“Historikerstreit” oder Eine Form der Herrschaftsausübung

pdf der Druckfassung aus Sezession 14/Juli 2006

sez_nr_143von Stefan Scheil

Es soll Menschen geben, die halten Geschichtsforschung für eine Sparte der Wissenschaft. Eine immerhin beachtliche Zahl von Personen verdient schließlich ihren Lebensunterhalt auf Basis dieser Annahme durch die Wahrnehmung von universitären Lehr- und Forschungsaufträgen. Wissenschaften aber beschäftigen sich bekanntlich mit dem Feststellen von Tatsachen und mit dem Versuch, diese festgestellten Tatsachen möglichst sachlich richtig und effektiv zu interpretieren. Es gab jedoch auch immer Menschen, die bestritten haben, daß Geschichtsforschung in diesem Sinn überhaupt wissenschaftlich sein kann. Ihre Argumente sind nicht leicht beiseite zu schieben. Die Menge vergangener Tatsachen ist unendlich groß, wichtige Elemente sind für immer verloren, die Auswahl eines Historikers aus dem verbleibenden Angebot entzieht sich in dieser Sicht zudem jeder objektiven Kritik. Worüber geredet und geschrieben wird, entscheidet demnach der Wille der Beteiligten. Fragen der Geschichtswissenschaft wären daher Machtfragen.


Wer sich vor zwan­zig Jah­ren in deut­schen Fach­zeit­schrif­ten und Feuil­le­tons umsah, der konn­te schwer­lich einer ande­ren als der zwei­ten Posi­ti­on zustim­men. Die geis­ti­ge Welt der Bun­des­re­pu­blik sah sich auf­ge­rüt­telt von einem „His­to­ri­ker­streit” bekann­ter Intel­lek­tu­el­ler dar­über, was man sagen dür­fe und was nicht. Es ging dabei von Anfang an nicht um inhalt­li­che Klar­stel­lun­gen, son­dern um Herr­schafts­aus­übung. Wich­ti­ge Prot­ago­nis­ten der angrei­fen­den Par­tei wie Jür­gen Haber­mas oder Rudolf Aug­stein mach­ten kein Hehl aus ihrer Ahnungs­lo­sig­keit in der Sache. Sie unter­stell­ten den Opfern ihres Über­falls wie Ernst Nol­te oder Andre­as Hill­gru­ber frank und frei Din­ge, die die­se nicht gesagt hat­ten, bestrit­ten aber zum Aus­gleich man­ches, was als his­to­ri­sche Tat­sa­che schlicht und er grei­fend fest­stand. Im Krieg, auch im intel­lek­tu­el­len, bleibt die Wahr­heit als ers­tes auf der Stre­cke. Man konn­te das 1986 sehr genau beobachten.
Nun trifft es nicht zu, daß die Ver­gan­gen­heit wis­sen­schaft­li­cher Erfor­schung unzu­gäng­lich sei. Inner­halb der Gren­zen, die mensch­li­cher Erkennt­nis gezo­gen sind, läßt sich hier durch­aus objek­tiv arbei­ten. Aller­dings ist die­se Objek­ti­vi­tät ein zar­tes Pflänz­chen, das ledig­lich bei ent­spre­chen­der Pfle­ge und Selbst­dis­zi­plin gedei­hen kann und natür­lich – um im Bild zu blei­ben – etwas Nah­rung durch die mil­de Son­ne seriö­ser wis­sen­schaft­li­cher Aus­ein­an­der­set­zung benö­tigt. Das gilt prin­zi­pi­ell für alle Wis­sen­schaft, und obwohl sich die Natur­wis­sen­schaf­ten in die­ser Hin­sicht als die etwas wet­ter­fes­te­re Bran­che erwie­sen haben, bleibt an der Fest­stel­lung Lich­ten­bergs vie­les rich­tig: „Ein etwas vor­schnip­pi­scher Phi­lo­soph, ich glau­be Ham­let, Prinz von Däne­mark, hat gesagt, es gäbe eine Men­ge Din­ge im Him­mel und auf Erden, wovon nichts in unse­ren Kom­pen­di­en stün­de. Hat der ein­fäl­ti­ge Mensch, der bekannt­lich nicht recht bei Trost war, damit auf unse­re Kom­pen­di­en der Phy­sik gesti­chelt, so kann man ihm getrost ant­wor­ten: gut, aber dafür ste­hen auch wie­der eine Men­ge Din­ge in unse­ren Kom­pen­di­en, wovon weder im Him­mel noch auf der Erde etwas vorkommt!”

Auf daß sich die Zahl der letz­te­ren beacht­lich meh­ren soll­te, hat­te es schon vor dem His­to­ri­ker­streit eine denk­wür­di­ge Aus­ein­an­der­set­zung gege­ben: den Posi­ti­vis­mus­streit der sech­zi­ger Jah­re. Ging es Jür­gen Haber­mas und Co. zwan­zig Jah­re spä­ter um die Fra­ge der poli­tisch kor­rek­ten Geschichts­be­trach­tung und die Eli­mi­nie­rung stö­ren­der Tat­sa­chen aus der Dis­kus­si­on, so gab es zuvor den etwas in Ver­ges­sen­heit gera­te­nen Ver­such, auch die Natur­wis­sen­schaf­ten und vor allem die Sozio­lo­gie „kor­rekt” zu gestal­ten. Unter ande­rem wur­de von der Frank­fur­ter Schu­le und Haber­mas der Vor­wurf erho­ben, eine Kon­zen­tra­ti­on auf das Sam­meln von Fak­ten und die Prü­fung von Inter­pre­ta­ti­ons­mo­del­len, wie sie die Posi­ti­vis­ten angeb­lich vor­nah­men, habe ent­we­der kein poli­ti­sches Rück­grat oder sei über­haupt eine Moge­lei. Wert­freie Posi­ti­vis­ten neig­ten dem­nach dazu, alles Das­ei­en­de zu recht­fer­ti­gen – ergo auch die jeweils bestehen­den poli­ti­schen Ver­hält­nis­se. Da der Faschis­mus­ver­dacht schon damals die gän­gi­ge Wäh­rung war, lan­de­te man dabei als angeb­lich schla­gen­des Bei­spiel bei der „deut­schen Phy­sik”, die von völ­ki­schen Vor­den­kern vor und nach 1933 pro­kla­miert wor­den war. Ein Blick auf die Fak­ten hät­te hier bereits der Debat­te den Boden ent­zie­hen kön­nen: Die deut­sche Phy­sik war von den Posi­ti­vis­ten in der Tat nicht ernst­ge­nom­men worden.
Unter den Kon­tra­hen­ten der dama­li­gen Aus­ein­an­der­set­zung fan­den sich bekann­te Namen. Theo­dor Ador­no, Max Hork­hei­mer und Jür­gen Haber­mas auf der einen Sei­te, Hans Albert, Arnold Geh­len, Ernst Topitsch und Karl Pop­per auf der ande­ren. Im wesent­li­chen war es auch damals Jür­gen Haber­mas, der aus einer zunächst im Stil der alten Ordi­na­ri­en­uni­ver­si­tät insze­nier­ten intel­lek­tu­el­len Debat­te eine öffent­li­che mach­te. Er blieb spä­ter die­ser Metho­de durch­aus treu. Wesent­li­che Stil­ele­men­te kehr­ten daher im His­to­ri­ker­streit wie­der: Zum einen gab es den „Posi­ti­vis­mus” nie, gegen den Haber­mas damals zu Fel­de zog. Nie hat­te jemand die von ihm ange­grif­fe­nen Posi­tio­nen ver­tre­ten und die­je­ni­gen, die Jahr­zehn­te vor­her wenigs­tens eine ähn­li­che Hal­tung ein­ge­nom­men hat­ten, hat­ten sich längst wei­ter­ent­wi­ckelt. Zum ande­ren warf Haber­mas mit sei­ner künst­li­chen Zusam­men­stel­lung einer Rei­he von Per­so­nen zur ein­heit­li­chen Grup­pe voll­kom­men hete­ro­ge­ne intel­lek­tu­el­le Posi­tio­nen will­kür­lich in einen Topf.
Man konn­te die­se Metho­de im His­to­ri­ker­streit erneut erken­nen. Weder hat­ten die von Haber­mas in sei­ner Angriffs­er­öff­nung in der Zeit nament­lich atta­ckier­ten Ernst Nol­te, Micha­el Stür­mer, Klaus Hil­de­brand und Andre­as Hill­gru­ber die ihnen vor­ge­wor­fe­nen Posi­tio­nen über­haupt je ver­tre­ten, noch stell­ten sie bei nüch­ter­ner Betrach­tung eine Grup­pe dar, bei der man von Gemein­sam­kei­ten in der Sache oder gemein­sa­men geschichts­po­li­ti­schen Zie­len spre­chen konn­te. Da die Namen nun ein­mal im Raum stan­den, titu­lier­te Elie Wie­sel die vier Genann­ten den­noch im Jar­gon der mao­is­ti­schen Volks­re­pu­blik als „Vie­rer­ban­de”, was den Inten­tio­nen von Haber­mas kaum zuwi­der­lief. Haber­mas selbst mach­te immer­hin einen gewis­sen funk­tio­na­len Unter­schied zwi­schen Hil­de­brand und Stür­mer auf der einen, Nol­te und Hill­gru­ber auf der ande­ren Sei­te gel­tend. Ers­te­re hät­ten den „Revi­sio­nis­mus” der letz­te­ren „emp­foh­len”.

Die Angrif­fe ziel­ten unter die Gür­tel­li­nie. Per­sön­lich zu Her­zen nahm sie sich ins­be­son­de­re Hill­gru­ber, der nicht nur von Haber­mas, son­dern auch von Rudolf Aug­stein ins Visier genom­men wur­de. Er sah sich im Spie­gel als „kon­sti­tu­tio­nel­ler Nazi” titu­liert, wobei unge­klärt blieb, was außer der belei­di­gen­den Absicht damit gemeint sein konn­te. Neben Ernst Nol­te wur­de Hill­gru­ber zur tra­gi­schen Figur die­ses Streits, aller­dings aus völ­lig ande­rem Grund. Wäh­rend Nol­te mit sei­ner Deu­tung des Faschis­mus als eines Epo­chen­phä­no­mens einen gro­ßen und dau­er­haft irri­tie­ren­den Wurf gelan­det hat­te, hat­te Hill­gru­ber zu die­ser Zeit an sei­ner Habi­li­ta­ti­ons­schrift über „Hit­lers Stra­te­gie” gear­bei­tet und ihr eine Ten­denz gege­ben, die ob sei­nes dau­er­haf­ten Ein­flus­ses eigent­lich Haber­mas’ Lob ver­dient gehabt hät­te. Wäh­rend damals bereits das Tor zu einer dif­fe­ren­zier­ten Betrach­tung der Ursa­chen etwa des Unter­neh­mens Bar­ba­ros­sa weit offen­stand, nicht zuletzt durch die Arbei­ten des ihm wohl­be­kann­ten Phil­ipp Fabry, schlug Hill­gru­ber die­ses Tor 1965 laut kra­chend zu. Als Vehi­kel dien­ten ihm dabei Mut­ma­ßun­gen über Hit­ler­sche „Stu­fen­plä­ne” zur Welt­erobe­rung und des­sen angeb­lich „axio­ma­ti­sche Fixie­rung” auf einen Ruß­land­feld­zug. Für bei­des gab es kei­ne Quel­len­be­le­ge, das räum­te er bei­läu­fig ein. Damit hät­te die­se Posi­ti­on inner­halb der Geschichts­wis­sen­schaft eigent­lich erle­digt sein müs­sen, denn wor­über es kei­ne Quel­len gibt, dar­über läßt sich allen­falls in aller Vor­sicht spe­ku­lie­ren. Es zum Leit­fa­den einer Dar­stel­lung des Ruß­land­feld­zugs oder gar des Zwei­ten Welt­kriegs über­haupt zu machen, war ein Ver­stoß gegen ele­men­ta­re Stan­dards der Geschichts­schrei­bung und eine wis­sen­schaft­li­che Todsünde.
Den­noch setz­te Hill­gru­ber in den Fol­ge­jahr­zehn­ten die Maß­stä­be, nicht Fabry. Und genau die­se Maß­stä­be schu­fen die Basis für die völ­lig ahis­to­ri­sche Inter­pre­ta­ti­on der deut­schen Zeit­ge­schich­te unter Aus­blen­dung der zu jeder Zeit selbst­ver­ständ­li­chen Wech­sel­wir­kun­gen inter­na­tio­na­ler Poli­tik, zumal in Kriegs­zei­ten. Das von Clau­se­witz for­mu­lier­te „Gesetz des Krie­ges”, der sich wech­sel­sei­tig bedin­gen­den Stei­ge­rung der Gewalt­an­wen­dung, blieb unbe­ach­tet. Das galt für den Ruß­land­feld­zug wie für die gesam­te Pha­se der mili­tä­ri­schen und ideo­lo­gi­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen 1900 und 1945.
„Hit­ler wars”. Als dies in der zuneh­men­den Kon­junk­tur von psy­cho­lo­gi­schen und sozi­al­ge­schicht­li­chen Deu­tun­gen metho­disch denn doch zu dürf­tig schien, „war es” auch die Mili­tär­füh­rung, die Beam­ten­schaft, die Indus­trie, dann der Wider­stand des 20. Juli und in einer der letz­ten gelun­ge­nen Insze­nie­run­gen aus dem Haber­mas-Umfeld schließ­lich „die Wehr­macht”, die das Reemts­ma-Insti­tut für Sozi­al­for­schung in sei­nen Aus­stel­lun­gen als Popanz los­ge­löst von allen Wech­sel­wir­kun­gen in Bezug auf die Rote Armee vor­führ­te. Am Ende soll­ten es prak­tisch alle „gewe­sen sein”, jeden­falls soweit sie Deut­sche waren. Götz Aly trieb die Din­ge im Jahr 2005 mit Hit­lers Volks­staat auf die Spit­ze. Die Zeit rief aus die­sem Anlaß zum wie­der­hol­ten Mal den nächs­ten His­to­ri­ker­streit aus, für die­ses Mal aller­dings ver­ge­bens, denn Alys Ankla­ge des deut­schen Vol­kes als Pro­fi­teur der NS-Herr­schaft wies pas­sa­gen­wei­se eine der­art gro­tes­ke Unkennt­nis volks­wirt­schaft­li­cher Fak­ten und Zusam­men­hän­ge auf, daß die Sache ver­gleichs­wei­se still­schwei­gend ent­sorgt wurde.

Kei­nes­falls spiel­te in die­sem sich im Lau­fe der Jah­re stei­gern­den Zeit­ge­schichts­wirr­warr irgend­ein außer­halb Deutsch­lands lie­gen­des Ereig­nis eine Rol­le für den Auf­stieg des Natio­nal­so­zia­lis­mus, den Aus­bruch des Krie­ges oder irgend etwas, was in die­sem Zeit­raum geschah. In die­sem Kli­ma beging Hill­gru­ber in den Augen von Haber­mas den kaum ver­zeih­li­chen Feh­ler der Empa­thie mit den „Tätern”: „Er will sich nicht mit den Insas­sen der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger iden­ti­fi­zie­ren, son­dern mit dem ‚kon­kre­ten Schick­sal der Bevöl­ke­rung im Osten‘.”
Dies rutsch­te dem Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor 1986 aller­dings erst in einem Zweit­schlag her­aus, den er als Leser­brief an die FAZ geschickt hat­te. In sei­nem vor­her­ge­hen­den Arti­kel für die Zeit hat­te er noch – durch­aus beden­kens­wert – geschrie­ben, ein His­to­ri­ker sol­le sich gar nicht iden­ti­fi­zie­ren, son­dern den Über­blick behal­ten, den ihm sein Infor­ma­ti­ons­vor­sprung gegen­über den Zeit­ge­nos­sen und die zeit­li­che Distanz ohne­hin nahe­leg­ten. Sol­che Schwan­kun­gen beglei­te­ten die Haber­mas­sche Form des Argu­men­tie­rens all­zu oft. Sie lie­ßen sich selbst inner­halb ein­zel­ner Bei­trä­ge nach­wei­sen, was Klaus Hil­de­brand mit der Rou­ti­ne des mit Zita­ten arbei­ten­den His­to­ri­kers auch tat und zu dem Fazit kam, Haber­mas hät­te schwei­gen sol­len, wenn er Phi­lo­soph hät­te blei­ben wol­len. Allein, dies fruch­te­te wenig, weil es den Streit auf einer Ebe­ne auf­nahm, auf die Haber­mas weder fol­gen woll­te noch konnte.
So durf­te sich Andre­as Hill­gru­ber also in gewis­sem Sinn als irr­tüm­li­ches Opfer betrach­ten und ver­ra­ten füh­len, war er doch im Prin­zip einer der Vor­kämp­fer des von Haber­mas ange­mahn­ten, kor­rekt auf Deutsch­land fixier­ten Geschichts­bilds gewe­sen. Er ver­starb 1989 recht früh­zei­tig, aber auch als Leben­der wäre er zwei­fel­los schnell wie­der in den öffent­li­chen Geschichts­be­trieb zurück­ge­kehrt und gern auf­ge­nom­men wor­den. Ein bald nach dem Tod erschie­ne­ner Gedenk­band hob dies ange­mes­sen her­vor. Damit blieb Ernst Nol­te schließ­lich zu Recht die intel­lek­tu­el­le Haupt­fi­gur des Streits. An ihm ent­zün­de­te sich die Aus­ein­an­der­set­zung auch in den Fol­ge­jah­ren und bis heu­te immer wie­der. Dies war kein Zufall. Von der „Vie­rer­ban­de” durch­brach allein er mit sei­nen Arbei­ten über den Natio­nal­so­zia­lis­mus als Faschis­mus, der zusam­men mit ande­ren Bewe­gun­gen ein faschis­ti­sches Epo­chen­phä­no­men gebil­det habe, der als Auf­stand gegen die mensch­li­che Tran­szen­denz und als Gegen­be­we­gung zum Mar­xis­mus zu wer­ten sei, die zen­tra­le Annah­me des will­kür­li­chen deut­schen Son­der­wegs. Wäh­rend sich Haber­mas in sei­nen Aus­füh­run­gen fort­wäh­rend selbst wider­sprach, argu­men­tier­te Nol­te zudem noch auf begriff­lich hohem Niveau und unter kon­sis­ten­ter Fort­ent­wick­lung sei­ner The­sen, was Der Faschis­mus in sei­ner Epo­che und die nach­fol­gen­den Ver­öf­fent­li­chun­gen über den Euro­päi­schen Bür­ger­krieg und schließ­lich den Kau­sa­len Nexus auch für den­je­ni­gen frucht­bar und lesens­wert mach­te, der Nol­tes Ansich­ten im ein­zel­nen oder im gan­zen nicht teil­te. Er hat­te ein neu­es Para­dig­ma zur Inter­pre­ta­ti­on der jün­ge­ren euro­päi­schen Geschich­te for­mu­liert und räum­te zugleich ein, ein ein­zel­nes Para­dig­ma – also auch das sei­ne – kön­ne den kom­pli­zier­ten Geschichts­ab­lauf nie voll­stän­dig erfas­sen. Mehr kann ein His­to­ri­ker nicht leisten.

An die­sen Arbei­ten konn­te man also nicht vor­bei, und so wur­de Nol­te in man­chen Augen zum dau­ern­den Ärger­nis, da er sei­ne Ergeb­nis­se unge­rührt von allen Anfein­dun­gen ver­trat und Dif­fe­ren­zie­run­gen ver­lang­te, wo der Zeit­geist zuneh­mend gera­de­re Lini­en von Bis­marck nach Ausch­witz zog. Es wirk­te in der hek­ti­schen Umge­bung als Pro­vo­ka­ti­on, wenn er sich der ver­lang­ten letz­ten Zuspit­zung regel­mä­ßig ver­sag­te, bei­spiels­wei­se den „Kau­sa­len Nexus” zwi­schen Gulag und Ausch­witz nicht als Auto­ma­tis­mus miß­ver­stan­den sehen woll­te und in Bezug auf den Geno­zid beharr­lich die Dif­fe­renz zwi­schen „ver­steh­bar” und „ver­ständ­lich” ein­klag­te. Hier woll­ten vie­le bewußt nicht mit­ge­hen. Die Grün­de dafür lagen im Zeit­geist, der nicht an begriff­li­chen Dif­fe­ren­zie­run­gen inter­es­siert war und ist, aber auch in der Natur der publi­zis­ti­schen Kriegs­füh­rung. Als Rudolf Aug­stein ein­mal gefragt wur­de, war­um er gegen Franz Joseph Strauß mit so maß­lo­ser Pole­mik und fal­schen Anschul­di­gun­gen vor­ge­gan­gen sei, da blick­te er den Fra­ge­stel­ler ob der Nai­vi­tät die­ser Fra­ge zunächst ver­ständ­nis­los an, dann kurz zu Boden und sag­te schließ­lich: „Also wis­sen Sie, einem Geg­ner sol­cher Potenz kann man nicht mit Objek­ti­vi­tät beikommen.”
Mit Blick auf den His­to­ri­ker­streit wird man sich heu­te an den Erfolg der Haber­mas­schen Streit­stra­te­gie erin­nern, aber auch dar­an, wie man­che sei­ner Insze­nie­run­gen fehl­schlu­gen. Wer als Mei­nungs­füh­rer im öffent­li­chen Gespräch blei­ben will, der muß stets neue The­men­fel­der suchen und deren Aus­wahl ist nicht ganz belie­big, son­dern wird zum Teil von den Vor­lie­ben und Ängs­ten der Mul­ti­pli­ka­to­ren und des Publi­kums bestimmt. Jür­gen Haber­mas hat sich mit sei­nen Äuße­run­gen in den letz­ten Jah­ren zuse­hends auf das Feld der ethi­schen Fra­ge­stel­lun­gen im Zusam­men­hang mit den neu­en Mög­lich­kei­ten in Medi­zin und Gen­tech­nik kon­zen­triert. Für einen Streit muß auch ein geeig­ne­ter (will sagen: bekann­ter und bereits kri­tisch beäug­ter) Geg­ner vor­han­den sein. Vor die­sem Hin­ter­grund ist etwa das Schei­tern der Atta­cke gegen Peter Slo­ter­di­jk zu sehen, die Haber­mas 1999 aus dem Hin­ter­grund för­der­te, die aber im Ansatz stekkenblieb.
Peter Slo­ter­di­jk, wohl der ein­zi­ge deut­sche Phi­lo­soph, der den Bekannt­heits­grad von Haber­mas erreicht, hat­te in einem Rede­bei­trag von „Men­schen­parks” gespro­chen. In die­sen Parks wür­den die gen­tech­nisch zuneh­mend vor­be­halt­lich vor­ge­burt­li­cher Dia­gno­sen geneh­mig­ten und dann ver­hü­tungs­tech­nisch ord­nungs­ge­mäß zuge­las­se­nen Indi­vi­du­en in Zukunft wan­deln. Das trug ihm den Vor­wurf ein – wel­chen sonst, mag man fra­gen – „faschis­tisch” zu den­ken und der Euge­nik der Natio­nal­so­zia­lis­ten das Wort zu reden. Kaum jemand in den Redak­tio­nen griff das The­ma auf, hat­te dort doch prak­tisch jeder in den acht­zi­ger Jah­ren mit begeis­ter­ter Zustim­mung die Kri­tik der zyni­schen Ver­nunft des post­mo­der­nen Mode­phi­lo­so­phen Slo­ter­di­jk gele­sen und zeig­te wenig Nei­gung, gera­de gegen ihn die Faschis­mus­keu­le zu schwingen.
Zwei Jahr­zehn­te nach dem His­to­ri­ker­streit wird nun aller­or­ten Bilanz gezo­gen. Dabei greift natür­lich erneut die Mecha­nik des öffent­li­chen Streits, sofern es sich um eine Insze­nie­rung han­delt. Wer zum Inter­view gebe­ten oder gar zur Fern­seh­dis­kus­si­on ein­ge­la­den wird, ist per se wich­tig. Der Ein­fluß des all­zu­mensch­li­chen Ehr­gei­zes auf die Ent­schei­dung bestimm­ter Pro­fes­so­ren, sich eben­falls zu Wort zu mel­den, darf nicht unter­schätzt wer­den. Im Hin­ter­grund geht der­weil die Arbeit vor­an. Der His­to­ri­ker­streit wird in wei­te­ren zwan­zig Jah­ren sehr wahr­schein­lich als absur­des Thea­ter betrach­tet wer­den, und es wird nicht die Haber­mas­sche Posi­ti­on sein, die den Ton angibt. Intel­lek­tu­el­le Fra­gen sind eben nicht nur Machtfragen.

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