Nach seinem gerühmten Debüt Das kalte Jahr hat der gelernte Rundfunktechniker Roman Ehrlich (1983) nun einen Band mit elf Erzählungen veröffentlicht. Magischer Realismus, absurder Existentialismus, Hirnrindenprosa – solche verschatteten Schlagworte streifen bei der Lektüre den Sinn.
Man mag Duktus und Form mit Ransmayr, Botho Strauß und Kubin vergleichen, allein: Ehrlich schreibt schon in einer Sonderklasse. Weniger hermetisch – für den Leser: weniger anstrengend –, näher an der aktuellen Zeit, und dennoch abgeschieden von der Zeitgenossenschaft. Ehrlich schreibt auf Distanz.
Jede dieser Erzählungen will sich in unsere Träume schrauben. Eine Geschichte, die hier in Fragmenten erzählt wird, hat den Titel »Ein Gesuch«. Leute reagieren in Alltagssituationen verbal absurd, wenigstens aber unerwartet. Ihr konversationeller Konventionsbruch wird nicht nur hingenommen, sondern beantwortet. Sie fallen aus der Rolle, und keiner hindert sie zu fallen. Ihr Grund ist bodenlos. Oder, je nach Perspektive, gerade umgekehrt, nach Gottfried Benn: »Ein Wort, ein Satz –: / aus Chiffren stiegen / erkanntes Leben, jäher Sinn.«
Wir haben mit einer Quizshowteilnehmerin zu tun, die unversehens ihr Allerinnerstes ausplaudert und gegen jede Showüblichkeit erläutert, inwiefern sie die Diagnose »Angststörung« als »Identifkationsangebot« angenommen hat. Oder mit einem Arbeitnehmer, der darum bittet, in einem anderen Segment tätig sein zu dürfen: »Aber wenn ich nun falsch zugeordnet wurde. Diese ganzen Entscheidungen sind so früh gefallen. Ich meine, wenn es nicht meinen Begabungen entspricht. Oder meinem Charakter. Wenn tief in mir drin ein anderer als der, der ich außen sein muß, hockt und leidet. Wenn der jeden Tag schreit, weil er in Ketten liegt.« – »Ich finde, Sie sollten auf ihre Wortwahl achtgeben, schließlich leben wir in einer freien Gesellschaft«, entgegnet der Entscheider.
Und wird bald noch entschiedener: »Sie tragen ihr Anliegen vor mit größter Überzeugung und dabei kennen Sie noch nicht mal die Kraftwerke ihrer Seele beim Namen. Sie sehen, daß irgendwo am Horizont Rauch aufsteigt, aber Sie wissen nicht zu sagen, ob es sich um eine Fabrik handelt oder doch nur um ein Kartoffelfeuer. … Ich sage Ihnen, wo Ihr Ort ist. Ihr Ort hat sich, nachdem Sie ihn verlassen haben, umgeformt zu einer Pistolenkugel. Und jetzt fliegt sie Ihnen hinterher, wohin Sie auch gehen. Einen Hetzer haben Sie sich aus Ihrem Ort gemacht. Gehen Sie jetzt. Der Tag ist noch lang.« Ein Zarathustra redivivus!
In einer weiteren dieser meisterhaften Erzählungen entwickelt Herr Heym Nachbildungen von Zier- und Nutzpflanzen. Ihn fasziniert die »planende Intelligenz«, das genetisch eingeschriebene Reproduktionsprogramm der Pflanzen, das sich leider schwer durch Plastinate darstellen läßt. Heym ist halbzufrieden mit seiner Arbeit und läßt sich von einer Anzeige der »Agentur Lateralis – Alternative Realitäten« dazu verlocken, dort ein Päckchen Anderland zu buchen.
Fortan bleibt nichts, wie es war. Fraglich bleibt, was die Agentur damit zu tun hat. Wenn du denkst, du denkst, denkst du nur, du denkst … »Was folgt, bestimmt die innere Einstellung«, dieser zweideutige Sinnspruch zieht sich auch durch diese Erzählung. Roman Ehrlich ist ein großartiger Beobachter. Er deutet das Bemerkenswerte nie aus. Eine düstere, dabei nie larmoyante Stimmung durchzieht seine sprachgewordenen Bilder.
»Erst will er etwas sagen, dann wird vorne eine CD ins Radio geschoben, eine Akustikgitarre und eine Frauenstimme schwimmen durch den Bus und fallen friedlich in die Landschaft ein, diktieren das Schauen, den Rhythmus der vorüberziehenden Bäume und Fernleitungsmasten, das Hervorblitzen der Sonne durch die Äste, in die Fenster.« Große Kunst? Hier!