dem meine liebe Oma (gelernte Schneiderin) angeboten hatte, seine Jeans zu flicken: „Das ist doch auch kalt, mit all den Löchern!“ Geschichte wiederholt sich, Mode auch. Schlendere an diversen Klamottenketten vorbei:
Bei den einen sind die Hosenrisse streng genormt (an jedem Oberschenkel zwei krasse und ausfransende Risse, weiter unten links und rechts ein kleinerer) bei anderen sind sie „individuell“ verteilt. Jeder Lumpen ein Unikat! Zerrissene Hosen von der Stange! Beim Elternabend kürzlich zählte ich drei Frauen mit genormten, zwei mit individuellen Rissen. Eine weitere Dame trug mehr Riß als Hose. Der Untergang des Abendlandes manifestiert sich auch in Kleinigkeiten.
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29. Oktober 2015 – Bei uns kursiert seit langem der Halbwitz, daß man als Kassiererin in unserem bevorzugten Supermarkt mindestens zwei dieser Merkmale als Einstellungsvoraussetzung aufweisen muß (wir leben in einer tendenziell proletarischen Gegend): Aufgesetzte, ultrabunte Fingerkrallen, sichtbare Tätowierungen, gewagte (also absichtlich unnatürlich wirkende) Haarfarben, Piercings. Es ist kaum anders erklärbar. Gut – viele laufen so rum, aber jene Kasse (anders etwa beim örtlichen Aldi und Lidl) ist schon eine spezielle Wunderkammer.
Eine dieser Kassiererinnen hat ein auffallend, überdurchschnittlich hübsches Gesicht. In dieser Hinsicht gibt es also keinen Anlaß für eine kosmetische Trotzreaktion. Aber: Sie hat den Großteil des Haupthaares rasiert, der Rest ist dreifarbig und kompliziert geflochten. Allein im Gesicht beherbergt sie sechs oder sieben Piercings, im Sommer sah ich auch ihr Dekollete vernadelt. Die Fingernägel sind geschätzte drei Zentimeter lang, derzeit grün/neonpink und straßverziert. Auf dem Unterarm trägt sie einen aufwendigen Schriftzug, eine längliche Botschaft, die ich aufgrund der außerordentlichen Kalligraphie noch nie entziffern konnte. Ihr eines Ohrläppchen ziert ein simpler Stecker, das andere hängt mächtig überdehnt bis auf die Schulter, ein großer brauner Knopf mit einem Geheimzeichen steckt darin.
Da meine Kleinen stets nicht umhin können, penetrant zu starren, hatte ich ihnen das Phänomen mal küchenpsychologisch erklärt: Daß sich die junge Dame sicher nicht wohl in ihrer Haut fühle, daß sie vermutlich um Aufmerksamkeit kämpfe etc…. – ich mein, wie sonst erklär ich’s dem Kinde?
Kind Nr. 6 heute, gut christlich, mit herzlicher Inbrunst nach dem Abkassieren und dem obligatorischen „einen schönen Feierabend noch“ (der Supermarkt forderte seine Kunden eine Zeitlang per Kassenaufkleber auf, Meldung zu erstatten, falls dieser Gruß fehlte!): „Ihnen auch, ich hoffe, es geht Ihnen bald besser!“
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30. Oktober 2015 – Er ist wieder da, erstens: Im Religionskurs der Tochter setzt sich diese Ansicht durch: Die Tatsache, daß ein solcher Film gezeigt werden dürfe, ist ein eindeutiger Beleg, daß „die Nazis“ wirklich wieder vor der Tür stünden. In solchen Momenten kippt mein gelegentlicher Eindruck, daß gerade „etwas kippt“ in Deutschland.
Er ist wieder da, zweitens: Ich hatte kein Interesse am Film und holte meine (vom Buch begeisterten) mittelgroßen Kinder von der Vorführung ab. Der Streifen hat ihnen mittelgut gefallen. Das letzte Drittel sei schal gewesen. „Mama, am Ende blickt der Hitler auf Pegida-Demos und auf eine Szene, wo Schwarzvermummte einen Müllcontainer anzünden. Dazu murmelt er etwas wie ‘Na, damit läßt sich was anfangen‘. Gibt’s das eigentlich in echt, daß Pegidas Müllcontainer abfackeln? Oder war das eher… – Motto Lügenpresse?“
Er ist wieder da, drittens: Ich höre, wie sich ein paar Mütter über den Film unterhalten. Kann es nicht lassen, ein nach meinem Dafürhalten witziges Stück Kindermund preiszugeben. Mein Sohn hatte nämlich gesagt: „Ansonsten waren im Kino vor allem Ältere. Die sind bestimmt hingegangen, weil sie den Hitler damals selbst live erlebt hatten und jetzt mal schauen wollten.“
Ich hab diese „Älteren“ ja selbst gesehen, Leute im Alter zwischen 55 bis 60. Mein süßer naiver Sohn! Die Pointe versandete. Meine Ladies sagten seufzend: Klar, das ist die Generation. Folgte ein kurzer Disput, wann der zweite Weltkrieg nochmal war. Man, also frau, liegt deutlich auseinander. Es gab Meinungsverschiedenheiten. Demokratie muß das ertragen.
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31. 10. 2015 – Jedes Jahr an diesem Tag das gleiche: Nein, wir gehen definitiv nicht „Süßes oder Saures“ heischen. Ihr geht nicht! Aber (Kinderklage) das “ganze Dorf” sei doch auf den Beinen…? Etiam si omnes, ego non; na klar! gilt das gerade heute. Es gibt Apfelmus aus dem Garten, ist süß genug.
Die größeren Mädchen habens längst kapiert, hier geht’s nun um Mendelssohns 5. Sinfonie, die Reformationssinfonie. „Man muß es halt lieben, trotz allem.“ Ich unterliege laut beschallt in dem Beharren, einen katholischen Haushalt zu repräsentieren.
Das behalte ich mir im Gegenzug (“Mama! Du übertreibst immer!”) vor: Im ersten Stock, unserer Wohnetage, einen Eimer kaltes Wasser bereithalten zu dürfen. Für die sogenannten Kids, die an unserer Tür „Süßes oder Saures“ zu heischen wagen. Saures? Immer gern.
Marcus Junge
"Demokratie muß das ertragen."
Nur das Volksherrschaft, mit solchem Volk nicht funktioniert, da selbst die elementarsten Dinge (Wissen) nicht vorhanden sind, aber trotzdem gewählt werden darf. "Mündiger" Bürger geht anders.
Das beste Argument gegen die "Demokratie" sei immer noch ein Gespräch mit dem durchschnittlichen Wähler (Churchill zugeschrieben).