sich hier mit all diesen Etiketten unzufrieden zeigt, weil sie knapp danebenliegen, einengen, zur Ausgrenzung führen? Kennt er das Milieu wirklich, das zum Schauplatz dieses Romans wird? Von innen oder von außen? Er kennt, das wird für Innenseiter klar, sogar Anekdoten aus den frühen Jahre jener Wochenzeitung, die in seinem Roman Freigeist heißt und vom Leser leicht mit einem realexistierenden Medium wird verwechselt werden können. Wer sich an die Aufbaujahre dieser Zeitung erinnern kann, findet in Thalheims spiegellabyrinthischem Roman Entzifferbares.
Vor allem aber sind es die Debatten um Pseudonyme, harte Themen und Gastautoren, die zeigen, daß sich Thalheim in die Widerborstigkeit und den Drang nach Normalität einer nicht wohlgelittenen Redaktion sehr genau hineindenken kann. Da ist die Hauptperson Marcel Martin: Gab oder gibt es sie wirklich? Diesen ambivalenten Held, besser: Antiheld mit Anleihen eines Simplicius Simplicissimus? Marcel arbeitet als Chefreporter der nicht vollends randständigen, aber doch vom Hauptstrom skeptisch beäugten Wochenzeitung Freigeist. Dieses Blatt gilt als »rechts« – einerlei, daß »El Jefe«, der Eigentümer des Blattes, diese Selbstbezeichnung vehement ablehnt – und wird mehr insgeheim rezipiert, jedenfalls von den Meinungsmachern und deren Mitseglern im Windschatten.
Im Dienst dieses Blattes trägt Marcel eine »professionelle Rüstung«: Seine Reportagen gelten als hervorragend. In Wahrheit sind seine souverän wirkenden Berichte Resultate eines langwierigen, von schmerzhaften Skrupeln durchdrungenen Vorgangs: »Zu Marcels Grundsätzen gehörte es, ehrlich zu schreiben. Ohne falsche Seitenlage. (…) Er wollte sein wie eine Waage. Ein Gerät, das still steht, das sorgsam geeicht ist und seine Schalen bereithält. Oder allenfalls, dies als äußerstes, wie der stille Passagier auf dem Boot, der sein Gewicht behutsam backbord neigt, wenn steuerbord leck zu gehen droht.«
Marcel schreibt unter Krämpfen. Sein Leben jenseits der Redaktionstätigkeit erscheint ihm ähnlich verzwickt. Weshalb zeigt ausgerechnet Agnes Interesse an ihm, diese offensichtlich durch-und-durch linke, dennoch anbetungswürdige Radiofrau? Wieso meldet sich Doreen nicht mehr, das propere Fräulein mit dem gesunden Menschenverstand, das Marcel von seinem Freund und Kollegen Benjamin vermittelt bekam? Benjamin reüssiert munter als Schüler diverser Pick-up-Seminare, wendet seine Aufreißer-Tricks fleißig an und fährt nicht schlecht dabei.
Und dann ist da Eugen. Eugen Rössler, der Ex-Redakteur und alte Schulkamerad, der Marcel einst zum Freigeist vermittelt hatte. Der hat keine Probleme mit Frauen und auch keine mit Bauchgefühlen und Hirnimpulsen, aber offensichtlich mit seinem Namen. Rössler heißt jetzt Rosenbaum, brauchte er einen Neuanfang bei google? Aber warum? Warum ausgerechnet unter einem Namen mit solch »hm … mosaischem« Beiklang? Und warum sind rechte Leser und Denker eigentlich überproportional oft schwul, wie Backhohl, die Freigeist-Edelfeder, unter Verweis auf redaktionsinterne Statistiken verkündet? Oder macht er bloß Witze?
Vielleicht spielen überhaupt alle falsch, vielleicht nimmt keiner die Sache so ernst wie Marcel, der eigentlich keinen Dienstschluß kennt. Marcel versucht jedenfalls nach Kräften, seinen Mann zu stehen. Gegenüber Maman, der immer noch dominanten alleinerziehenden Mutter, gegenüber Agnes, der lieben, verirrten Linken, gegenüber Backhohl, dieser schillernden Eminenz und gegenüber den Objekten seiner Reportagen, hier vor allem die »ziganen Gesellschaften«, die am Ort des Geschehens – Dresden – eine Bleibe gefunden haben.
Marcel will kein falsches, ungerechtes Wort schreiben. Doch ihm schwindelt, und das ist folgerichtig. Marcel ist sensibel, übersensibel. Der Redaktionspsychiater (»Freigeistleser der ersten Stunde«) kennt diese Zusammenhänge: Wer aufgrund seiner Wachheit stets die Positionen vertrete und begründe, die gerade nicht anschlußfähig seien im heutigen Weltbetrieb (also die »rechten«), von dessen Substanz werde gezehrt.
Hirnhunde ist kein Schlüsselroman, und doch ist er wahr. »Thalheim« versteht sein Handwerk, zweifellos: Sein Roman ist spannungsgeladen, luzide, voller Witz und Anspielungen. Daß er sprachlich gelungen und literarisch auf Könnerniveau durchkomponiert ist, macht ihn zu einem kleinen, überaus unterhaltsamen Meisterwerk.
Raoul Thalheim: Hirnhunde, Schnellroda 2014. 354 S., 21 € – hier bestellen!