Sachverwalter des deutschen Staates dafür sorgen, daß 80 Millionen Einwohner einkaufen, kochen, heiß duschen, fernsehen und telefonieren konnten. Heute gilt ihre Sorge denselben Tätigkeiten, und auch morgen – wenn sie erwachen und aus dem Bett steigen, um Politik zu treiben – werden sie gleich und ohne Ausweg von dem gigantischen Versorgungsbedürfnis unseres zahlreichen Volkes in die Mangel genommen.
Wo bleibt – wenn Grunddaseinsfunktionen (Nahrung, Arbeit, Wohnung, Fortpflanzung, Freizeit) millionenfach aufrechterhalten werden müssen – der Spielraum für die Politik? Worin unterscheiden sich die Vorgaben von Linken, Grünen, SPD, FDP, CDU und NPD, wenn zunächst und ganz unabhängig von der Tagesform die schiere Versorgung einer riesigen Masse Mensch sichergestellt werden muß?
Und das Konzept der Metapolitik – dieser Versuch, Begriffe aus dem vorpolitischen Raum in den politischen Raum hineinzubugsieren, wie beim Billard, vielleicht über die Bande – das kann doch am Ende maximal dazu führen, daß unsere Leute des morgens mächtig aufstehen, um sich gleich und ohne Ausweg von dem gigantischen Versorgungsbedürfnis unseres zahlreichen Volkes ihres Spielraums berauben lassen zu müssen. Was für ein Ziel, was für eine Perspektive!
Wir haben also ein riesiges Produktions- und Verteilungsgefüge aufgebaut, in dem sich Elemente der freien wirtschaftlichen Initiative mit sehr zahlreichen gezielten Produktionshilfen des Staates mischen und durchdringen, in dem in einer beispiellosen Vollständigkeit Millionen von Menschen wirksam gegen die verschiedensten Lebensrisiken abgesichert sind, und das eine langfristige Steigerung des Lebensstandards und des Anspruchsniveaus aller Klassen erzielt hat; das alles mit einer sehr wachsamen Rechtsschutzgarantie, einer einzigartigen Bewegungsfreiheit, Gesinnungsfreiheit, Äußerungsfreiheit selbst gegenüber solchen Menschen, deren Bindung an dieses System bloß noch darin zu bestehen scheint, daß sie diese Freiheiten in Anspruch nehmen.
Die »Krise« hat das Gespür dafür verfeinert, daß der Staat und seine Mechanismen und sein derzeitiges Erscheinungsbild undurchschaubar sind – und an vielen Stellen dem berühmten Tunnelsystem in Alfred Kubins Roman Die andere Seite gleicht: Im Untergrund galoppiert ohne Pause ein wilder Hengst durch die Dunkelheit, und manchmal hört jemand, hören viele diesen rasenden Hufschlag, vielleicht so, wie wenn man in Berlin in einem jener Cafés sitzt, die in die Bögen einer S‑Bahn-Brücke gebaut sind, und in denen man also regelmäßig sozusagen überfahren wird.
Der Hengst galoppiert, aber er entfernt sich auch immer wieder und ist sowieso nie zu sehen: Es geht eben das Gerücht über ihn, und auch ein Gang hinab in das System aus Tunneln und Abzweigungen bringt keine Sicherheit, keine Aufklärung. Oben macht man weiter, und es ist unerheblich, ob man zielgerichtet oder grotesk handelt: Es gibt am Ende nichts zu begreifen, es gibt keine Linie, es geht so oder so oder auch ganz anders. Gibt es überhaupt jemanden, der weiß, wie es funktioniert? Gibt es die Wächter des Abends, gibt es eine Elite?
Man kann zu der Vorstellung kommen, die Kompliziertheit der großen gesellschaftlichen Trends mit ihrer Verwicklung von wirtschaftlichen, biologischen, geistigen Daten habe einen solchen Grad erreicht, daß wir uns durch dazwischengeschobene Begriffe und Schablonen ihre Erkennbarkeit vortäuschen müssen, um überhaupt mitspielen zu können. Und wenn, was heute vorgeht, sich kaum noch durchschauen läßt, so muß um so rätselhafter werden, was in der Vergangenheit sich abspielte oder gar, was sich ereignen wird. Die Frage, was eigentlich in den USA während des 11. September 2001 vorging, scheint mir ebenso dunkel wie die, was aus den Verschiebungen in China oder Indien sich ergeben wird. Dabei ist es selbstverständlich, daß es Menschen gibt, für die solche Fragen im Umkreis ihrer Berufsarbeit liegen; aber gerade der Experte hat ein genaues Bewußtsein seiner Wissensgrenzen, er erweckt umso mehr Vertrauen, je bereitwilliger er diese Grenzen zugibt.
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille: In einer Reportage über des Finanzministers Wirken Aug in Aug mit der Krise war zu lesen, daß Peer Steinbrück glaubwürdig sei, weil er offen seine Ahnungslosigkeit in bezug auf das ausspreche, was noch alles kommen könnte. Wenn der Expertenstab des Finanzministeriums noch im November des vergangenen Jahres nichts von dem ahnte, was uns jetzt, im Mai als urplötzlich sichtbares 300-Milliarden-Euro-Loch im Bundessäckel präsentiert wird, dann ist es um diese Funktionselite nicht gut bestellt: Es handelt sich ja nicht um nuancierte Abweichungen von einer in sich stimmigen Richtungsprognose, sondern um den Einsturz einer tragenden Wand.
Da unten ist also wirklich ein Hengst unterwegs, von dessen Bewegungsgewohnheiten Peer Steinbrück in der Tat keine Ahnung zu haben scheint. Seine Glaubwürdigkeit mag wachsen, wenn er ähnlich unsicher auf morgen wartet wie wir alle. Aber es unterhöhlt unser Vertrauen in das System als Ganzes, wenn selbst die Spitzenkräfte nicht wissen, wann das Tier durch den Boden stößt und wie es dann zu bändigen wäre – zumal es ja ausreicht, wenn es in den USA oder in China an die Oberfläche tritt: Sein Hufschlag erschüttert rund um den Erdball das, was einander laut Warenbeschreibung eigentlich stützen sollte, und sich dann doch begrifflich und faktisch als Kartenhaus erweist.
Um das Ganze zusammenzufassen, so meine ich: Der Erdball ist von der Technik her klein geworden, die Ereignismassen, über die wir informiert werden, wachsen mit der Schnelligkeit der Übermittlung und der Größe des Einzugsbereiches. Dennoch ist unser Bescheidwissen zum größten Teil fiktiv, die Erstmaligkeit und Kompliziertheit der Ereignisse macht sie undurchdringlich, aber sie rücken uns auf die Haut. Folglich reagieren wir mit Meinungen, mit hülsenhaften, schematischen Vorstellungen, die wir mit Gefühlen aufladen, von denen schwer zu sagen ist, ob sie nicht auch Hülsen sind. Man kann die Lage auch mit dem Begriff »Überforderung« kennzeichnen. Ich habe keine Zweifel an der Tatsache einer Bewußtseinsüberforderung als allgemeiner Folge des technischen Informations-Potentials. Hier im Kopf erlebt man, daß die Menschen eher Opfer als Kontrollierende einer Gesellschaft sind, die zu groß geworden ist, um in menschlichen Maßen verstehbar zu sein.
Mittendrin: Wir – wahrnehmend, sortierend, schreibend tätig und ein wenig bis sehr überfordert mit der »Verarbeitung« dessen, was täglich in uns hineingeschüttet wird. Gibt es einen Ausweg? Man könnte sich als Spezialist positionieren und zum Beispiel als Sprecher des Verbandes Deutscher Verpackungshersteller die Lage der Verpackung im allgemeinen und weltweit im Auge behalten. Es könnte aber leicht passieren, daß dann eine Verpackung zwischen Ich und »dem Ganzen« steht und die Sicht auf die Zusammenhänge ein wenig verstellt.
Umgekehrt birgt jedoch auch die moderne Form des Dilettantismus große Gefahren: Wer Informationen in Häppchen konsumiert und per Radio, Fernsehen, Internet und Twitter in Echtzeit Schüsse in Sindelfingen und Notlandungen im Hudson-River mitbekommt, der muß diese Dinge auch in Echtzeit von sich wegarbeiten. Ihn hindert am Blick auf das große Ganze nicht das eine Spezialthema (also beispielsweise »die Situation der Verpackungsherstellung«), sondern der ganze kleine Informationsmüll, den er stündlich vom Bildschirm schaufeln und aus dem Gehirn tilgen muß.
Dies ist eine ausgesprochen fruchtlose Tätigkeit, und sie darf nicht mit Arbeit verwechselt werden. Auch führt sie mit Sicherheit nicht zu dem, was man ein Durchschauen und Durchdringen der uns alle prägenden und einspinnenden gesellschaftlichen Vorgänge nennen dürfte.
Aber das Kommentieren, Kritisieren, Beschuldigen, Präsent-Sein und Netzwerken: das macht politikfähig. Dann ist der Zielpunkt auch nicht die Erkenntnis des Ganzen, sondern der Kampf um die Macht, also: um einen der vorderen Plätze am Futtertrog.
Dafür habe ich volles Verständnis, ich sehe in einem Anspruch auf Macht nichts Verwerfliches, und zwar deswegen, weil man sein Ethos nur aus der Lage des Obenseins heraus voll ausleben kann, nicht aus einer gedrückten, eingeschnürten gesellschaftlichen Lage heraus. Auch dem progressivsten Intellektuellen, der gegen die Macht kämpft, geht es doch immer um seine Macht, denn er will ja doch das durchsetzen helfen, was er für Fortschritt hält. Wenn nun, wie es scheint, die Verbitterung zunimmt, so kann ich das verstehen, wenn man eine Ahnung der Ausweglosigkeit unterstellt, und damit kämen wir am Schluß wieder auf den Ausgangspunkt zurück: zu der Frustration, dem Vergeblichkeitsbewußtsein.
Ich möchte betonen: Dieses Vergeblichkeitsbewußtsein richtet sich nicht auf die konkreten Chancen einer rechtspopulistischen Bewegung etwa oder auf die Durchsetzung eines konservativen Tons in der deutschen Wochenzeitungslandschaft. Deren Zeit kommt, ganz sicher.
Das Gefühl der Aussichtslosigkeit empfängt seine Nahrung vielmehr aus jedem Blick, den man auf die nichtgeführte, nicht in Form gebrachte Masse werfen muß: Wo der Kommunismus zur Implosion und der Nationalsozialismus zur Explosion führte, führt der Liberalismus zur Verrottung. Nur ein Ignorant oder ein Vertuscher kann das anders nennen. Also gibt es auf die Herausforderung der Massengesellschaft noch keine Antwort: Die Balance zwischen permanenter Revolution und Verhausschweinung, zwischen Idee und Elend ist noch nicht gefunden, und die Suche nach ihr – das sage ich jetzt einmal ganz ungeschützt – wird auf die Formulierung eines neuen 1789 oder 1917 oder 1933 oder wenigstens eines 1968 hinauslaufen müssen.
Wer das bestreitet, muß zugeben, daß es ihm angesichts der Masse nicht um das große Ganze geht. Und man kann gute Gründe dafür anführen, das »Ganze« in Ruhe zu lassen: Denn irgendwo sitzt in jedem Stichwortgeber ein Bild, das mit der Wirklichkeit »Mensch« nichts zu tun hat, und wer das weiß, macht sich vielleicht noch rechtzeitig klar, daß auch eine »formierte Masse« noch immer eine »Masse« ist, die zunächst versorgt sein will – und zwar nicht vor allem mit schönen Büchern!
Was ich hier wahrzunehmen und zu durchdenken empfehle, ist nicht neu. Wir stehen angesichts der Massengesellschaft und nach den großen Formierungsversuchen noch immer vor Fragen, die unsere Vordenker in großer Durchdringungstiefe schon vor – sagen wir – 45 Jahren ansprachen. Wir sind Epigonen, das belegt auch mein Beitrag, ganz formal: Die eingerückten Zitate stammen aus Arnold Gehlens Aufsatz »Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat«. Nur minimale Aktualisierungen waren zur Tarnung notwendig, etwa der Verweis auf den 11. September (dort stand bei Gehlen die »Kuba-Krise«).
Wie weiter also, Epigonen?
Es gibt ein Brüderpaar, das Anfang der dreißiger Jahre vor der Frage stand, ob man den Schritt auf die Seite der radikalen Praktiker machen sollte oder nicht. Ernst und Friedrich Georg Jünger waren als Stimmen der Front-Generation mit nationalistischen Texten, Büchern und Zeitschriftenprojekten hervorgetreten. Sie verkehrten in nationalrevolutionären, jungkonservativen und nationalbolschewistischen Zirkeln und arbeiteten an der geistigen Mobilisierung Deutschlands zur großen Revanche für das Versailler Diktat.
Gipfelpunkte sind Ernsts Der Arbeiter und Die totale Mobilmachung oder Friedrich Georgs Der Aufmarsch des Nationalismus sowie Gedichte wie Die Schlacht. Der Germanist Ulrich Fröschle hat vor einigen Monaten Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit vorgelegt, er untersucht darin bis in Verästelungen hinein den »radikalen Geist« Friedrich Georg Jüngers, dessen Entwicklung natürlich verwoben ist mit der seines Bruders: Es entsteht das Kaleidoskop der Weimarer Republik, vor allem in Berlin und aus der Sicht nationaler Protagonisten – die beide während und nach dem Dritten Reich mit ihrer politisch-publizistischen Phase nicht kokettieren wollten und (nach 1945) konnten.
Was uns hier jetzt interessiert, das ist der Umschlagpunkt: Weder Ernst noch Friedrich Georg mischten ja – wie zunächst etwa Benn oder Heidegger und ziemlich gründlich Baeumler – im neuen nationalsozialistischen Staat mit. Sie sorgten vielmehr für Irritation, indem sie sich der zumindest teilweisen praktischen Umsetzung ihrer theoretischen Vorgaben verweigerten und nach und nach ins Innere emigrierten.
Diesen Umschlagpunkt leitet Fröschle für Friedrich Georg Jünger von Hegel her, und er ist nicht politisch, sondern ästhetisch motiviert: »Das Subjekt verliert seine Autonomie, seine Selbstherrlichkeit, je weiter sich die Gesellschaft funktional ausdifferenziert. Das Individuum wird zum funktionierenden Rädchen, dessen Optionen und Entscheidungen zunehmend einer Fremdbestimmung unterliegen.« Hegel prüfe zwar noch die Möglichkeiten einer »Rekonstruktion der individuellen Selbständigkeit« in der Kunst: Aber Don Quichotte schaue dem, der noch für das Vaterland antreten wolle, stets über die Schulter.
Also: Die Jüngerschen extrem individualistischen Wege während und dann vollends nach dem Zeiten Weltkrieg sind ästhetischer Widerstand und Strategien der Selbstrettung, und sie gründen genau in der Aussichtslosigkeit beim Blick auf das Ganze, von der oben die Rede war. Und weil die Jüngers das so plausibel und nicht ohne Erfolg vorlebten, zogen und ziehen sie weiterhin gerade auch aus dem rechtsintellektuellen Milieu Leute von der Politik ab, hinüber in ein postmodernes Leben der abgewandten Selbstverwirklichung. Fröschle bietet dafür den Begriff der »Wahrnehmungselite« an und zitiert aus Friedrich Georg Jüngers Nietzsche-Buch die Beschreibung dieser Elite:
Sie sind Beobachter der Zeit und leben hinter den Ereignissen. Sie üben sich, sich frei von der Zeit zu machen und sie nur zu verstehen, wie ein Adler, der darüber fliegt. Sie beschränken sich zur größten Unabhängigkeit und wollen nicht Bürger und Politiker und Besitzer sein. Sie reservieren hinter allen Vorgängen die Individuen, erziehen sie – die Menschheit wird sie vielleicht einst nötig haben, wenn der gemeine Rauch der Anarchie vorüber ist. Pfui über Die, welche sich jetzt zudringlich der Masse als Heilande anbieten! Oder den Nationen! Wir sind Emigranten.
Ist das ein Angebot? Wahrnehmungselite, das modern formulierte Pendant zu Hölderlins »Dichter in dürftiger Zeit«? Es ist nur dann ein Weg, wenn man sich mit diesem stolzen Wort nicht den eigenen Gang in die Dekadenz verbrämt.
Hubert
Nun ja, es gibt eigentlich schon ein Wort für «Wahrnehmungselite», und das ist «Künstler».