daß Aufputsch- und Sedierungsmittel gang und gäbe waren unter Nationalsozialisten, ist keine These mit Neuigkeitswert. Allerdings galten solche Befunde bislang als Aufbereitungen aus der Gerüchteküche und als Versuch, durch Pathologisierung sowohl Durchhaltewillen und ‑kraft als auch die Brutalität der Akteure zu begründen.
Unvoreingenommenheit wird man Norman Ohler, der als Brotberuf dem Roman- und Drehbuchschreiben nachgeht, ebensowenig attestieren können wie eine Ausbildung zum Historiker.
Er hatte für ein Romanvorhaben recherchiert, wovon zahlreiche flapsige Überschüsse im Stil (»Deutschland sucht den Superjunkie«; Rommel als »Crystal-Fuchs«; Hitler mit »Laberflash«; eingangs werden reißerisch »Gefahren und Nebenwirkungen« der Lektüre – »für Kinder unzugänglich« – genannt) zeugen. Die Fülle des teils entlegenen, zuvor ungesichteten Materials hat aus Ohlers Belletristikplan ein Sachbuch wachsen lassen – und das hat es in sich.
Daß es sich spannend wie ein Krimi liest, bedeutet nicht, daß der Autor eine wilde Geschichte aus Indizien strickt, (beinahe) alles ist gut belegt. Nach der Lektüre ist zu konstatieren: Hinter diesen Forschungsstand kann man nicht zurück. Dies gilt für das Kernsujet des Buchs; zahlreiche Nebenbehauptungen (beispielhaft Ohlers Behauptung, beim Luftangriff auf London 1940 handelte es sich um den »ersten systematischen Terrorangriff des Krieges«) sind zweifelhaft oder unzutreffend.
Das erste von vier Großkapiteln widmet sich der »Volksdroge Methamphetamin«. Ohler zeigt, wie sehr Produkte wie Marianiwein, Mormonentee und die pervitinhaltigen Hildebrand-Pralinen (»mehr Freude bei der Hausarbeit!«) in sämtlichen Schichten der Bevölkerung verbreitet waren. Kleine Dosen Pervitin galten für unbedenklicher als Koffein; Heroin, so warb der Pharmakonzern Bayer, könne bei Husten und Darmkoliken selbst Säuglingen verabreicht werden. Sowohl Nationalsozialisten als auch Kommunisten nahmen in den dreißiger Jahren den Kampf gegen »Degenerationsgifte« auf. Die ab 1933 etablierten Karteien, in denen Abhängige erfaßt wurden, bezeichnet Ohler als Instrumente »zum Ausbau eines Spitzelstaats«. Man hätte es auch als Maßnahme zur Förderung der Volksgesundheit nehmen können – die spätere Konterkarierung wäre entlarvend genug.
Das zweite Kapitel titelt ätzend »Sieg High – Blitzkrieg ist Methamphetaminkrieg«. Otto Ranke, Chef des Wehrphysiologischen Instituts, kannte den Hauptfeind der Wehrmacht: die Müdigkeit. Ermüdungsbekämpfung galt ihm als Chefsache. Pervitin wirkte in Versuchen so durchschlagend, daß Rankes spätere Warnungen ungehört verhallten. 1939 bahnte sich die Droge relativ unkontrolliert ihren Weg. Pervitin hielt wach, dämpfte Hunger, besserte die Stimmung und beseitigte Hemmungen. Obgleich es unter Rezeptpflicht gestellt wurde, stieg der Verbrauch rasant an.
Ob Heuschnupfen oder als Geburtshilfe – Metamphetamin griff immer. Gottfried Benn fand, man könne Pervitin »für die Zerebraloszillationen an höheren Schulen« einsetzen, bediene es doch das »uralte Menschheitsverlangen nach Überwindung unerträglich gewordener Spannungen«. Abgebildet ist ein Brief Heinrich Bölls von 1939: »Ihr müßt verstehen, wenn ich nur alle zwei bis vier Tage schreibe. Heute schreibe ich hauptsächlich um Pervitin!« Private Bitten erübrigten sich bald: Für Heer und Luftwaffe hatte die Wehrmacht 35 Millionen Tabletten bestellt, »in Chemiegewittern« läßt Ohler die Armee agieren. Er meint es polemisch – seine Nachweise sprechen eine deutliche Sprache. Die Archive reden für Ende 1940 von über einer Million Dosierungen pro Monat.
Das dritte Kapitel nimmt Hitlers Drogenkonsum und sein Verhältnis zu Leibarzt Theo Morell unter die Lupe. Wo Historiker wie Ian Kershaw schrieben, 90 Mittel während des Krieges, 28 pro Tag, hätten Hitlers Verfall nicht aufhalten können, attestiert Ohler eine Umkehrung von Ursache und Wirkung. Hitler ließ sich (meist intravenös) einen solchen Medikamentencocktail verabreichen, daß Wirkungen und Nebenwirkungen sich ein unaufhaltsames Rennen lieferten. Ohler treibt einigen Aufwand, um herauszufinden, ob sich hinter dem ominösen täglichen »x« in Morells Aufzeichnungen Traubenzuckerinjektionen oder (wahrscheinlicher) das starke Opioid Eukodal verbarg.
Im vierten Kapitel widmet sich Ohler »späten Exzessen«. Hier (»Der tausendjährige Rausch«) will er sensationistisch »aufräumen« mit dem »Mythos der sauberen Wehrmacht« und vor allem der Marine. Admiral Heyes Name nennt Ohlers ulkigerweise »lautmalerisch« – einerlei: Heye segnete in Zusammenarbeit mit Obersturmbannführer Otto Skorzeny den Einsatz einer »Hammerdroge« ab, die aus einer Mixtur aus Eukodal, Kokain und Methamphetamin bestand. Der Spezialeinsatz der Marine wurde (Nebenwirkungen!) zum Fiasko. Vom berüchtigten Schuhläuferkommando in Sachsenhausen wurden – hier arbeiteten Marine und SS Hand in Hand – neue Drogenkombinationen getestet. Derweil wurde Hitler im Bunker drogengesättigt zu »einer Art leiblichem Seismografen für die sich abzeichnende Niederlage«.
Norman Ohler: Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Köln: KiWi 2015. 363 S., 19.99 €.
KJ
Auch heute sind Führungseliten, vor allem in den Medien, auf Drogen.
Das macht es besonders schwierig, weil hier die Tendenz zum Wahn ja immer ein Problem ist. Geht doch mal in ein großes Medienhaus und beordert die Verantwortlichen zum Drogentest.