Es steht zu vermuten, daß Helle (Jahrgang 1978) weder Michael Hanekes Endzeitfilm Wolfzeit (2003) noch erst recht Ian Stuarts Ballade The Snow Fell kennt, und doch kann es passieren, daß einem bei der Lektüre Bilder und Textfetzen des einen wie des anderen Werks im Kopf echoen.
Fünf alte Freunde in den Dreißigern begehen ihr jährliches »Traditionswochenende« in den Alpen. »So lustig wie früher würde es eh nicht werden«, aber es ist schon in Ordnung. Das ganz große Besäufnis wie früher bleibt aus, wozu auch, alte Geschichten werden aufgewärmt, man ißt Nutella und treibt ein paar kindische Spiele. Beim Abstieg wird schnell (es fällt kaum ein Wort dazu) klar, daß etwas Entsetzliches passiert sein muß. Verwüstung und Ruinen, wohin sie kommen.
Ihnen widerfährt auf ihrem bald ziellosen Weg bergab nun das, was sie zuvor nie kannten: unstillbarer Hunger, Kälte ohne Aussicht auf Schutz, der Wegfall jeder Ordnung, jeder moralischen Schranke auch, Ausweglosigkeit in jeder Hinsicht. Bald schon essen sie Rinden, dann verwestes Fleisch, bald werden sie zu Bestien, bald muß einer zurückbleiben, bald der nächste, und so weiter, es gibt keine Hoffnung, nur das kalte Grauen. »Ich meine, wir hätten es kommen sehen können.«
Helle pflegt eine karge, präzise Sprache. Einige Passagen glänzen meisterhaft, etwa wenn der Ich-Erzähler ein Kundengespräch imaginiert, das sein Kumpel Golde, der Vermögensberater, täglich geführt haben mag. Golde muß ein exzellenter Verkäufer gewesen sein. Sein Tod ist monströs.
Manches wird im Buch überdeutlich angesprochen (Handywegwerfen, Zivilisationskritik, eine gewisse »Unsere Generation«-Stimmung), was man subtiler ausdrücken könnte, in anderen Punkten hätte man sich weitergehende Anrisse des psychosozialen Gegenwartselends gewünscht. In jedem Fall ist dies das Gegenteil von Erbauungsliteratur, Schwärzeres und Drastischeres ist kaum denkbar. Helle, studierter Philosoph, bleibt ein Autor, den man weiterhin erwartungsvoll lesen wird.
Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen. Roman, Berlin: Suhrkamp 2015. 173 S., 19.95 €
Jens Müller
Hallo Frau Kositza,
danke für die Leseempfehlung!
Wenn sie gerne düstere Werke lesen, kann ich Ihnen "Die Straße" (englischer Originaltitel: The Road) von Cormac McCarthy empfehlen.
Gut ist auch "Stadt der Diebe" von David Benioff.
Viele Grüße
Jens Müller