meinen Namen unter einen – hoffentlich – kritischen Artikel zu setzen oder ob ich nicht doch lieber darüber nachdenken soll, wie ich mich mit einem System – das mich zwar gut gebrauchen könnte, aber sicher nicht haben mag – arrangieren kann. Auch wenn ich müßte, ein Lemming mag ich nicht sein: Immer wieder fand ich doch alleine den Weg zum Wasserloch. Nun sitze ich hier und habe einen Entschluß gefaßt:
Während ich sinniere, wird mir bewußt, daß sich mir die Welt immer immer schon aus dem Blickwinkel des »gesellschaftlichen Randes« aufgedrängt hat. So wurden mir die Entwicklungen und Vorkommnisse vor Augen geführt, die mich erst über die Frage – Name oder Pseudonym – nachdenken lassen.
In meiner Grundschulzeit gab es drei Klassen, sie waren nach den ersten drei Buchstaben des Alphabetes benannt. Anhand unserer Wohnorte wurden wir im wahrsten Sinne des Wortes der richtigen »Klasse« zugeteilt: In Klasse A schlugen sich – inklusive mir – die Arbeiterkinder die Zeit um die Ohren, in Klasse B strebten die Kinder aus dem städtischen Bereich um die Gunst ihrer Lehrer und in der C‑Klasse fand sich die Landjugend aus dem Umland nach einer langen Zugfahrt in ihren Klassen ein.
Ich habe mich oft gefragt, ob die stundenlange Anreise zur Schule schuld an ihrer Null-Bock-Stimmung war. So oder so, mit Klasse C war nicht gut Kirschen essen. Sie waren die unangefochtenen Beherrscher des Pausenhofes. Wir alle machten einen großen Bogen um die sich schon durch Ihre Statur abhebenden C‑Klassler, wenn wir unsere morgendlichen Runden um die Schule drehten. Es gab so etwas wie unbewußt wahrgenommenes »Klassenbewußtsein«, und wir akzeptierten unsere lokalen Gepflogenheiten und unseren unterschiedlichen Blick auf die Welt (wenn der nicht gerade durch den Haltegriff im Schwitzkasten eines C‑Klasslers auf den Boden gerichtet war).
Etwas in unser Wahrnehmung begann sich aber zu verändern, als die ersten Kinder der rumänischen Flüchtlinge an unsere Schule kamen. Hier war nicht mehr der Schwitzkasten die Herausforderung, jetzt konnte ein „Scheiß Jugo!“ zu einer blutigen Nase führen (die Political Correctness wurde uns noch nicht eingeimpft, und daher haben wir auf dem Schulhof noch nicht politisch korrekt gedacht oder gesprochen). Für uns Wohlbehütete stellte diese Ausweitung der Kampfzone durchaus eine Herausforderung dar, wollten wir doch unsere keimende Männlichkeit bewahren.
Was auffiel war, dass das „Scheiß Bauer/Streber/Prolet!“ nie das Gehör der Lehrkräfte fand – das Verhalten der »Klassenkämpfer« aus A, B und C wurde ab jetzt an anderen Maßstäben gemessen. Gegenseitig durften wir uns aufs Maul hauen, Silviu aus Rumänien blieb unantastbar. Unsere Lehrerinnen und Lehrer weinten sich mit den Bildern aus den rumänischen Waisenhäusern in den Schlaf. Silviu wurde nicht gehasst, weil er uns regelmäßig aufs Maul haute, Silviu stand unter dem Protektorat der WeichspülpädagogInnen. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir gegenüber mit Alternativlosigkeit argumentiert. Noch aber waren die Zweifel nicht groß genug – die Dingen waren halt so wie sie waren.
In der Zwischenzeit gesellten sich Milan, Dejan, Goran und Dragana aus Jugoslawien zu Silviu aus Rumänien. In der Oberstufe gehörte es jetzt zum Programm, einen Blick auf die unfassbare Situation in den Nachbarländern zu werfen. Zugegeben, es erweiterte den geistigen Horizont. Workshops, Filmabende und Glorifizierungen des Fremden, bei gleichzeitiger Ablehnung des Eigenen standen nun auf der Tagesordnung. Wir hatten ja diese Verantwortung, ihr wisst ja, so etwas darf nie wieder…und so weiter…
Nicht jedem gefielen diese Darstellungen, die Verpflichtungen und das Schuldbewußtsein. Nicht das Helfen wurde abgelehnt, ganz im Gegenteil – gerade in den Jugendjahren existiert noch so etwas wie ein natürliches Verständnis zur Gegenseitigkeit. Verstanden wurde aber nicht, warum bei all der Hilfsbereitschaft gleichzeitig das Eigene abgelehnt oder unsere Hilfsbereitschaft mit vergangenem Massenmord und Sack-und-Asche-Mentalität gepaart wurde. Nicht jeder fand das gut, aber fast jeder machte mit. Das erste Mal in meinem Leben wurde mir die real existierende Herdenmentalität so richtig bewußt.
In einem Leidensgenossen, der damals wohl den progressivsten Scheitel seiner Zeit trug, fand ich einen willkommen Revolutionspartner. Im Keller, auf der Couch unter den Stiegen, schmiedeten wir unsere ersten Widerstandspläne. Wahrscheinlich schossen wir mit unserem daraus resultierendem Kleidungsstil über das Ziel hinaus und transportierten damit vielleicht auch die falschen Botschaften. Aber es begann sich etwas zu rühren in dieser eingeschlafenen Willkommensgesellschaft. Sentimentale Boyband-T-Shirts unserer Mitrevolutionärinnen wichen »genuineren« Botschaften. Mit dem einen oder anderen »alternativen« Diskussionsbeitrag mußte ab sofort gerechnet werden. Es tat sich was und wir fanden Gefallen daran.
Daß sich was tat, erkannte auch der fortschrittliche Schuldirektor mit dem wallenden Haar. Ein dreitägiges Willkommensprojekt (noch nicht mit diesem Namen versehen) erlöste uns zwar vom Unterricht, nicht aber von der Teilhabe. Viele, viele Live-Erlebnisberichte der Einwanderer und viele, viele Bilder von traurigen Kindern, Frauen und Männern waren die Folge. Der Artikel in der Schülerzeitung rundete die »Konterrevolution« ab. Unsere Namen wurden zwar geändert, ließen aber Rückschlüsse auf uns zu. Die Boygroups fanden ihren Weg zurück auf die Shirts und die Revolution wurde abgesagt. Die Zweifel wurden größer, aber trotzdem wollte sich das Verständnis, dass etwas faul ist in dieser Gesellschaft, noch nicht ganz durchsetzen. Zu groß war das Vertrauen in diejenigen, die wissen was sie tun.
Irgendwann war es an der Zeit, daß ich mich in die lokale Politik einmischte. Ambitioniert wollte ich der Welt Veränderung bringen und der Wind der Erneuerung wehte über meinen Schultern. Die Folge waren widerständige Ideen, transportiert über das örtliche Parteiblatt und inszenierte Podiumsdiskussionen über Einwanderung mit der (dunkel-)roten Bürgermeisterin. Als sie mir nach einer Diskussion nicht die Hand reichte, verbuchte ich das auf mein politisches Haben-Konto. Jetzt konnte es nur mehr aufwärts gehen.
Mindestens so ambitioniert wie in der Politik war ich auch auf meinem Arbeitsplatz. Als Verantwortlicher für den Aufbau des Auslandsmarktes durfte ich unter einem lang gedienten »Kaufmann der alten Schule« – ein Fuchs durch und durch im positiven Sinne – Wertvolles komprimiert an Berufs- und Lebenserfahrung lernen. Der gute Mann war im örtlichen Service-Club engagiert, jahrelang deren Präsident und daher bestens vernetzt mit der städtischen Hautevolee. Es blieb nicht lange unbemerkt, dass die zweite Hälfte meines Herzens für Politik und Weltveränderung schlug.
Man kannte sich, traf sich einmal im Monat am runden Tisch im naheliegenden Schloß und hatte sich der Menschlichkeit verschrieben. Dort versammelten sich die Gelben Seiten der Stadt: Notare, Offiziere, Juristen, Apotheker, Künstler, Fachärzte, Geschäftsführer, Schuldirektoren und Gerichtsvorsteher diskutierten über die Verbesserung der Welt, und unter dem Heiligenschein der Menschlichkeit war auch gut Geschäfte machen. Dort wo es etwas zu holen gibt, läßt sich auch die Politik nicht lumpen, und so fanden sich auch Frau Bürgermeister und Konsorten beim monatlichen Treffen ein.
Da paßte es nicht ganz ins Bild der Menschlichkeit, dass auch ich meinen Teil zur Weltverbesserung beitragen wollte, aber meine Ideen der Weltveränderung dummerweise nicht ganz dem »Menschheitsprogramm« der Lichtgestalten entsprachen. Vertreter aller Parteien, außer der Partei für die ich damals meine Stimme erhob, gingen beim alten Fuchs ein und aus und in brüderlich-schwesterlicher Einigkeit bestimmte man das Ortsgeschehen. Ab und an traf mich ein verächtlicher Blick. David Bowies “Fame” war damals mein ganz persönlicher Soundtrack.
Mehrere »gut gemeinte« Gespräche mit dem alten Fuchs waren die Folge, und wegen Hoffnungslosigkeit entschlossen wir uns, getrennte Wege zu gehen. Auch die Einmischung in die Lokalpolitik gestaltete sich weniger glorreich als erhofft, brachte aber ein Mehr an Lebenserfahrung. Was blieb, war ein bitterer Nachgeschmack.
Über die weiteren Jahre hat der Glanz der Lichtgestalten einen großen Schatten auf Europa geworfen. Diejenigen, die uns in unserer Kindheit daran erinnerten, wer das Sagen hat, bauten ihren Einflußbereich weiter aus, und wieder sahen ihnen viele von uns dabei zu. Weil aber genug Platz für alle an der Sonne blieb, funktionierten Politik und Gesellschaft nach ihren eigenen Regeln – nirgendwo niedergeschrieben, verstand sie trotzdem jeder. Wenn Blattläuse sich von Ameisen melken lassen, um im Gegenzug Schutz vor Fressfeinden zu erhalten, dann muß Symbiose nicht erklärt werden.
Auch in unserer Symbiose galt: Die eine Hand wäscht die andere, und solange jeder von uns seinen Anteil am Futtertrog erhielt, gestanden wir den Lichtgestalten ihre Extravaganzen zu. Sie mimten die Bestimmer, wir hielten die Hände auf. Auch während sich die Schlinge immer enger um unsere Hälse zog, ließen wir sie gewähren. Erst seit die Sonne nicht mehr für uns alle scheint, fallen die Masken der Lichtgestalten und das System wird in Frage gestellt. Die Laus versteht plötzlich, dass sie sich von den Falschen hat melken lassen.
Jetzt sitze ich hier und denke nach, und während dieser Revue wird offensichtlich, daß es nicht nur mir so geht. An dieser gesellschaftlichen Bruchlinie, an der alles in Frage gestellt wird, was wir mit unseren Lebensstilen leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben, wird klar, was wir schon immer unbewußt gefühlt und in vielen Episoden immer wieder erlebt haben – die Lichtgestalten wollen nicht unser Haupt erhellen:
In vielen homoöpathischen Dosen betäubten wir die innere Stimme und übertönten sie mit dem Orchester der »Menschlichkeit«. Zahme Trottel, in Hilflosigkeit vereint.
Die Rückzugsmöglichkeiten werden rarer. Zwei Möglichkeiten bieten sich uns an: Von Homoöpathie auf Chemie umzustellen, die Dosis zu erhöhen und uns weiter in den Wattebausch zu kuscheln. Oder aufzustehen und Stellung zu beziehen. Wenn wir aber erst einmal stehen, wird uns der Wind noch rauher in das Gesicht wehen. Lauter werden sie von uns »Menschlichkeit« fordern, noch öfter mit dem Finger auf uns zeigen und versuchen, uns an die Öffentlichkeit zu zerren. Wenn wir aber erst einmal stehen, erkennen wir, wie viele schon neben uns stehen und wie viele weitere noch auf unser Beispiel gewartet haben und so den Mut finden, sich selbst zu erheben. Der Platz an der Sonne wartet auf Eroberung.
Ich sitze hier in einem demokratischen Land und setze meinen Namen unter einen – hoffentlich – kritischen Artikel. Ich denke darüber nach, wie ich ein System – das mich zwar gut gebrauchen könnte, aber sicher nicht haben mag – ändern kann. Ich sitze hier und habe einen Entschluß gefaßt. Als menschliche Grenze stehe ich auf, weil ich mehr in meinen Kindern sehe als Arbeitskräfte, Auszubildende, Einwohner oder Haushalte. Ich stehe auf, weil ich viel zu lange gesessen habe. Ich setzte meinen Namen über diesen Artikel, weil ich jemand bin – und ganz sicher nicht austauschbar.
Fredy
Gut gebrüllt, Siegfried. Im Ernst. Elegant geschrieben. Aber harmlos. Konntest problemlos deinen Namen drübersetzen.