Als Florian Illies (1971) im Jahre 2000 die Generation Golf einer Inspektion unterzog, schlug er deren Grundton mittels einer Aufzählung des Samstagsinventars an: Man habe als Zehnjähriger in Schaum gebadet, dabei das Piratenschiff von Playmobil zu Wasser gelassen, hernach den Frotteemantel angezogen, Fischstäbchen von Iglo verzehrt und sich auf »Wetten daß …« gefreut.
Der amerikanische Autor David Vann (1966) würde vielleicht viel darum geben, seinen eigenen Seelenhaushalt gegen das friedvolle Mobiliar der deutschen Achtziger eintauschen zu können. Jedoch: Worüber sollte er dann schreiben? Wenn man seinen Äußerungen Glauben schenkt, dann hat Vann erst mit seinem jüngsten Buch, Goat Mountain, die »letzten Reste dessen weggebrannt, was mich ursprünglich zum Schreiben trieb, nämlich die Geschichte über meine von Gewalt geprägte Familie.«
Vann wuchs als Sohn eines Militärarztes auf, der sich das Leben nahm, als Vann dreizehn Jahre alt war und schon längst Wild geschossen und (während Illies in der Wanne den Jolly Roger hißte) auf einen Menschen gezielt hatte. Jüngst schilderte Vann diese Szene im Rahmen der Präsentation der deutschen Übersetzung seines neuen Romans: Er habe durch das Zielfernrohr auf dem Gewehr seines Vaters einen Wilderer beobachten dürfen, sei ihm mit dem Lauf gefolgt, und dann »packte mich ein Schwindel, so als stünde ich am Rand einer Klippe, und etwas in mir, von dem ich damals nicht wußte, daß es in mir ist, wollte abdrücken.«
Das ist fast wörtlich aus Goat Mountain übernommen. Aber dort drückt der elfjährige Ich-Erzähler tatsächlich ab und tötet nicht seinen ersten Hirsch, sondern seinen ersten Menschen. Der Schock darüber bleibt aus, ein Psychologe ist nicht notwendig, »vielleicht lag das an den vielen Hirschen und all den anderen toten Dingen, die ich in meinem Leben hatte herumliegen sehen.«
Die Reaktion der drei Männer, mit denen der Junge zur Jagd durfte, kennzeichnet dieses sparsame Personal des Romans: Bis zuletzt bleiben alle vier in ihren Rollen stecken: Der Vater reagiert überfordert, brutal und wehleidig (»Ich kann nichts tun. Du hast mich in eine Lage gebracht, in der ich nichts tun kann«), der Großvater entschieden und überlegen (auch körperlich!). Er stellt in einem der aufs Wesentliche reduzierten Dialoge seinen Sohn vor eine archaische Wahl: Entweder er erweise dem Getöteten Respekt und bestrafe den Enkel (»wir können ihn schlagen oder verbrennen oder erschießen und begraben, was auch immer nötig ist, um es wiedergutzumachen«), oder der Getötete sei bedeutungslos, und das Gesetz zähle nicht für diesen Wilderer (»Wir haben Vorrang. Die Sippe.«).
Bleibt noch der Freund der Familie, Tom: »Verwandelt in einem einzigen Moment. Hängende Schultern, gesenkter Kopf, Gewehr schlaff in der Hand, ein Mensch, der an der Überzeugung festhielt, man könne die Zeit zurückdrehen. Selbst mit meinen elf Jahren verachtete ich ihn.« Damit ist alles an seinen Platz gestellt und kann sich entwickeln aus der Zeitschleuse der Tötung heraus, vor der alles anders war, als es danach sein muß.
Nicht ohne Grund erinnert das Drama, das nun seinen Lauf nimmt, an eine griechische Tragödie: Vann orienttiert sich in seiner Reduzierung des Personals und seinen existentiellen Fragestellungen an den antiken Vorbildern und wählt etwa in Goat Mountain eine denkbar krasse Form der Katharsis, der Reinigung von einer, man möchte sagen: grundsätzlichen Schuld.
Er verstärkt dies dadurch, daß er nach dem Mord von Kain und Abel berichtet und jedes Kapitel mit einer Referenz an die Bibel einleitet. Wer mit Fischstäbchen und »Wetten daß …« aufgewachsen ist, sieht in dieser an der Grenze zur Wildnis agierenden, großkalibrig bewaffneten Männergruppe vielleicht eine Bande, die das eigene Camp zu verteidigen und sogar einen Mord im eigenen Geviert zu regeln in der Lage sei.
Vann indes graut vor derlei Mythen: Die Amerikaner klammerten sich aus Angst vor dem zivilen Abstieg an ihre Waffen und Pioniererzählungen, nicht aus Stärke. Mit solchen Thesen kommt er nicht gut an in einem Land, in dem jüngst in Iowa die Republikanerin Joni Ernst ihren Konkurrenten mit dem Slogan »Mutter, Soldatin, konservativ« ausstach und auch im Wahlkampf stets mit einer Pistole in der Handtasche unterwegs war. Vanns Konsequenz: In zwei Jahren war er genau für einen Tag in Amerika.