Neben seinen Romanen wurde er durch Nacherzählungen klassischer Sagenstoffe populär. Gerade ist mit Zwei Herren am Strand ein weiteres Buch aus seiner Feder erschienen, das auf die Auswahlliste zum Deutschen Buchpreis gesetzt wurde. Man liest diese Sachen gern, Köhlmeier versteht sein Handwerk.
Warum hat man mit Verspätung zu den Abenteuern des Joel Spazierer gegriffen? Weil der Buchrücken zu pink, der Titel graphisch abschreckend erschien? Weil Köhlmeier kurz vorher schon mal (mit seiner Gattin) eine »jüdische Geschichte« verfaßt hatte, ein Kinderbuch, das man als mißlungen empfunden hatte? Oder weil der kiloschwere Spazierer allzu dickleibig erschien? Besser spät als nie: Dieses Buch – just als Taschenbuchausgabe erschienen – ist nichts weniger als ein Meisterwerk der Erzählkunst, hin- und mitreißend von der ersten bis zur letzten Zeile.
So schreiben Könner: ohne jedes Arbeitsgeräusch, dabei spannend, anspruchsvoll und enorm einfallsreich. Verstiegen? Ja, das durchaus, aber wie sollte es anders gehen angesichts des labyrinthischen Daseins dieses Protagonisten? Joel Spazierer wurde vom renommierten Schriftsteller Sebastian Lukasser angeregt, sein Leben aufzuschreiben. Den Lukasser kennen wir aus anderen Köhlmeier-Romanen, es ist ein Alter ego des Autors selbst. Auch anderen Figuren, wie dem belesenen Ehepaar Lenobel mit seinen gewagten jüdischen Witzen, begegnen wir erneut.
Spazierer ist ein ausgedachter Name. Als Kind hieß er erst András Fülöp, später Andres Philip, kurzzeitig Robert Rosenberger, dann Ernst-Thälmann Koch, kein Tippfehler: Thälmann ist der zweite Teil des Vornamens. »Spazierer« wurde zur Identitätsverschleierung von einem vertrauten linken Pfarrer für gut befunden: »Es ist nicht schlecht, wenn die Leute meinen, es sei ein jüdischer Name. Dann fragen sie nicht. … Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn du das Jüdische mit einem jüdischen Vornamen betonst.«
Unser Held hat allen Grund, seine Identität zu verhehlen. Er ist ein Mörder und ein Lügner. Angesichts dessen – er hat zusätzlich gedealt, er hat sich prostituiert, hat Ehen und Dutzende Gesetze gebrochen – grenzt es an ein Wunder, daß wir Hunderte Seiten mit ihm hoffen und bangen. Sollen wir Joel Spazierer einen schlechten Menschen nennen? Fiebern wir aus Mitleid mit ihm? Nein, nein. Es ist viel komplizierter.
Als er ein Kind war, in Budapest, holte die Staatssicherheit seine Großeltern, bei denen er aufwuchs. Stalins Schergen, die die Großeltern malträtieren und vergewaltigen (ein Mißverständnis, wie sich herausstellen wird), übersahen András, der nun tagelang in der Wohnung auf sich gestellt war – als Dreijähriger. »Ein Mensch mit drei Jahren fühlt sich nicht als Kind«. Dieser hier fühlte sich als König von Xanten. Die Geschichte war ihm vorgelesen worden. »Ich habe mich nie erwachsener gefühlt als damals, war nie vernünftiger gewesen, nie lebensfähiger – nämlich in der Lage, mich anzupassen. Keine Weinerlichkeit. Keine Angst. Keine Abschweifung. Keine Empathie. Keine Wahrheit, keine Lüge. Ich hätte mir zugetraut, einen Staat zu lenken.«
Die Tiere, die auf seine Decke gestickt sind, werden dem kleinen András lebendig, sie werden ihm über Jahrzehnte helfen. Sie existieren, sie haben Vernunft. Später kehren die Großeltern zurück, auch die blutjunge Mutter und ein sogenannter Vater. Man flieht aus Ungarn nach Wien, doch András bleibt gewissermaßen obdachlos, zumindest haltlos in transzendentaler Hinsicht. Es gibt keine Erziehung, seine Leute haben andere Sorgen und Lüste. Bereits das Kind gerät auf Abwege.
Man darf den Lebensweg des späteren Spazierer als ein »aus sich selbst rollendes Rad« verstehen, als Weg eines Übermenschen im zarathustrischen Sinne: »Seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene« (Nietzsche). András alias Joel ist dabei kein Gottsucher. Nicht das »credo ut intelligam« begleitet seinen Weg, sondern umgekehrt: Unser Held glaubt nicht an Gott, keineswegs tut er das (er wird in der DDR als charismatischer Professor E.-T. Koch einen Lehrstuhl für wissenschaftlichen Atheismus innehaben), er weiß, daß es ihn gibt, denn er ist ihm zweifellos begegnet.
Es gibt einen Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichkeit! Man könnte ihn kompliziert sezieren. Ähnlich verhält es sich mit der Trennung zwischen Gut und Böse. Es gibt ungezählte Traktate darüber, ebenso zum aus mittelalterlicher Zeit stammenden Streit zwischen Universalismus und Nominalismus. All diese Erwägungen vereinigen sich im abenteuerlichen Leben des Joel Spazierer, diesem von aller Welt geliebten Narren in Christo. Selten erscheint ein Buch von solcher Welthaltigkeit. Dies hier ist Weltklasse.
Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer, München 2013. 653 S., 24,90 €.