Walter Bauer (1904–1976) war ein äußerst produktiver Schriftsteller. Der Merseburger kam aus einfachem Haus, wurde Lehrer, begann früh mit dem Schreiben. Im Dritten Reich konnte Bauer ungehindert publizieren. Als Wehrmachtssoldat geriet er in Kriegsgefangenschaft und lebte später in Süddeutschland. 1952 emigrierte er nach Kanada.
Die Stimme ist der Monolog eines Mannes namens Richard – ein Alter ego des Autors. Einem stumm bleibenden Gegenüber berichtet er von seiner Ankunft und ersten Zeit in Toronto. Das Buch ist 1961 erstmals erschienen. Warum wäre es für uns interessant?
Zum einen aus Gründen der literarischen Qualität. Bauers Sprache ist poetisch und verdichtet, es gibt keinen falschen Ton. Eine hohe Kunst, anrührend zu schreiben ohne Rührseligkeit, nachdenklich zu schreiben, ohne den Nachdenklichen zu geben! Zum anderen ist das zeitgeschichtliche Kolorit bestechend. Bauer kam aus einem Land, das wieder brummte. Auch, weil die Tüchtigen von damals erneut den Motor am Laufen hielten – oft bruchlos.
Bauers Gedanken dazu sind leise und ohne Anklage, er klagt allenfalls sich selbst an, er sieht sich als einen aus Brueghels »Zug der Blinden«, allerdings als einen »mit Augen«: »Ich war beteiligt«. Nun kann er nicht mehr mit im Getöse der Zeit, auch nicht mit der Kühle und Sachlichkeit der neuen Intellektuellen in der alten Heimat. Er hat sich in eine geschichtslose Stadt gerettet »ohne Echo, ohne Schatten«. »Ich war in Sibirien«, schreibt Bauer – »bedeutet das noch etwas? Für den Betroffenen sicherlich; nicht für einen anderen.«
Erst recht nicht in Toronto, wo sich Gestrandete aller Herren Länder verdingen, gemeinsam schweigen, entweder dem monotonen Einsamkeitsdruck erliegen oder daraus eine unzerstörbare Härte gewinnen. Richard bleibt »stumm, es entsprach meiner Situation«. Die Vergangenheit wütet im Erzähler wie eine Krankheit, die ihn im »geheimen vergiftet und ausgehöhlt« hat. Richard geht stumpfen Hilfsarbeiten nach, das Rollen und Stampfen der Maschinen tut ihm gut.
Er redet nicht, schaut nur: auf Bill aus Griechenland, der vielleicht einst Odysseus geheißen hat, auf den Ukrainer, der sich immer noch so bewegt, »als ginge er über die Sommerfelder der Ukraine, über die ich gezerrt worden war«. Überall sind »Splitter der alten Welt«, »Blätter, von ihren Bäumen abgerissen.« Die Stimme, die Richard aus seiner Weltverlorenheit weckt, ist die einer Frau, die auf einer Platte Gedichte von Christina Rossetti spricht. Über den Kontakt mit dieser Sprecherin, die er lieben wird, beginnt Richard den Zauber der eigenen Sprache zu erkennen, die er »verlassen hatte, ohne sie je in Wahrheit verlassen zu können.«
Später lernt er den Rußlanddeutschen Wagner kennen, der ihm beibringen wird: »Es gibt keine Verlassenheit; es gibt nur die Verlassenheit dessen, der sich selber aufgibt, weil er nur Abgründe sucht. Was kommt dabei heraus? Er kriecht, der Narziß des Leidens.« Eine großartige Wiederentdeckung!
Walter Bauers Die Stimme kann man hier bestellen.