linksliberalen Feuilleton irritiert, nimmt die Ereignisse um Charlie Hebdo Anfang 2015 zum Anlaß, religionspolitische Frontlinien der Gegenwart zu inspizieren. Er ordnet diesen Vorfall in größere Zusammenhänge ein.
Kissler positioniert sich erfreulicherweise klar. Er denkt über den Begriff der wehrhaften Toleranz nach. In diesem Kontext beruft er sich auf klassische und gegenwärtige Vertreter einer solchen Auffassung. Voltaire gehört seiner Meinung nach ebenso dazu wie heutige Gelehrte vom Schlage Philippe Nemos, Rémi Bragues und Heinrich August Winklers, die über die Seele des Westens reflektieren. Freilich stehen die Reaktionen auf die erwähnten Pariser Morde exemplarisch für stille Kapitulationstendenzen.
Kissler beleuchtet den zunehmenden, fast ausschließlich von Muslimen provozierten Antisemitismus. Er präsentiert viele Beispiele für die fortschreitende Dominanz des Islam. Den Gipfel inländischer Unterstützung bildet die seichte »Der Islam gehört zu uns«-Rhetorik hoher Amtsträger, weiterhin die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Kopftuchträgerinnen im öffentlichen Dienst, die sich nicht scheut, frühere Urteile auf den Kopf zu stellen.
Es ist nicht nur einer trägen und individualistisch-konsumorientierten wie säkularisierten Mehrheit der westlichen Gesellschaften zu verdanken, daß das Proprium des Westens (wenn überhaupt) nur unzureichend verteidigt wird. Darüber hinaus sollte eines nicht vergessen werden, das bei Kissler nicht ausreichend thematisiert wird: Die gesamte Neuzeit hindurch sind relativistische Tendenzen, die heute voll zum Tragen kommen, in unserem Kulturkreis üblich. Kissler hätte neben Voltaires Buch Über die Toleranz das von Montesquieu (Persische Briefe) legen sollen, in dem Reisende die Freiheit in islamischen Ländern preisen.
Der weithin zu konstatierende Verlust von Glauben und nationaler Identität hat diesen Trend nachhaltig verstärkt. Ergebnis ist die Situation, in der wir uns befinden. Kissler entgeht nicht der Modeerscheinung der (pseudo-)religiösen Glorifizierung des Westens. Gerade das ist zu kurz gedacht; denn der omnipräsente Liberalismus schwächt die Bastionen von innen, die das Immunsystem nach außen generieren sollen.
Alexander Kissler: Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss, München: Gütersloher Verlagshaus 2015. 183 S., 17.99 €.
Der_Jürgen
Ich habe das Buch von Alexander Kissler (noch) nicht gelesen, und die kurze Besprechung durch Felix Dirsch erlaubt natürlich kein Urteil darüber. Doch schon der Untertitel „Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ wirft Fragen auf.
Will Kissler traditionelle europäische Werte wie Familie, Heimat und Religion verteidigen oder die Werte des „modernen“ Europa, des Conchita-Wurst-Europa? Dirschs kritische Bemerkung, Kissler entziehe „sich nicht der Modeerscheinung der (pseudo-)religiösen Glorifizierung des Westens“, deutet darauf hin, dass eher die „modernen“ Werte gemeint sind.
Die Freiheit der Abtreibung und der gleichgeschlechtlichen „Ehe“; die Freiheit schwuler Paare zur „Adoption“ von Kindern; die Freiheit, Christus und seine Jünger auf der Bühne als Schwule darzustellen („Corpus Christi“); die Freiheit, bei einer Aufführung von Mozarts „Idomeneo“ die Enthauptung von Jesus, Buddha und Mohammed zu zeigen; die Freiheit von „Charlie Hebdo“, die Opfer der Flugzeugkatstrophe über dem Sinai zu verhöhnen („Russland verstärkt seine Bombardierung des IS“) – diese Freiheit ist für Europa das Zeichen an der Wand.
Stünde ich vor der schrecklichen Wahl zwischen einem Salafisten-Europa und einem Conchita-Wurst-Europa, so entschiede ich mich seufzend für ersteres. Die Salafisten haben ja immerhin noch eine Moral.
Im übrigen ist die Toleranz Conchita-Wurst-Europas höchst selektiv. Manche Dogmen verteidigt es nämlich, um eine Formulierung Heinrich Bölls aufzugreifen, mit rattenhafter Wut. Eine 87-jährige Frau, die zu zeitgeschichtlichen Fragen eine andere Meinung vertritt als die staatlich befohlene, erhält in Conchita-Wurst-Europa eine zehnmonatige Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Zum Vergleich: Drei Angehörige einer Türkengang, die einem am Boden liegenden jungen Deutschen drei Messerstiche in den Rücken versetzen, kommen in Conchita-Wurst-Europa mit einer Bewährungsstrafe davon; der Fall wird in Kubitschek/Paulwitz, „Deutsche Opfer, fremde Täter“ erwähnt.
Ja, wir müssen gegen die Islamisierung kämpfen, und wer kämpft, muss auch bereit sein, notfalls in den Tod zu gehen. Doch im Namen welcher Werte sollen wir denn in den Kampf ziehen?
Michael Stürzenberger betont bis zur Ermüdung, diese Werte seien Demokratie und Grundgesetz. Aber wer wird für eine Demokratie sterben wollen, die darin besteht, dass der Bürger die Freiheit der Wahl zwischen Parteien hat, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen und alle dieselbe kriminelle Politik vertreten? (Gewiss, die AFD hat gute Leute wie Höcke und Gauland, aber wenn Frauke Petrys neuer Lebensgefährte und Einflüsterer Markus Pretzell diese Partei in NRW nicht nur von der NPD, sondern sogar von den Republikanern und der Pro-Bewegung abgrenzt, ist doch schon alles klar.) Und wer wird für ein Grundgesetz ins Gras beissen wollen, das dem Bürger eine Meinungsfreiheit verspricht, die tagtäglich mit Füssen getreten wird?
Nein, für diese Werte wird niemand sterben wollen, vermutlich nicht einmal Herr Stürzenberger selbst. Ob es gelingt, Europa zu retten, hängt davon ab, ob sich genug Menschen finden werden, die bereit sind, für traditionelle europäische Werte in den Tod zu gehen. Und Toleranz gegenüber dem Feind und dem Verräter gehört in der Tat nicht zu diesen Werten.