ist hundertmal erzählt worden und rasch skizziert: Geburt 1886 in Mansfeld / Westprignitz als Sohn eines evangelischen Pfarrers, 1903 Abitur in Frankfurt / Oder, 1910 Abschluß des Medizin-Studiums in Berlin, 1912 Promotion zum Dr. med.; im selben Jahr Veröffentlichung des ersten Gedichtbands: Morgue; als Oberarzt 1915 im Militärgouvernement Brüssel, im selben Jahr Geburt der einzigen Tochter; 1917 als dienstuntauglich entlassen, 1922 Tod der ersten Frau; bis 1935 Arbeit als Arzt in Berlin, daneben Lyrik, Prosa und Essayistik, unter anderem Fleisch. Gesammelte Lyrik (1917) und Gehirne (ebenfalls 1917, inklusive der Rönne-Novellen, die in Brüssel entstanden waren), dann Gesammelte Schriften (1922), mit denen Benns expressionistische Phase endet; ab 1927 Essayistik mit geschichtsphilosophischer und nihilistischer Thematik, 1932 Literatur-Streit mit Johannes R. Becher und Egon Erwin Kisch, Berufung in die Preußische Akademie der Künste; 1933 Bejahung der nationalsozialistischen Bewegung, Der neue Staat und die Intellektuellen (1933) und Dorische Welt (1934); 1935 Rückzug in die Wehrmacht (die „aristokratische Form der Emigration”), Oberstabsarzt in Hannover, danach Berlin und Landsberg / Warthe; 1938 zweite Ehe, Kriegsende in Berlin, Selbstmord der zweiten Frau; Publikationsverbot in Deutschland bis 1948, dann erscheinen Statische Gedichte (Zürich, 1948) und Drei alte Männer (Wiesbaden, 1948); dritte Ehe ab 1946, Arbeit als Arzt in Berlin bis 1953; Benn-Jahr 1949: es erscheinen Trunkene Flut, Ausdruckswelt und Der Ptolemäer; 1950 folgt Doppelleben, 1951 Probleme der Lyrik; Georg-Büchner-Preis 1951, Ehrungen zum 70. Geburtstag 1956, Tod am 7. Juli im selben Jahr. „Leben – niederer Wahn”, beginnt ein berühmtes Gedicht.
Vor ein paar Jahren errang Benn den ersten Platz in einer Umfrage: „Wer ist der bedeutendste deutsche Lyriker des 20. Jahrhunderts?”, fragte die Zeitschrift Das Gedicht. Benn rangierte vor Celan und Rilke, Brecht und Enzensberger. Gleich daneben war eine zweite Umfrage abgedruckt: „Wer ist der bedeutendste nicht-deutsche Lyriker des 20. Jahrhunderts?” Der Sieger war Ezra Pound, und es gab einen kurzen Text in einer Zeitung, der das Ergebnis der Umfragen auf einen lapidaren Nenner brachte: „Zwei Faschisten vorn”. In der Tat.
An diesem Faktum kommen die Leser und Deuter Gottfried Benns, dessen 50. Todestag am 7. Juli 2006 in allen Feuilletons begangen wurde, natürlich nicht vorbei. Natürlich: Benns expressionistische Auswürfe haben vor, seine Statischen Gedichte nach 1945 seinen Ruf als Lyriker begründet, und neben seiner Dichtung steht als eigene künstlerische Ausdrucksform der Essay: Benns poetologische Texte Probleme der Lyrik sowie Soll die Dichtung das Leben bessern? verhalfen dem modernen Dichten überhaupt und dem seinigen im Besonderen zu einer elitären Theorie. Man kann sagen, daß die Bennsche Gegenüberstellung von „Kultur-Schaffendem” und „Kunst-Schaffendem” bis heute als radikale künstlerische Anthropologie unübertroffen ist. Die Rücksichtslosigkeit, mit der Benn argumentierte (oder einfach feststellte), hat ihn berühmt gemacht. Berüchtigt hingegen ist er, weil er zwischen Januar 1933 und Mai 1934 im neuen Staat der Nationalsozialisten das Gesamtkunstwerk sah, von dem er geträumt hatte und das er – wie anders – rücksichtslos herbeischreiben wollte.
Daß er einmal so geträumt und sich für die Möglichkeit einer massenkompatiblen Umsetzung seiner Kunsttheorie so geirrt hatte, ist Benn für seinen weiteren Lebensweg als Dichter nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Problem geworden. Ein paar Jahre lang konnte er nicht publizieren. Spätestens Anfang der fünfziger Jahre war er aber der Monolith unter den deutschen Lyrikern, dessen radikaler Nihilismus einsam gegen das engagierte Schreiben einer „Gruppe 47″ stand.
Es fehlte auch jetzt, zum 50. Todestag, nicht an Versuchen, Benns Haltung zum noch jungen Dritten Reich als eine Mischung aus Verblendung und mangelnder Zurechnungsfähigkeit zu deuten. Glücklicherweise fehlt bei allen drei Biographen (Gunnar Decker, Joachim Dyck, Helmut Lethen), die zum Jubiläumsjahr eine Gesamtdeutung anbieten, diese billige Argumentation. Benn wußte natürlich, was er tat, und 1949 schrieb er an seinen Verleger Max Niemeyer: „Auch heute bin ich der Meinung, daß der N.S. ein echter und tiefangelegter Versuch war, das wankende Abendland zu retten. Daß dann ungeeignete und kriminelle Elemente das Übergewicht bekamen, ist nicht meine Schuld und war nicht ohne Weiteres vorauszusehn.” Auch wenn man alle Affekte abzieht, durch die sich Benn hin und wieder zu besonders groben und bösartigen Urteilen hinreißen ließ: Man sollte die Nähe von Benns Kunsttheorie zum Geist der faschistischen Epoche nicht vertuschen oder leugnen, die These lautet vielmehr:
„Benn hatte gefordert, daß der Staat in Zukunft mehr für die Kunst tun soll. Also Benn sah in der Tat in diesem neuen Staat die Möglichkeit, die Kunst stärker zur Geltung zu bringen, weil er der Schillerschen Meinung war, daß die ästhetische Erziehung den Menschen verändern würde. Das erwartete er vom Nationalsozialismus.”
So formuliert das der Bremer Literaturwissenschaftler Joachim Dyck in seiner Deutung der Denkbewegungen Gottfried Benns, und sein Zugriff ist besser als der von Helmut Lethen beispielsweise: nicht so glatt und virtuos, sondern hineinhorchend und bescheiden und in keinem Fall eine Selbstdarstellung, und etwas anderes kommt angesichts der Schwere der Problemstellung auch gar nicht in Frage.
Wer einen faschistischen Text von Gottfried Benn lesen will, sollte zu den Essays Der neue Staat und die Intellektuellen oder Dorische Welt greifen sowie die recht kurze Rede auf Marinetti lesen, die er hielt, als der Begründer des Futurismus aus dem faschistischen Italien zum Staatsbesuch ins nationalsozialistische Deutschland kam. Zwei Kostproben:
Die Geschichte verfährt nicht demokratisch, sondern elementar, an ihren
Wendepunkten immer elementar. Sie läßt nicht abstimmen, sondern sie schickt den neuen, biologischen Typ vor, sie hat keine andere Methode, hier ist er, nun handele und leide, baue die Idee deiner Generation und deiner Art in den Stoff der Zeit, weiche nicht, handele und leide, wie das Gesetz des Lebens es befiehlt. Und dann handelt dieser neue biologische Typ, und natürlich werden dabei zunächst gewisse Gesellschaftsverhältnisse verschoben, gewisse erste Ränge freigefegt, gewisse Geistesgüter weniger in Schwung gehalten.
Große, innerlich geführte Jugend, der Gedanke, der notwendige Gedanke, die überirdischste Macht der Welt, mächtiger als das Eisen, mächtiger als das Licht, gibt dir recht: die Intelligenz, die dir schmähend nachsieht, war am Ende; was sollte sie dir denn vererben; sie lebte ja nur noch von Bruchstücken und Erbrechen über sich selbst. Ermüdete Substanzen, ausdifferenzierte Formen, und darüber ein kläglicher, bürgerlich-kapitalistischer Behang. Eine Villa, damit endete für sie das Visionäre, ein Mercedes, das stillte ihren wertesetzenden Drang. Halte Dich nicht auf mit Widerlegungen und Worten, habe Mangel an Versöhnung, schließe die Tore, baue den Staat!
Probleme nicht zu lösen, Entscheidungen nicht zu treffen, sondern an runde Tische zur „Lösungsfindung” weiterzugeben und ihnen dadurch auszuweichen; den Eindruck einer „ermüdeten Substanz” zu hinterlassen und sich trotz der Stagnation im Lande „mit Widerlegungen und Worten” aufzuhalten; stets auf das Verständnis anderer zu hoffen und sie dafür heimlich auszulachen: Gegen solche Tendenzen oder Paradigmen sind Benns Worte vom „Mangel an Versöhnung” gerichtet, in ihnen steckt etwas vom Recht der Entschiedenheit, vom Recht dessen, der handelt. Sie sind der Schlußpunkt unter das ewige Gerede, und solche radikalen Setzungen können auf fruchtbaren Boden fallen, wenn die Zeit reif ist und die Politik ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat.
Gottfried Benn hielt am 24. April 1933 die Zeit für reif und sprach seine zeitlich doch auch ungebundenen Sätze aus Der neue Staat und die Intellektuellen im Radio, die beiden eben zitierten Passagen sind diesem Vortrag entnommen. Drei Monate zuvor war tatsächlich die von vielen als unentwegtes Gerede wahrgenommene Politik der Weimarer Republik an ihr Ende gekommen: Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler brachte nach Italien und Spanien das dritte totalitäre System in Europa an die Macht. Was zunächst aussehen konnte wie der abermalig hektische Wechsel des Personals an der Spitze eines bankrotten Staats, entpuppte sich in wenigen Wochen als der Versuch, das „Ich” des Parteienstaats in ein „Wir” der Volksgemeinschaft und des Führerstaats zu überführen und einen neuen Menschen zu züchten.
Bevor dieser große Aufbruch in Etzels Saal endete, unterstellten sich Teile der deutschen Intelligenz dem neuen Gebot. Berühmt geworden sind die Verstrickungen des Philosophen Martin Heidegger, des Anthropologen Arnold Gehlen, des Komponisten Richard Strauss, der Regisseurin Leni Riefenstahl, des Bildhauers Arno Breker und eben des Schriftstellers Gottfried Benn in die Machtpolitik des NS-Staats. Sie alle traten ab 1933 in die seltsame Realisierungsphase ihrer künstlerischen oder wissenschaftlichen Projekte ein, seltsam deshalb, weil die Bodenberührung so durch und durch politisch war mit einem Schlage, willentlich propagandistisch sogar bei manchen. Und gerade dies widersprach doch dem Selbstbild dieser Künstler, die das sozialistische Engagement ihrer linken Kollegen stets als das Ende der Kunst angesehen hatten.
Daß man Benn, Riefenstahl, Heidegger und anderen nach dem Krieg Versagen in sittlichen, moralischen, ethischen, zivilisatorischen Fragen vorwarf, gehört zum Schicksal der Verlierer. Nur hat dieses moralische Tribunalisieren, das nebenbei auf dem bolschewistischen Auge blind zu sein schien, nie – und vor allem nicht in Bezug auf Benn – die richtigen Fragen gestellt, und die Verteidiger Benns haben dadurch, daß sie seinen Rückzug in die innere Emigration in den Vordergrund rückten, eine ebenso unzutreffende moralische Antwort gebastelt. Dabei werfen die Denkbewegungen der Mitmacher doch zuallererst die Frage auf, wie sich Kunst und Macht zueinander verhalten.
Benn hat 1934 den bereits erwähnten Essay Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht vorgelegt. Dieser Text ist eine Summe, an ihm lassen sich verblüffende Beobachtungen machen: Wenn Benn den Faschismus als Gegenmacht begrüßt und seine Dynamik feiert, drückt er Stimmungen und Bedürfnisse einer ganzen Generation aus. Wenn Benn das Rabiate und Rücksichtslose der Machtergreifung theoretisch rechtfertigt und praktisch sogar an einer Stelle vollzieht, bleibt er innerhalb seiner Auffassung von Verlaufsgesetz und Sinnhaftigkeit eines geschichtlichen Moments. Wenn Benn den faschistischen Staat begrüßt, vertritt er auf politischer Ebene das, was er in seiner eigenen Poetologie, seiner Theorie vom Dichten, Formen, Kunstwerk-Erschaffen, längst vorher immer radikaler herausgearbeitet hat. Und zuletzt: Wenn Benn spätestens Ende 1934 in die innere Emigration abtaucht, dort weiterdichtet und nach 1945 seine Statischen Gedichte und den Roman des Phänotyp aus der Schublade zieht, hat er seine Chaos-Form-Theorie wieder nicht verändert, sondern nur konsequent weiterentwickelt, oder: restlos desillusioniert, oder: den Faschismus im Sinne eines Anspruchs an den Einzelnen als Eliten-Phänomen begriffen und ihn gegen den Nationalsozialismus abgeschirmt.
Fragwürdig mag es klingen, daß Gottfried Benn mit seiner Bejahung der faschistischen Machtübernahme die Bedürfnisse einer ganzen Generation ausgesprochen haben soll. Man konnte aber nicht bloß über das Ressentiment, sondern auch mit einem beträchtlichen intellektuellen Aufwand und am Ende eines langen Denkweges beim Faschismus ankommen. Nicht nur, aber vor allem in Deutschland wurde die demokratische Verfassung, wurde die Schwäche des Systems, seine Unentschiedenheit, seine Dekadenz, vor allem aber: seine Unfähigkeit eine Vision zu formulieren als Rechtfertigung dafür angesehen, den Liberalismus und den Parlamentarismus bald zu überwinden. Ablehnung des Bestehenden also.
„Den großen Verneinungen”, schrieb Eberhard Straub in seinem Aufsatz Die Ursprünge des Faschismus, Sezession 3, Oktober 2003, „stehen die großen Bejahungen zur Seite: Ein neuer Mensch, eins mit einer wahrhaften nationalen Kultur, die ihn befreit von den lebensfeindlichen Mächten trockener Rationalität und Funktionstüchtigkeit, die vielmehr die Leidenschaften wieder in ihr Recht setzt, den Enthusiasmus weckt, die Sinne rehabilitiert und alle in ein nationales Leben hineinzieht, das jedem zu einer gesteigerten Existenz verhilft, das Individuum hinter sich lassend, in seiner Person die Nation, deren mythische Vitalität, zu verkörpern.”
Diese Sehnsucht, in einer haltlosen, unübersichtlichen Lage ordnende Kraft zu erfahren, sich einer sichernden und wegweisenden Macht gerne zu unterwerfen, war die Stimmungslage der breiten Masse am Wendepunkt zur faschistischen Epoche. Daß die gesellschaftliche, soziale Auflösung, unter der viele litten, ihren Vorlauf im Geiste hatte, läßt sich am besten mit Nietzsches Begriffen von der Entwertung aller Werte und dem Nihilismus fassen, dann mit Spengler in eine große Kulturmorphologie übersetzen.
Gottfried Benn hat – wie viele andere Künstler – das Problem der Unverbindlichkeit, die Auflösungstendenzen der Moderne als Krise und Ende der Normativität wahrgenommen. Die Verharmlosung und Banalisierung des Menschen durch seine sozialdemokratische Abfederung, das heißt: die Reduzierung der Problemlage der modernen Welt auf Umschichtungsfragen im Zusammenhang mit der Ungleichheit der Lebensumstände, kam seinen Vorstellungen von dem, was der Mensch sein könnte, nicht im mindesten entgegen. Er sah darin eher den Verlust des schöpferischen Milieus. Immer schärfer wandte sich Benn gegen Schriftsteller, die sich und ihre Arbeit für die soziale Frage zur Verfügung stellten, die sich also engagierten. Benn prallte hart mit Egon Erwin Kisch und Johannes R. Becher zusammen, als er seine eigene Theorie von der Aufgabe des Künstlers, des Dichters im besonderen, noch einmal darstellte.
Diese Theorie ist unmoralisch und asozial. Sie ist konsequent künstlerisch und vollzieht von desillusionierter Warte aus das nach, was Friedrich Schiller in seiner Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts noch mit emphatischem Glauben an die Macht der Kunst als die neue Erzieherin der Menschen vorformuliert hatte. Schiller (und Goethe) und vor allem auch Friedrich Hölderlin hatten die dürre Rationalität der Aufklärung, die Zerstörung des auf Gott ausgerichteten Kosmos, die auflösende Wirkung des frei wildernden Geistes zur Genüge studieren können. Sie hatten gesehen und geahnt, was diese Tendenzen für die ethisch-moralische Bindung des Menschen bedeuten würde, und für seine Tendenz nach unten hin zum Hausschwein und nicht nach oben zu den Göttern.
Schillers Theorie versuchte nun, für die Leerstelle der normativen Kraft Gottes wenigstens einen Ersatz zu finden. Seinem Versuch, das Menschengeschlecht ästhetisch zu erziehen, wohnte der Glaube an die normative Kraft des Kunstwerks, an seine erzieherische Ausstrahlung und an die Erkenntnis- und Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen inne. Diese Kunstauffassung legt die ordnende Form, die gebändigte Sprache, die Strenge, das Maß, die Proportion zugrunde. Die Form rückt dadurch in ihrem Verhältnis zum Inhalt in den Vordergrund. Das ist Klassik, Weimarer Klassik in diesem speziellen Fall.
Man tut Benns Kunsttheorie keine Gewalt an, wenn man sie in den entscheidenden Punkten mit der von Schiller parallel legt. Benn hat dies selbst getan und neben den Sturm und Drang seinen frühen Expressionismus, neben die Weimarer Klassik seine Statischen Gedichte gestellt, um Entwicklungslinien zu kennzeichnen. Von den Auflösungstendenzen der Moderne war bereits die Rede, und Nietzsche hatte zuletzt mit allen Versuchen aufgeräumt, irgendwo noch etwas Normatives zu setzen. Die Zerstörung dessen, worauf vertrauend oder mit Gewißheit gebaut werden konnte, war abgeschlossen. Benn leitete daraus zunächst die Beschränkung seiner, des Dichters Möglichkeiten ab: Niemals mehr war der große Wurf im Stile der Weimaraner möglich, Normativität von Dauer zu schaffen blieb eine Utopie, jedenfalls für die „geschichtliche Welt” des Alltäglichen und der Politik.
Ganz im Sinne der mittelalterlichen Lehre von den zwei Reichen (dem weltlichen und dem göttlichen) stand nun aber der „geschichtlichen Welt” die „Ausdruckswelt” zur Seite. In ihr sei der Dichter „fähig, produktiv das zu wahren und zu ersetzen, was an äußerer Welt tragisch und für immer verlorengegangen” ist (aus einem Brief 1950). Das bedeutet: Indem der Dichter den Worten eine Form gibt, bildet er im Mikrokosmos den Makrokosmos nach, der zerstört, zerdacht, zerfallen bleibt. Und diese Formung ist die Konsequenz des Nichts und des Chaos, das die Moderne übriggelassen habe. Benn spricht von der „formfordernden Gewalt des Chaos”, und sein Dichter – er – wird zu einem, der ins Chaos greift, eine Form bildet, sie als Abglanz der vordem großen Ordnung hinstellt, zusammenhangslos neben allen anderen so entstandenen Gebilden. Es ist dies: erreichte Normativität im einzelnen Kunstwerk. Statisch daran ist das Gebundene, der Verzicht auf Schrankenlosigkeit und die Einsicht, daß Beschränkung die Voraussetzung für Perfektion und somit für das gültige Abbild, den gültigen Abglanz ist.
Der Weg zum Faschismus ist nun nicht weit. Und es bietet sich an dieser Stelle an, die wichtige Unterscheidung zwischen Nationalsozialismus und Faschismus dadurch vorzunehmen, daß der Nationalsozialismus eher als politisch-soziales Programm, der Faschismus als Verhaltenslehre und ästhetisches Phänomen aufgefaßt wird. Benn sah im Faschismus seine Heimat und nahm ihn als neuen Stil wahr: als kalten Stil der eingefrorenen Masse, statisch, klar, gestisch. Am besten illustriert dies Benns Rede auf Marinetti, jenen Futuristen aus Italien, der kurz nach der Machtergreifung Hitlers in Berlin als Gast eintraf und den Benn offiziell und mit einem kurzen Text begrüßte. Darin unter anderem:
„Form -: in ihrem Namen wurde alles erkämpft, was Sie im neuen Deutschland um sich sehen; Form und Zucht: die beiden Symbole der neuen Reiche; Zucht und Stil im Staat und in der Kunst: die Grundlagen des imperativen Weltbildes, das ich kommen sehe. Die ganze Zukunft, die wir haben, ist dies: der Staat und die Kunst.”
Daß dies hoch gezielt und weit über das hinausgeschossen war, was der NS-Staat für einen wie Benn tatsächlich sein konnte, hat Gunnar Dekker in seiner Biographie im Kapitel „Marinetti oder Die Kunst der Aggression” detailreich dargestellt.
Armin Mohler hat drei Jahrzehnte früher seine Definition des faschistischen Stils vor allem auf diese Äußerungen Benns gestützt, die das krasse Gegenwort zu allen Versuchen einer sozialen Nutzbarmachung der Kunst sind. Benn sah im Faschismus (und den frühen Nationalsozialismus betrachtete er vor allem als Faschismus) eine formgebende Kraft in seinem kunsttheoretischen Sinne und jene schöpferische Antidekadenz, die den Menschen auch angesichts des grausamen Nichts ringsum nicht herabwürdige zu einem abgesicherten, warmgebetteten Verbraucher.
Benn sah das Milieu für Kunstwerke und Formgebungen in seinem Sinne realisiert. Wie verhalten sich nun Kunst und Macht zueinander?
„Der Staat, die Macht reinigt das Individuum, filtert seine Reizbarkeit, macht es kubisch, schafft ihm Flächen, macht es kunstfähig. Ja, das ist vielleicht der Ausdruck: der Staat macht das Individuum kunstfähig, aber übergehen in die Kunst, das kann die Macht nie.”
Aufgabenteilung steckt in diesen Sätzen aus der Dorischen Welt: Selbstbegrenzung des Individuums, Drang zur Strenge, oder mit Nietzsches Geburt der Tragödie gesagt: Zum dionysischen Rausch hat die apollinische Strenge hinzuzutreten, damit Kunst entsteht, ein Gebilde. Das ist der Faschismus eines Künstlers. Das ist Benn, der Faschist. Sich darüber klarzuwerden, daß der Nationalsozialismus diese reinigende Macht nicht war, ist Benns Weg bis 1934.