Wer sich vor zwanzig Jahren in deutschen Fachzeitschriften und Feuilletons umsah, der konnte schwerlich einer anderen als der zweiten Position zustimmen. Die geistige Welt der Bundesrepublik sah sich aufgerüttelt von einem „Historikerstreit” bekannter Intellektueller darüber, was man sagen dürfe und was nicht. Es ging dabei von Anfang an nicht um inhaltliche Klarstellungen, sondern um Herrschaftsausübung. Wichtige Protagonisten der angreifenden Partei wie Jürgen Habermas oder Rudolf Augstein machten kein Hehl aus ihrer Ahnungslosigkeit in der Sache. Sie unterstellten den Opfern ihres Überfalls wie Ernst Nolte oder Andreas Hillgruber frank und frei Dinge, die diese nicht gesagt hatten, bestritten aber zum Ausgleich manches, was als historische Tatsache schlicht und er greifend feststand. Im Krieg, auch im intellektuellen, bleibt die Wahrheit als erstes auf der Strecke. Man konnte das 1986 sehr genau beobachten.
Nun trifft es nicht zu, daß die Vergangenheit wissenschaftlicher Erforschung unzugänglich sei. Innerhalb der Grenzen, die menschlicher Erkenntnis gezogen sind, läßt sich hier durchaus objektiv arbeiten. Allerdings ist diese Objektivität ein zartes Pflänzchen, das lediglich bei entsprechender Pflege und Selbstdisziplin gedeihen kann und natürlich – um im Bild zu bleiben – etwas Nahrung durch die milde Sonne seriöser wissenschaftlicher Auseinandersetzung benötigt. Das gilt prinzipiell für alle Wissenschaft, und obwohl sich die Naturwissenschaften in dieser Hinsicht als die etwas wetterfestere Branche erwiesen haben, bleibt an der Feststellung Lichtenbergs vieles richtig: „Ein etwas vorschnippischer Philosoph, ich glaube Hamlet, Prinz von Dänemark, hat gesagt, es gäbe eine Menge Dinge im Himmel und auf Erden, wovon nichts in unseren Kompendien stünde. Hat der einfältige Mensch, der bekanntlich nicht recht bei Trost war, damit auf unsere Kompendien der Physik gestichelt, so kann man ihm getrost antworten: gut, aber dafür stehen auch wieder eine Menge Dinge in unseren Kompendien, wovon weder im Himmel noch auf der Erde etwas vorkommt!”
Auf daß sich die Zahl der letzteren beachtlich mehren sollte, hatte es schon vor dem Historikerstreit eine denkwürdige Auseinandersetzung gegeben: den Positivismusstreit der sechziger Jahre. Ging es Jürgen Habermas und Co. zwanzig Jahre später um die Frage der politisch korrekten Geschichtsbetrachtung und die Eliminierung störender Tatsachen aus der Diskussion, so gab es zuvor den etwas in Vergessenheit geratenen Versuch, auch die Naturwissenschaften und vor allem die Soziologie „korrekt” zu gestalten. Unter anderem wurde von der Frankfurter Schule und Habermas der Vorwurf erhoben, eine Konzentration auf das Sammeln von Fakten und die Prüfung von Interpretationsmodellen, wie sie die Positivisten angeblich vornahmen, habe entweder kein politisches Rückgrat oder sei überhaupt eine Mogelei. Wertfreie Positivisten neigten demnach dazu, alles Daseiende zu rechtfertigen – ergo auch die jeweils bestehenden politischen Verhältnisse. Da der Faschismusverdacht schon damals die gängige Währung war, landete man dabei als angeblich schlagendes Beispiel bei der „deutschen Physik”, die von völkischen Vordenkern vor und nach 1933 proklamiert worden war. Ein Blick auf die Fakten hätte hier bereits der Debatte den Boden entziehen können: Die deutsche Physik war von den Positivisten in der Tat nicht ernstgenommen worden.
Unter den Kontrahenten der damaligen Auseinandersetzung fanden sich bekannte Namen. Theodor Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas auf der einen Seite, Hans Albert, Arnold Gehlen, Ernst Topitsch und Karl Popper auf der anderen. Im wesentlichen war es auch damals Jürgen Habermas, der aus einer zunächst im Stil der alten Ordinarienuniversität inszenierten intellektuellen Debatte eine öffentliche machte. Er blieb später dieser Methode durchaus treu. Wesentliche Stilelemente kehrten daher im Historikerstreit wieder: Zum einen gab es den „Positivismus” nie, gegen den Habermas damals zu Felde zog. Nie hatte jemand die von ihm angegriffenen Positionen vertreten und diejenigen, die Jahrzehnte vorher wenigstens eine ähnliche Haltung eingenommen hatten, hatten sich längst weiterentwickelt. Zum anderen warf Habermas mit seiner künstlichen Zusammenstellung einer Reihe von Personen zur einheitlichen Gruppe vollkommen heterogene intellektuelle Positionen willkürlich in einen Topf.
Man konnte diese Methode im Historikerstreit erneut erkennen. Weder hatten die von Habermas in seiner Angriffseröffnung in der Zeit namentlich attackierten Ernst Nolte, Michael Stürmer, Klaus Hildebrand und Andreas Hillgruber die ihnen vorgeworfenen Positionen überhaupt je vertreten, noch stellten sie bei nüchterner Betrachtung eine Gruppe dar, bei der man von Gemeinsamkeiten in der Sache oder gemeinsamen geschichtspolitischen Zielen sprechen konnte. Da die Namen nun einmal im Raum standen, titulierte Elie Wiesel die vier Genannten dennoch im Jargon der maoistischen Volksrepublik als „Viererbande”, was den Intentionen von Habermas kaum zuwiderlief. Habermas selbst machte immerhin einen gewissen funktionalen Unterschied zwischen Hildebrand und Stürmer auf der einen, Nolte und Hillgruber auf der anderen Seite geltend. Erstere hätten den „Revisionismus” der letzteren „empfohlen”.
Die Angriffe zielten unter die Gürtellinie. Persönlich zu Herzen nahm sie sich insbesondere Hillgruber, der nicht nur von Habermas, sondern auch von Rudolf Augstein ins Visier genommen wurde. Er sah sich im Spiegel als „konstitutioneller Nazi” tituliert, wobei ungeklärt blieb, was außer der beleidigenden Absicht damit gemeint sein konnte. Neben Ernst Nolte wurde Hillgruber zur tragischen Figur dieses Streits, allerdings aus völlig anderem Grund. Während Nolte mit seiner Deutung des Faschismus als eines Epochenphänomens einen großen und dauerhaft irritierenden Wurf gelandet hatte, hatte Hillgruber zu dieser Zeit an seiner Habilitationsschrift über „Hitlers Strategie” gearbeitet und ihr eine Tendenz gegeben, die ob seines dauerhaften Einflusses eigentlich Habermas’ Lob verdient gehabt hätte. Während damals bereits das Tor zu einer differenzierten Betrachtung der Ursachen etwa des Unternehmens Barbarossa weit offenstand, nicht zuletzt durch die Arbeiten des ihm wohlbekannten Philipp Fabry, schlug Hillgruber dieses Tor 1965 laut krachend zu. Als Vehikel dienten ihm dabei Mutmaßungen über Hitlersche „Stufenpläne” zur Welteroberung und dessen angeblich „axiomatische Fixierung” auf einen Rußlandfeldzug. Für beides gab es keine Quellenbelege, das räumte er beiläufig ein. Damit hätte diese Position innerhalb der Geschichtswissenschaft eigentlich erledigt sein müssen, denn worüber es keine Quellen gibt, darüber läßt sich allenfalls in aller Vorsicht spekulieren. Es zum Leitfaden einer Darstellung des Rußlandfeldzugs oder gar des Zweiten Weltkriegs überhaupt zu machen, war ein Verstoß gegen elementare Standards der Geschichtsschreibung und eine wissenschaftliche Todsünde.
Dennoch setzte Hillgruber in den Folgejahrzehnten die Maßstäbe, nicht Fabry. Und genau diese Maßstäbe schufen die Basis für die völlig ahistorische Interpretation der deutschen Zeitgeschichte unter Ausblendung der zu jeder Zeit selbstverständlichen Wechselwirkungen internationaler Politik, zumal in Kriegszeiten. Das von Clausewitz formulierte „Gesetz des Krieges”, der sich wechselseitig bedingenden Steigerung der Gewaltanwendung, blieb unbeachtet. Das galt für den Rußlandfeldzug wie für die gesamte Phase der militärischen und ideologischen Auseinandersetzungen zwischen 1900 und 1945.
„Hitler wars”. Als dies in der zunehmenden Konjunktur von psychologischen und sozialgeschichtlichen Deutungen methodisch denn doch zu dürftig schien, „war es” auch die Militärführung, die Beamtenschaft, die Industrie, dann der Widerstand des 20. Juli und in einer der letzten gelungenen Inszenierungen aus dem Habermas-Umfeld schließlich „die Wehrmacht”, die das Reemtsma-Institut für Sozialforschung in seinen Ausstellungen als Popanz losgelöst von allen Wechselwirkungen in Bezug auf die Rote Armee vorführte. Am Ende sollten es praktisch alle „gewesen sein”, jedenfalls soweit sie Deutsche waren. Götz Aly trieb die Dinge im Jahr 2005 mit Hitlers Volksstaat auf die Spitze. Die Zeit rief aus diesem Anlaß zum wiederholten Mal den nächsten Historikerstreit aus, für dieses Mal allerdings vergebens, denn Alys Anklage des deutschen Volkes als Profiteur der NS-Herrschaft wies passagenweise eine derart groteske Unkenntnis volkswirtschaftlicher Fakten und Zusammenhänge auf, daß die Sache vergleichsweise stillschweigend entsorgt wurde.
Keinesfalls spielte in diesem sich im Laufe der Jahre steigernden Zeitgeschichtswirrwarr irgendein außerhalb Deutschlands liegendes Ereignis eine Rolle für den Aufstieg des Nationalsozialismus, den Ausbruch des Krieges oder irgend etwas, was in diesem Zeitraum geschah. In diesem Klima beging Hillgruber in den Augen von Habermas den kaum verzeihlichen Fehler der Empathie mit den „Tätern”: „Er will sich nicht mit den Insassen der Konzentrationslager identifizieren, sondern mit dem ‚konkreten Schicksal der Bevölkerung im Osten‘.”
Dies rutschte dem Philosophieprofessor 1986 allerdings erst in einem Zweitschlag heraus, den er als Leserbrief an die FAZ geschickt hatte. In seinem vorhergehenden Artikel für die Zeit hatte er noch – durchaus bedenkenswert – geschrieben, ein Historiker solle sich gar nicht identifizieren, sondern den Überblick behalten, den ihm sein Informationsvorsprung gegenüber den Zeitgenossen und die zeitliche Distanz ohnehin nahelegten. Solche Schwankungen begleiteten die Habermassche Form des Argumentierens allzu oft. Sie ließen sich selbst innerhalb einzelner Beiträge nachweisen, was Klaus Hildebrand mit der Routine des mit Zitaten arbeitenden Historikers auch tat und zu dem Fazit kam, Habermas hätte schweigen sollen, wenn er Philosoph hätte bleiben wollen. Allein, dies fruchtete wenig, weil es den Streit auf einer Ebene aufnahm, auf die Habermas weder folgen wollte noch konnte.
So durfte sich Andreas Hillgruber also in gewissem Sinn als irrtümliches Opfer betrachten und verraten fühlen, war er doch im Prinzip einer der Vorkämpfer des von Habermas angemahnten, korrekt auf Deutschland fixierten Geschichtsbilds gewesen. Er verstarb 1989 recht frühzeitig, aber auch als Lebender wäre er zweifellos schnell wieder in den öffentlichen Geschichtsbetrieb zurückgekehrt und gern aufgenommen worden. Ein bald nach dem Tod erschienener Gedenkband hob dies angemessen hervor. Damit blieb Ernst Nolte schließlich zu Recht die intellektuelle Hauptfigur des Streits. An ihm entzündete sich die Auseinandersetzung auch in den Folgejahren und bis heute immer wieder. Dies war kein Zufall. Von der „Viererbande” durchbrach allein er mit seinen Arbeiten über den Nationalsozialismus als Faschismus, der zusammen mit anderen Bewegungen ein faschistisches Epochenphänomen gebildet habe, der als Aufstand gegen die menschliche Transzendenz und als Gegenbewegung zum Marxismus zu werten sei, die zentrale Annahme des willkürlichen deutschen Sonderwegs. Während sich Habermas in seinen Ausführungen fortwährend selbst widersprach, argumentierte Nolte zudem noch auf begrifflich hohem Niveau und unter konsistenter Fortentwicklung seiner Thesen, was Der Faschismus in seiner Epoche und die nachfolgenden Veröffentlichungen über den Europäischen Bürgerkrieg und schließlich den Kausalen Nexus auch für denjenigen fruchtbar und lesenswert machte, der Noltes Ansichten im einzelnen oder im ganzen nicht teilte. Er hatte ein neues Paradigma zur Interpretation der jüngeren europäischen Geschichte formuliert und räumte zugleich ein, ein einzelnes Paradigma – also auch das seine – könne den komplizierten Geschichtsablauf nie vollständig erfassen. Mehr kann ein Historiker nicht leisten.
An diesen Arbeiten konnte man also nicht vorbei, und so wurde Nolte in manchen Augen zum dauernden Ärgernis, da er seine Ergebnisse ungerührt von allen Anfeindungen vertrat und Differenzierungen verlangte, wo der Zeitgeist zunehmend geradere Linien von Bismarck nach Auschwitz zog. Es wirkte in der hektischen Umgebung als Provokation, wenn er sich der verlangten letzten Zuspitzung regelmäßig versagte, beispielsweise den „Kausalen Nexus” zwischen Gulag und Auschwitz nicht als Automatismus mißverstanden sehen wollte und in Bezug auf den Genozid beharrlich die Differenz zwischen „verstehbar” und „verständlich” einklagte. Hier wollten viele bewußt nicht mitgehen. Die Gründe dafür lagen im Zeitgeist, der nicht an begrifflichen Differenzierungen interessiert war und ist, aber auch in der Natur der publizistischen Kriegsführung. Als Rudolf Augstein einmal gefragt wurde, warum er gegen Franz Joseph Strauß mit so maßloser Polemik und falschen Anschuldigungen vorgegangen sei, da blickte er den Fragesteller ob der Naivität dieser Frage zunächst verständnislos an, dann kurz zu Boden und sagte schließlich: „Also wissen Sie, einem Gegner solcher Potenz kann man nicht mit Objektivität beikommen.”
Mit Blick auf den Historikerstreit wird man sich heute an den Erfolg der Habermasschen Streitstrategie erinnern, aber auch daran, wie manche seiner Inszenierungen fehlschlugen. Wer als Meinungsführer im öffentlichen Gespräch bleiben will, der muß stets neue Themenfelder suchen und deren Auswahl ist nicht ganz beliebig, sondern wird zum Teil von den Vorlieben und Ängsten der Multiplikatoren und des Publikums bestimmt. Jürgen Habermas hat sich mit seinen Äußerungen in den letzten Jahren zusehends auf das Feld der ethischen Fragestellungen im Zusammenhang mit den neuen Möglichkeiten in Medizin und Gentechnik konzentriert. Für einen Streit muß auch ein geeigneter (will sagen: bekannter und bereits kritisch beäugter) Gegner vorhanden sein. Vor diesem Hintergrund ist etwa das Scheitern der Attacke gegen Peter Sloterdijk zu sehen, die Habermas 1999 aus dem Hintergrund förderte, die aber im Ansatz stekkenblieb.
Peter Sloterdijk, wohl der einzige deutsche Philosoph, der den Bekanntheitsgrad von Habermas erreicht, hatte in einem Redebeitrag von „Menschenparks” gesprochen. In diesen Parks würden die gentechnisch zunehmend vorbehaltlich vorgeburtlicher Diagnosen genehmigten und dann verhütungstechnisch ordnungsgemäß zugelassenen Individuen in Zukunft wandeln. Das trug ihm den Vorwurf ein – welchen sonst, mag man fragen – „faschistisch” zu denken und der Eugenik der Nationalsozialisten das Wort zu reden. Kaum jemand in den Redaktionen griff das Thema auf, hatte dort doch praktisch jeder in den achtziger Jahren mit begeisterter Zustimmung die Kritik der zynischen Vernunft des postmodernen Modephilosophen Sloterdijk gelesen und zeigte wenig Neigung, gerade gegen ihn die Faschismuskeule zu schwingen.
Zwei Jahrzehnte nach dem Historikerstreit wird nun allerorten Bilanz gezogen. Dabei greift natürlich erneut die Mechanik des öffentlichen Streits, sofern es sich um eine Inszenierung handelt. Wer zum Interview gebeten oder gar zur Fernsehdiskussion eingeladen wird, ist per se wichtig. Der Einfluß des allzumenschlichen Ehrgeizes auf die Entscheidung bestimmter Professoren, sich ebenfalls zu Wort zu melden, darf nicht unterschätzt werden. Im Hintergrund geht derweil die Arbeit voran. Der Historikerstreit wird in weiteren zwanzig Jahren sehr wahrscheinlich als absurdes Theater betrachtet werden, und es wird nicht die Habermassche Position sein, die den Ton angibt. Intellektuelle Fragen sind eben nicht nur Machtfragen.