Das gilt im Vergleich mit Jürgen Habermas, der als »Bundesphilosoph« (Norbert Bolz) schon seit vielen Jahren das juste milieu mit der dazugehörigen politisch korrekten Theorie versorgt. Es gilt aber auch im Vergleich mit verwandteren Naturen wie Richard Rorty, der wie Marquard an einem »Abschied vom Prinzipiellen« arbeitete. Wer indes die öffentliche oder offiziöse Wertschätzung nicht als den verläßlichsten Maßstab der Bewertung eines Philosophen betrachtet, kümmert sich um derlei Äußerlichkeiten nicht weiter und wendet sich den Werken selbst zu.
Marquard gehörte zu den wichtigsten Vertretern der ersten Schülergeneration Joachim Ritters. Gemeinsam mit Hermann Lübbe und Robert Spaemann prägt er auch in der Sekundärliteratur nachhaltig das Bild der Ritter-Schule, obwohl er selbst nicht von Ritter, sondern während dessen Türkeiaufenthalt Mitte der 1950er Jahre von dem katholischen Heidegger-Schüler Max Müller promoviert wurde. Es steht außer Frage, daß Marquard und seine Generationsgenossen ein theoretisch gehaltvolles Denken tradierten, das jenseits der marxistischen Strömungen seinen Ort hat. Allein diese Tatsache kann nicht hoch genug veranschlagt werden, wenn man bedenkt, daß noch Jean-Paul Sartre ausgerechnet im Marxismus den unhintergehbaren Horizont des ausgehenden 20. Jahrhunderts sah.
Marquard selbst hat, weil »ohne wirkungsgeschichtlichen Willen zur Macht«, keine Schule gemacht, also auch keine »Gießener Schule« begründet – wie die Ritter-Schule insgesamt nicht politisch genug war, um auch nur annähernd eine der Frankfurter Schule vergleichbare Wirkung zu entfalten. Auch stark von Ritters Hegeldeutung geprägte Philosophen wie Reinhart Maurer, Günter Rohrmoser oder Bernard Willms, die alle scharfsinnige und klare Beiträge zur Lageanalyse der modernen Demokratie lieferten, blieben in ihrem Einfluß auf die Philosophie unserer Zeit letztlich marginal.
Maurer zufolge haben sowohl Marquard als auch Lübbe die noch bei Ritter vorhandene Geschichtsphilosophie ausgeklammert – »der große Atem der Hegelschen Geschichtsphilosophie« wehe bei seinen Schülern nicht mehr. Vielmehr werde aus der fortschrittsambivalenten Entzweiungstheorie Ritters eine »Nichtkrisentheorie der Moderne«, die für Marquard die Aufgabe hat zu zeigen, daß die Moderne entgegen anderslautenden Gerüchten gut ist, wie sie ist. Marquard ist also ein »Modernitätstraditionalist«, der sich in dieser Hinsicht mit Habermas einig weiß, auch wenn er dessen Ideologem von einem »Projekt« Moderne nicht teilt.
Marquards offenkundige »Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie« hängen mit seinem philosophischen Interesse am Einzelnen zusammen. Denn gegenüber den vertagten Verheißungen, wie sie exemplarisch der Marxismus verkörpert, gilt das Recht derjenigen, die jetzt leben, weil dieses Leben endlich ist. »Es gibt ein Recht der nächsten Dinge gegenüber den letzten«, so Marquard, ein Recht, das durch die Geschichtsphilosophie verletzt werde. Marquard präsentiert seine Philosophie also als Anti-Eschatologie und damit als Protest gegen die Gegenwartsentwertung.
Der Abschied von der Geschichtsphilosophie hat eine doppelte Stoßrichtung: Erstens geht es um die Zurückweisung der geschichtsphilosophischen Illusion, »Veränderung sei eo ipso Verbesserung«. Das skeptische Memento dagegen könnte man als konservativ und ökologisch bezeichnen: »die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden geändert; es kommt darauf an, sie zu verschonen.« Zweitens aber ist mit jenem Abschied auch der Abschied von der Anthropologiekritik verbunden.
Marquard bleibt zwar auch gegenüber der philosophischen Anthropologie skeptisch, wofür es ja auch Gründe (etwa diejenigen von Jaspers) gibt, aber Anthropologie kann auch selbst zu einer Quelle der Skepsis werden. Dies ist bei Marquard der Fall, wenn er von der Endlichkeit des Menschen her denkt und ihn schließlich gar als »Zeitmangelwesen« bestimmt.
Diese und weitere Grundzüge seines Philosophierens, in dem in gebrochener Form auch Impulse der Existenzphilosophie Kierkegaards und Heideggers zum Tragen kommen, hängen eng mit Marquards eigenen geschichtlichen Erfahrungen zusammen: Die frühe Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus, den er später als schlimmste Form der Bürgerlichkeitsverweigerung ansah, gehört hierzu ebenso wie später die 68er-Zeit.
Marquard besuchte zwei Adolf-Hitler-Schulen, die ihm einen nachhaltigen Abscheu vor allem »Idealismus« einimpften. In der Nachkriegszeit war Odo Marquard, nun links geworden, zunächst durchaus beeindruckt von Georg Lukács’ philosophiehistorischem Pamphlet Die Zerstörung der Vernunft, doch 1968 sollte sich das nachhaltig ändern. Denn die Teach-ins der Studentenbewegung ähnelten ihm zu sehr den NS-Schulungsabenden, als daß sie ihm sympathisch sein konnten.
Gegen die marxistischen Theoretiker der Entfremdung, die in jenen Jahren großen Anklang fanden, steht Marquard mit der Bejahung oder eben Positivierung der Entzweiung, einer Denkfigur, in der Marquard jene »Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung« erkannte, die für ihn selbst zum Leitfaden seiner politischen Philosophie wurde.
So wie Hermann Lübbe in seiner Kritik am Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft eine zentrale Signatur des moralisierenden und hypermoralischen Demokratismus erkannt hatte, steht auch Marquard in der Tradition der Moralkritik. Zwar distanziert er sich von Gestus und Stil Nietzsches; gleichwohl wird man sagen dürfen, daß Marquards Kritik am Gewissensein der Sinnproduzenten in der modernen Massengesellschaft ohne Nietzsches Moralkritik nicht denkbar wäre.
Der Typus derjenigen, die das Gewissensein statt des Gewissenhabens verkörpern, läßt sich heute überall beobachten. Aus ihnen rekrutieren sich nicht nur die »guten Menschen« Nietzsches (die sich nämlich selbst für gut und die Träger anderer »Werte« für »böse« halten), sondern auch jene Funktionäre der Zivilreligion, die sich als Korrektheitswächter (Lübbe) verstehen. Im Gefolge der 68er-Zeit entwickelte Marquard durch Umkehrung der Totemismus-Theorie Freuds seine These vom nachträglichen Ungehorsam, eines Ungehorsams gegen den angeblichen Faschismus, der indes den Ungehorsamen wenig koste.
Philosophie aber ersetzt in keinem Fall die jedem einzelnen Menschen mögliche Urteilskraft; sie sei kein Amulett gegen Irrwege, weshalb es nach Marquard eine Torheit wäre, die Philosophie mit einem Anspruch auf Herrschaft zu versehen. Marquard ist als Skeptiker und Pluralist ein entschiedener Gegner aller Monopolisierungsansprüche im Denken: »Es gibt keine gute Alleinherrschaft einer Philosophie; und der Marxismus ist seinerseits ein besonders instruktives Beispiel dafür.«
Marquards Entscheidung für die Skepsis macht ihn zu einem Konservativen altliberalen Zuschnitts, wie seine Berufung auf Montaigne, die skeptische Moralistik, Montesquieu und Tocqueville als seine eigenen Traditionsbestände zeigt – zu einem Konservativen, der auch diesen Begriff nicht scheute.
Bei Marquard besteht der wichtigste Bezug auf die philosophische Tradition also in der Berufung auf die Skepsis. Diese ist ihrer Natur nach konservativ, denn sie läßt den Üblichkeiten des Alltags, so weit er jedenfalls Normalität repräsentiert und moralische Lebensformen einschließt, weitgehend unangetastet. Skepsis ist Utopieresistenz. Sie ist kein inhaltliches Prinzip, sondern strategisch einsetzbar als Instrument der Delegitimierung von Dogmatismen. Marquard betreibt dieses Geschäft nicht zuletzt durch die Prägung von Begriffen, mit denen er entweder sich selbst und seinen Denkstil charakterisiert oder philosophische Probleme auf den Punkt zu bringen sucht.
Vor allem Marquards Kurz- und Kürzesttexte sind Interventionen in einer polemischen Konstellation: Er antwortet mit seinen Essays auf Herausforderungen, die sich für ihn politisch vor allem aus der weitverbreiteten »Bürgerlichkeitsverweigerung« ergaben. Der Mangel bürgerlicher Selbstbehauptung ist von wenigen Denkern so nachhaltig thematisiert worden. Marquards Philosophie ist Affirmation der Affirmation und zugleich Kritik der Kritik. Was affirmiert wird, läßt sich aber ohne Argumente und prinzipielle Hinweise nicht zeigen, denn wenn man sich der Verweigerung verweigert, negiert man nicht deren Prinzip, sondern nur den konkreten Inhalt, auf den sich die ursprüngliche Verweigerung bezieht.
Zu den bekanntesten Beiträgen Marquards gehört die Kompensationstheorie. Nicht schon Ritter, sondern erst Marquard ist ihr Theoretiker, der mit ihr vor allem den Platz der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, nämlich ihre Unvermeidlichkeit, begründen wollte. Kompensiert werde nach Marquard beispielsweise die von der Wissenschaft erzeugte »Entzauberung der Welt« durch ästhetische Faszinationskraft.
Marquard spielte wie Hans Robert Jauss oder Hans Blumenberg eine wichtige Rolle bei den Diskussionen der Gruppe »Poetik und Hermeneutik«, deren Themen von der Ästhetik der nicht-mehr-schönen Künste bis zur Identität noch keineswegs abgegolten sind. Das noch unausgeschöpfte Potential von Marquards philosophischer Essayistik liegt wohl vor allem jenseits des akademischen Bereichs – seine Texte (vor allem in dem halben Dutzend Reclam-Bändchen) sind vor allem Anstöße zum Querdenken – und nicht unbedingt für weitere Doktorarbeiten. So ist es auch zweifellos zutreffend, wenn man Marquards wie Lübbes Kritik an der (vor allem) Habermas’schen Diskurstheorie als »überwiegend ironischer Natur« und nicht als Beitrag zur akademischen Debatte sieht (Jens Hacke).
Dabei wird jedoch vergessen, daß ironische Distanzierung das ideologiekritische Mittel der Wahl sein kann, wo etwas schon vom Ansatz her erkennbar falsch ist – wer sich jahrelang in Theorien des kommunikativen Handelns versenkt, hat demgegenüber schon verloren, nämlich Lebenszeit und die Freiheit, den ohnehin nie »herrschaftsfreien« Diskurs unter eigenen Bedingungen zu befeuern.
Marquard ließ sich denn auch nicht von dem Anspruch beeindrucken, mit der Diskursethik finde eine Demokratisierung der Moral statt.Die Bilanz des Philosophierens von Marquard fällt ambivalent aus: Einerseits ist seine Philosophie der Positivierung im Recht gegen eine auf Dauer gestellte kritische Hinterfragerei neomarxistischer Provenienz.
In einer Zeit, die den Bürger als überlebtes, ideologisch fragwürdiges Element in seiner Identität erschüttern wollte und auch tatsächlich nachhaltig erschütterte, konnte Marquard als eine Art philosophischer Katechon der Moderne und ihres entscheidenden Trägers begriffen werden. Er bemühte sich mittels seiner »transzendentalbelletristischen« Interventionen, den Bürger in Schutz zu nehmen. Dieser sollte sich nicht ständig ein schlechtes Gewissen einreden lassen. Da aber eben diese Psychotechnik heute fröhliche Urstände feiert, bleibt Marquards skeptisches Pathos der Distanz gegenüber Moraltrompetern wichtig.
Als Denker des Normalzustandes muß Marquards Philosophie indes dort an Grenzen gelangen, wo Normalität nur noch als schattenhafte Erinnerung existiert. Marquards implizit gegen Carl Schmitts harte Einsichten gerichtetes Bonmot, vernünftig sei, wer den Ernstfall vermeide, markiert, so scheint es, das politische Defizit seiner Form des Neokonservatismus als Apologie der Bürgerlichkeit. Denn es gehört zu den grundlegenden Einsichten Carl Schmitts, daß es nicht im Belieben der politischen Akteure steht, den Ernstfall zu vermeiden, wie es auch nicht möglich ist, sich der Feinderklärung von seiten anderer zu entziehen, seien es nun Antifaschisten oder Islamisten. Hier hilft schließlich auch der von Marquard variantenreich inszenierte Appell an »Üblichkeiten« nicht weiter.
Denn üblich ist nicht nur heute Vieles geworden, also der Keim für (wenn auch schlechte) Tradition, z. B. die Hypokrisie der öffentlichen Meinung (Botho Strauß), das Hinweglügen über existentielle Bedrohungen von Staat und Nation, die Diffamierung und Stigmatisierung Andersdenkender aus dem Schutz der Anonymität heraus, die Verharmlosung des Islam, die Mißachtung von Recht und Gesetz sowie von internationalen Verträgen. Marquards Normentheorie der Üblichkeiten soll nur auf dem basieren, was gilt, weil es gilt und eventuell schon früher galt. Daß es aber im geschichtlichen Prozeß auch um substantielle normative Gehalte geht, kommt dabei nicht mehr in den Blick.
Marquard liebte den Gedanken der »Anknüpfung«. Woran ließe sich also anknüpfen? Der Philosoph Odo Marquard mißachtete souverän ein avantgardistisches Fortschrittsverständnis. In der Philosophie, so schrieb er im Vorwort zu seiner erst nach Jahrzehnten veröffentlichten Habilitationsschrift, »ist der neueste Stand nicht unbedingt der anregendste Stand«.
Marquard wendet sich ausdrücklich gegen die »fortschrittlichsten Fortschrittsphilosophen«, die »immer das Neueste sagen«, während die Skeptiker, mit denen er sich identifizierte, stets nur das Zweitneueste oder gar das Älteste brächten. Darin aber liegt auch der Keim einer Erneuerung beschlossen: »Weil in unserer Welt das Neueste immer schneller zum Alten wird, kann das Alte immer schneller zum Neuesten werden« – und so ist es nur konsequent, wenn Marquard mit typischer Distanz zum akademischen Philosophiebetrieb betont: Nicht die Wissenschaftlichkeit (die sich ja am Forschungsstand orientieren müßte) ist für die Philosophie wichtig, sondern daß sie »nichts übersieht«.
Philosophie ist somit der Versuch, unsere Scheuklappen loszuwerden – also »der Versuch des Verzichts auf die Anstrengung, dumm zu bleiben«. Indem Marquard die möglichst unverstellte Sicht auf die Wirklichkeit verteidigt, unterscheidet er sich grundlegend von all jenen Theoretikern unserer Tage, die ihre Theoriesysteme entwerfen, um an der Wirklichkeit vorbeidenken zu können.
Weil der Skeptiker im Sinne Marquards weder ein Totalpraktiker noch ein Totaltheoretiker (ein grundlegender Unterschied nicht nur zu Heidegger) ist, bleibt er dichter an derjenigen Realität, die konkret erfahrbar ist. Das aber sind gute Voraussetzungen für eine Lagebestimmung unserer Tage, die »nichts übersieht«. Philosophie, so Marquard, müsse »merken, was sonst unbemerkt, und sagen, was sonst ungesagt bliebe«. Welche Philosophen leisten dazu heute einen Beitrag?