aber so richtig gegeben. Dekadenzklagen haben jedoch immer eine Reihe unbequemer Fragen zur Folge: Ist man selbst nicht betroffen? Haben wir es wirklich mit Dekadenz, also dem Abfall von Normen und Formen, oder mit deren langfristigen Konsequenzen zu tun? Verfügt man schließlich selbst über Konzepte zur Behebung des Verfalls?
Herr Kunkel ist als praktizierender Kampfsportler hier zwar in einer guten Position, aber vielleicht ein Einzelfall. Wie stünde es dagegen bei Konservativen und Rechten allgemein um die Wiedergewinnung körperlicher Gewaltfähigkeit und ihrer Voraussetzungen? Viele werden schon beim Wort „Gewaltfähigkeit“ zusammenzucken und lieber von Wehr- oder Verteidigungsfähigkeit sprechen. Aber es geht nun mal um die eigene Fähigkeit zur Anwendung von Gewalt, und die Weigerung, das Kind bei seinem richtigen Namen zu nennen, ist bereits ein Hinweis auf die Hemmungen, die sie untergraben.
Gewaltfähigkeit erfordert einmal körperliche Ressourcen, Kraft, Gewandheit und Ausdauer, die durch Übung herangebildet werden müssen, wenn man nicht als Möbelpacker arbeitet. Ich muß also in sie Lebenszeit investieren: Hantel statt Heidegger, Boxen statt Bach. Das werde ich um so lieber tun, je mehr der Erwerb etwa von Kraft für mich einen Eigenwert darstellt, was wieder von meinem Körperbild und dem meines Umfeldes abhängt. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß man unter Sezessionisten und auch Konservativen im allgemeinen hier nicht zum Herkules Farnese neigt.
Diskussionen um die kraftseitigen Voraussetzungen von Kampfsport driften meist schnell in Aufzählungen ab, welcher schlanke Kämpfer wann welchen Muskelprotz besiegt habe. Mal abgesehen davon, daß auch ein Muhammad Ali („dance like a butterfly, sting like a bee“) physisch uns allen haushoch überlegen wäre und schon die Existenz von Gewichtsklassen im Kampfsport für die Bedeutung von Kraft spricht, wird eine muskulöse Schlägerfigur nun mal mit Gewaltfähigkeit verbunden, so daß ihre Bewertung auch die Bewertung von Gewaltfähigkeit an sich widerspiegelt.
Konservative führen meist die Formen vergangener Eliten fort. Zum Selbstverständnis des Adeligen gehörte zwar die Gewaltfähigkeit, aber auch die Waffenfähigkeit. Man duelliert sich mit Degen und Pistole, prügeln tut sich der Pöbel. Doch bereits der Waffengebrauch vergrößert den Abstand zwischen mir und meiner Gewaltfähigkeit: Sie formt meinen Körper weniger, und sie trifft den Körper des Gegners nicht unmittelbar – der Beginn einer Entfremdung. Auch der gehobene Bürger setzt sich von der Physis des körperlich arbeitenden Menschen eher ab. Um ein gewaltfähiges Körperbild ist es bei uns also eher schlecht bestellt. Ein aufschlußreiches Detail ist hier der in manchen Sportstudios bestehende, gerade für Männer geltende T‑Shirt-Zwang. Ein Turner oder Ringer dürfte dort in seiner Sportbekleidung nicht trainieren. In einer Sportstätte, in der man Muskeln aufbauen will, gilt das Zeigen eben dieser nicht als Ansporn, sondern als obszön. Die aus adeligen und bürgerlichen Abgrenzungsbedürfnissen entstandenen Körperbilder untergraben also langfristig eine der Grundlagen von Gewaltfähigkeit – Konsequenz, nicht Dekadenz.
Neben die körperlichen treten die mentalen Voraussetzungen für Gewaltfähigkeit: Aggressivität, Mut, Entschiedenheit, sicher auch Klugheit, aber die ist nur eine Voraussetzung unter mehreren. Wichtiger als die Voranstellung des wütenden Schlägers oder des kühlen Strategen ist die Feststellung, daß es körperlich wie mental die unterschiedlichsten Kämpfertypen gibt und alle irgendwann gesiegt haben. Es ist sinnlos, dieses Spektrum einzuschränken. Ein deutscher Mixed-Martial-Arts-Kämpfer hat mal gesagt, das Herz müsse brennen, aber der Kopf müsse kalt sein.
Irgendwo brennen muß es also, man braucht eine abrufbare Aggressivität und kämpferische Emotionalität. Wo im bürgerlichen, konservativen oder auch rechtsintellektuellen Habitus, der vom Abwägen und Differenzieren geprägt ist, gibt es hierfür eine Grundlage? Erschwerend kommt hinzu, daß die mentalen Voraussetzungen in einer Notwehr- und besonders einer Nothilfesituation höher sind als im Kampfsport: Unvermittelt bricht ein unbekannter Gegner über einen herein, den man nicht vorher studieren konnte, es gibt keine Schiedsrichter, Regeln oder Ringarzt. Kämpfen ist hier der plötzliche Eintritt in einen anderen Zustand. Dafür hat uns die Natur mit Regungen wie Wut und Zorn ausgestattet.
Aber es ist gerade der Konservative, der fordert, diese Regungen durch Selbstkontrolle zu unterdrücken. Er fördert das, was man mit Norbert Elias den Prozeß der Zivilisation nennt. Das Wort Selbstkontrolle ist allerdings ein Etikettenschwindel, denn ich kann meine Wut unterdrücken, aber ich kann sie nicht willentlich anschalten, wenn ich sie erstmal erstickt habe. Natürlich kann Aggressivität kulturell geformt werden, die altnordische und altjapanische Kultur zeigen sehr deutlich, daß starke Selbstkontrolle mit hoher Gewaltfähigkeit einhergehen kann. Nur muß Gewalt dann kulturell positiv geformt und geübt werden. Wird sie nur unterdrückt, stirbt die Fähigkeit zu ihr irgendwann ab.
Weil der Prozeß der Zivilisation ein fortlaufender Prozeß ist, ist es sehr schwer, einen angeblich optimalen Zustand der Gewaltkultur zu benennen, da unklar ist, ob er sich wirklich selbst trägt oder nicht doch seine Energie aus einer unbeherrschteren, erst jüngst unterdrückten Vorstufe bezieht. Wenn ich jetzt lese, daß sich der deutsche Mann „früher“ gegen die Invasoren auf der Domplatte problemlos gewehrt hätte, dann hätte ich das gerne genauer beschrieben.
Soll ich mir hier eine wütende Horde aus Ärzten, Anwälten und Lehrern vorstellen? Oder wären es nicht auch „damals“ vor allem Handwerker, Arbeiter oder die „Landjugend“ gewesen? Man möge bitte weiter bedenken, daß mit der Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft Verhaltensformen des Bürgertums die Verhaltensmuster der Arbeiterschaft überformen. Konsequenz, nicht Dekadenz ist auch hier das Problem.
Der persönlichen Gewaltfähigkeit ist weiter abträglich, daß der Staat im Zuge der Verwirklichung seines Gewaltmonopols die eigenständige Gewaltausübung des Individuums immer weiter zurückdrängt. Gefördert wird stattdessen die Unterordnung unter Regeln und Institutionen, die der Einzelne jetzt um ein Handeln angeht, das er selbst nicht mehr vornimmt – und zwar alleine. Staatlich verfaßte Macht hat, ganz unabhängig vom vielgeschmähten Liberalismus und Individualismus, einen starken Vereinzelungs- und Entsolidarisierungseffekt, weil sie kein Interesse daran hat, daß sich Individuen miteinander solidarisieren und ihr entgegentreten können.
Aggressivität und aggressive Solidarisierungsbereitschaft sind unter den Bedingungen des staatlichen Gewaltmonopols und weitgehender Verrechtlichung schlicht überflüssig. Der Einzelne, der sie vorhält, muß sie ständig unterdrücken. Das Schimpfwort von der Verhausschweinung übersieht, daß diese nunmal die Anpassung an Lebensbedingungen ist, unter denen man keine dichten Borsten und langen Hauer mehr braucht. Gerade Konservative sind Propagandisten von Staat, Recht, Regeln und Institutionen und damit eben der Verhausschweinung und Entmännlichung, die sie beklagen. Diese sind die langfristigen Konsequenzen ihrer Werte und die notwendige Nebenwirkung der von ihnen geschätzten Institutionen, womit deren segensreichen Wirkungen nicht geleugnet werden sollen, die Nebenwirkungen aber eben auch nicht.
Die Entfremdung des Konservativen und auch manches Rechten von der eigenen Handlungsfähigkeit, und zwar nicht nur der gewalttätigen, sondern auch der gewaltfrei politischen, zeigt sich, wenn die jetzige Krise auf Schlagworte gebracht wird. Worum geht es ihm eigentlich? Der Liberale spricht von Leben, Freiheit, Eigentum, auf manchen Transparenten habe ich die Worte „Freiheit, Heimat, Tradition“ gelesen. In konservativen und zu oft auch in rechten Medien wird an allererster Stelle von Recht und Staat gesprochen: Das Recht werde gebrochen, der Amtseid verletzt, der Rechtsstaat zerstört. Die illegale und ungeordnete Masseneinwanderung müsse gestoppt werden – eine legale und geordnete Masseneinwanderung scheint also in Ordnung zu sein.
Dieser Vorrang des Rechts ist einmal theoretisch verfehlt, weil das Recht nun mal das Produkt von Politik ist und eine Argumentation mit politischen Zielen und Gütern darum nicht ersetzten kann. Empirisch ist er verfehlt, weil Eurokrise und Asylpolitik doch gezeigt haben, daß ohne einen entsprechenden politischen Willen das Recht schlicht nicht vollzogen wird. Wenn man trotz dieser überwältigenden Erfahrung auf das Recht und den Staat fixiert bleibt (die Linken sind das in dieser Form nie), dann deshalb, weil man seine Handlungsfähigkeit an diese Institutionen dauerhaft verloren hat.
Im Englischen bezeichnet das Wort „agency“ sowohl jemandes Handlungsfähigkeit als auch eine Behörde; der Konservative hat hier die eigene agency gegen die des Staates eingetauscht – und fort ist fort.
Entscheidungen zum Kampf sind Entscheidungen im Zweifel, nicht nur wegen des ungewissen Ausgangs, sondern auch wegen des sozialen Rückstoßes, den jede Gewaltanwendung erzeugt. Werden andere mir helfen? Werden andere mich verurteilen? Wird der Staat mich verurteilen, und werden andere mir trotzdem beistehen? Das Umfeld des Gewaltübenden muß sich ebenfalls im Zweifel entscheiden, weil es die genauen Umstände einer Gewaltanwendung oft nie erfahren wird. Hier werden Grundentscheidungen wirksam, die den Inhalt von Begriffen wie Zusammenhalt, Loyalität und auch Volk ausmachen. Es geht letztlich um Parteilichkeit.
Parteilichkeit ist nun ein linker Begriff, und die Linken machen hier regelmäßig alles richtig. Trotz aller internen Streiteren stellt man sich nie auf die Seite des Gegners. Fehlverhalten auf der eigenen Seite wird, sofern es nicht als berechtigte Widerstandhandlung gewertet wird, geleugnet, relativiert oder der Gegenseite angelastet. Für Linke wäre die Auflösung der Pegida-Demonstration in Köln am 8. Januar gar kein Problem.
Diese wäre selbstverständlich eine Schweinerei, weil sich die große Mehrzahl aller Teilnehmer, auch der Hooligans, friedlich verhalten hätte. Nur eine kleine Gruppe an der Spitze, die womöglich staatliche Handlanger enthielt, sei auf die ständigen Provokationen der Polizei hereingefallen, was angesichts ihres Verhaltens an Silvester verständlich sei. Diese hypothetische linke Wertung entspräche sogar weitgehend den Tatsachen, nur für die Gruppe an der Zugspitze müßte ich mich im Zweifel entscheiden – und ich täte mir keinen Gefallen, stellte ich mich voll auf die Seite des Staates.
Gerade die Hooligans, die ja schon oft genug gewaltfrei demonstriert haben, sind ein gutes Übungsobjekt für das Entscheiden im Zweifel. Ich will sie gar nicht idealisieren. Ich will mich nur selbst nicht mehr idealisieren. Meine Vollkontakt-Kampfsport-Zeiten sind lange vorbei, ich bin darin nie gut gewesen, und meine Gewaltpraxis beschränkt sich auf das Durchbrechen einer Antifanten-Blockade durch Wegdrängeln. Doch das habe ich gelernt: jemand, der mich auf die Matte schickt, der ist im Bezugssystem Gewalt schlicht besser als ich. Ein Hooligan kann etwas, das ich nicht kann.
Stünde ein Hooligan vor mir und fragte er mich, was ich ihm beim Wechsel zu einem anständigen bürgerlichen Lebensstil als Ausgleich für seine Fäuste, seine Aggression und den Zusammenhalt in seiner Gruppe anzubieten hätte, was sollte ich ihm nennen? Recht, das nicht vollzogen wird? Institutionen, die sich längst gegen mich gewendet haben? Argumente, die nicht gehört werden, ja nicht einmal gesagt werden dürfen? Eine soziale Formation ohne inneren Zusammenhalt?
Ich habe nichts vorzuweisen, und ich will weder mir noch anderen darüber länger in die Tasche lügen. Nicht der Hooligan ist das Problem, sondern daß er fast der einzige ist, der außerhalb der Linken und Invasoren noch über eine effektive Gewaltfähigkeit verfügt. Die hat er, und hier schließt sind der Kreis, weil sie für ihn wegen ihres Erlebniswertes einen Eigenwert hat.
Was also wäre zu tun?
- Der einfachste, weil nur denkerische Schritt ist die Überwindung der Entfremdung des Konservativen von sich selbst und der Welt dadurch, ständig den Staat und das Recht dazwischenschieben zu müssen. Das bedeutet nicht Anarchie, sondern die Beschränkung des Rechts auf seine verfassungsgemäße Rolle als Produkt von Politik. Das erfordert Diskurshygiene und eine Verschiebung der Lieblingsschlagworte: Heimat statt Rechtsstaat.
- Weil die heutige Gesellschaft die Gewaltlosigkeit fördert, muß Gewaltfähigkeit aktiv durch eine entsprechende Gewaltkultur hergestellt werden. Gibt es eigentlich irgendwo eine schlagende Verbindung, die aufs Thaiboxen umgestiegen ist? Ändern Sie Ihr Körperbild, trainieren sie auf Kraft und Masse in einem Studio ohne T‑Shirt-Zwang. Und der tätowierte Bulle, der auf der Bank 160 kg drückt, der ist ab jetzt ihr Vorbild.
- Falls Sie noch nie Kampfsport betrieben haben, nehmen Sie mindestens an einer Probestunde für einen solchen teil, bei dem man sich anfaßt. Auch Judo oder Selbstverteidigung sind völlig in Ordnung. Entweder bleiben Sie dabei und können irgendwann eigene Überlegungen zum Kampf als inneres und äußeres Erlebnis anstellen. Oder sie zählen jede Minute, bis es endlich vorbei ist – und werden dann hoffentlich begriffen haben, daß der Wert ihrer Selbstbeherrschung und ihrer Geistigkeit in denen liegt, die für Sie gewaltmäßig die Drecksarbeit machen.
- Im Zweifel entscheiden Sie sich immer für die eigenen Leute, selbst wenn sie tätowiert sind – ohne Ausnahme.
Frieda Helbig
Der körperlichen Ertüchtigung liegt ja immer die Selbstbestätigung inne: Ich habe es geschafft, ich habe meinen inneren Schweinehund überwunden, ich habe es mir selbst bewiesen.
Zudem dient Sport der Volksgesundheit, insofern man dies noch sagen darf. Es sei hier an Turnvater Jahn erinnert.
Für mich persönlich daher stets das Motto: Stähle Körper und Geist für die nächste Schlacht!!!
P.S. Geht zur Not auch ohne Körperbemalung :-)