Lorenz Jäger, der das Buch schon vor fast genau zehn Jahren wiederentdeckt hat, verweist in seiner Besprechung auf die “ungemein starke satirische Kraft in der Vision, die der europäische Zerfallsprozeß freisetzt”; Raspails literarische Leistung gehe daher “über das Groteske und Apokalyptische weit hinaus”.
Dabei streift Jäger auch die aktuelle Lage: während bei Raspail die Institutionen zusammenbrechen, sei “das deutsche Wunder (…) die – bislang noch – relative Stabilität der Verwaltungen”, auch wenn es bereits “vernehmlich knirscht”, ein “unangenehmes Begleitgeräusch”, das vermutlich “zunehmen” wird.
Einen kleinen Zeigefinger erhebt er zum Schluß: “Aber eine apokalyptische literarische Erfindung ist kein Ratgeberbuch, auch nicht für die intellektuelle Rechte.” Da kann ich ihn beruhigen: als “Ratgeber” soll man das “Heerlager” gewiß nicht lesen – sondern als satirisch verfremdete Brille, durch die man viele Dinge genauer sehen kann, “zur Kenntlichkeit entstellt” sozusagen.
Und genau das wird dazu führen, was auch Jäger vermutet: “Das Heerlager der Heiligen dürfte ein Kultbuch werden”, schreibt er zum Abschluß seiner heutigen Rezension. Hier kann man bestellen und den Kultstatus festigen. Sodann:
Bereits letzten Freitag brachte die FAZ einen ausgezeichneten, ausführlichen Bericht über einen weiteren (künftigen) Antaios-Autor: der 1946 geborene französische Literat Renaud Camus hat den Begriff des “großen Austauschs” geprägt, der zum Stichwort einer großen Kampagne der Identitären Bewegung wurde.
In Frankreich ist er aus den Debatten nicht mehr wegzudenken (Michel Houellebecq erwähnt ihn en passant in seinem Roman “Unterwerfung”), obwohl er seinen Mut teuer mit einem Paria-Status bezahlen mußte.
“Le grand remplacement“ (etwa: der große Bevölkerungsaustausch) lautet das Schlagwort, das Camus erfand und inzwischen in keiner Debatte über die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik fehlt. Für die Linke ist es ein Unwort. Doch auf der Rechten, bei den Republikanern und im Front National ist der Begriff (nicht der Autor) inzwischen salonfähig. Dazu hat maßgeblich Eric Zemmour beigetragen, der französische Publizist, dessen düstere Analyse vom Selbstmord Frankreichs, „Le suicide français“, mehr als eine halbe Million Mal verkauft wurde. Zemmour hat die Idee vom „grand remplacement“ popularisiert. (…)
Camus sieht sich als Teil einer großen Bewegung gegen die Uniformierung der Welt. „Ich will nicht in einem Land ohne Geschichte, ohne Grenzen und ohne Kultur leben“, sagt er. In den achtziger Jahren war er Stipendiat in der Villa Medici in Rom, und er sagt, noch heute fühle er sich als echter Europäer. (…) Camus schildert verbittert, wie er von den Medien und den Verlagshäusern geächtet werde, seit er 2012 zur Wahl Marine Le Pens aufrief. Doch demnächst, sagt er, soll „le grand remplacement“ in deutscher Sprache herauskommen.
Diese deutsche Ausgabe wird natürlich bei Antaios erscheinen – wo sonst? “Revolte gegen den großen Austausch” wird eine Auswahl von Schlüsseltexten des Autors aus den Jahren 2010–2015 versammeln, man kann ab heute hier vorbestellen. Die Übersetzung übernehme wiederum ich, und ich kann jetzt schon sagen, daß es diese Aufsätze und Reden in sich haben: sie sind ebenso scharfsinnig wie differenziert, gleichermaßen Klage um Europa wie Anklage gegen seine Zerstörer.
Camus ist deswegen geächtet, weil er eine Wahrheit ausspricht, die vor uns aller Augen liegt und die niemand ernsthaft bestreiten kann, die aber gerade deshalb zum verminten Gelände erklärt wurde. Sein Verdienst ist allerdings noch größer: denn er zeigt in aller Deutlichkeit den bösartigen Zynismus und den verbrecherischen Impetus hinter der Ideologie des “remplacisme” auf, der sich gerne eine moralistische Maske aufsetzt.
In meinem Buch “Kann nur ein Gott uns retten?” habe ich eine sehr schöne und traurige Stelle aus Camus’ Tagebüchern zitiert – hier ist sie in voller Länge:
Daß ich eines Tages von der Melancholie der Historie befallen sein würde, ist das letzte, das ich als Kind befürchtet hätte. Wäre ich in einem glücklichen Land geboren, einem Land, das eine glückliche Phase seiner Geschichte erlebt, hätte ich diesen Umstand vermutlich gar nicht wahrgenommen, geschweige denn mich darüber gefreut. Ich hätte mir gesagt, daß es auf die individuellen Schicksale ankommt, daß das wichtigste im Leben die Entfaltung der eigenen Talente und Energien ist, daß die hauptsächliche Aufgabe darin besteht, sein individuelles Glück oder zumindest sein Schicksal zu bestimmen. Ebenso hätte ich wahrscheinlich nicht viele Gedanken darauf verschwendet, Franzose zu sein. Das liegt eigentlich nicht in meiner Natur.
Ich bin so wenig wie nur möglich chauvinistisch veranlagt, und ich liebe die Kunst und die Landschaften anderer Nationen ebenso wie die meiner eigenen, und wenn man mir die Wahl gelassen hätte, wäre ich ohne Zweifel lieber Engländer gewesen, da mir das Temperament jenseits des Ärmelkanals näher liegt als das hiesige. Und dennoch: wenn man versucht, mich daran zu hindern, Franzose zu sein, wenn man beabsichtigt, mir eine Seinsform aufzuzwingen, die derart kulturlos, verwässert und trostlos ist, wie die heute uns beherrschende, so weckt das in mir das Bewußtsein eines wahren Seins und mein Verlangen nach ihm – sei es aus Stolz oder aus Widerspruchsgeist, was oft dasselbe ist. Und dieses Verlangen kann nur ein melancholisches sein, dieses Bewußtsein nur ein unglückliches. Wie die Liebe zur Landschaft und die Liebe zur Sprache, so kann die Liebe zu Frankreich heutzutage nur mehr zu einer großen Traurigkeit führen.
Ich verstehe nicht, wie man nicht darunter leiden kann, Bürger eines Landes zu sein, das stirbt, das noch dazu so schmutzig, so dumm, so niederträchtig stirbt. Zwei Katastrophen sind zur selben Zeit über mein Land hereingebrochen. Erstens die Nivellierung seiner Kultur durch einen sozialen Egalitarismus unter dem Vorwand „die Massen zu bilden“ und der Diktatur des Kleinbürgertums, zweitens die Auflösung eines Volkes auf seinem nationalen Territorium zugunsten eines anderen oder mehrerer anderer Völker. Ich weiß nicht, welche von beiden mich am meisten belastet. In Wahrheit ist die eine nicht von der anderen zu trennen. Eine bedingt die andere, eine läuft direkt darauf hinaus, die andere zu vollenden.
masseltov
chapeau, herr lichtmesz. qualität setzt sich eben doch durch.
p.s.: eine frage: was steht im orginal (französich) für ein
ausdruck, den sie mit "kohldampf" übersetzten?
(m.a. ein soziolektischer begriff aus der soldaten/arbeitersprache,
keineswegs aus dem fundus raspails...).
M.L.: Na, Raspail benutzt gerne ziemlich deftige Ausdrücke. Im Original steht: "Le professeur sentit un faim bien franche lui mordre l'estomac".