Unterwerfung von Michel Houellebecq; Die Kathedrale von Joris-Karl Huysmans; eine Auswahl aus den Schriften von Charles Péguy; zwei Romane von Jean Raspail, Das Heerlager der Heiligen, an dessen Neuübersetzung ich zu diesem Zeitpunkt arbeitete, und Sire. Diese Bücher sind über eine Vielzahl von thematischen Fäden miteinander verknüpft, von denen ich einige in meiner eigenen Hand zusammenlaufen sah.
Ich kam nach Frankreich, um die Kathedrale von Chartres zu sehen – ein Traum, der seit zwei Jahren stetig in mir angewachsen war. Inspiriert hatte ihn, wie bei so vielen anderen vor mir, das Beispiel Péguys. Als Apostat der sozialistischen Partei hatte sich Péguy zunehmend dem katholischen Christentum zugewandt, damit auch dem vormodernen, dem ewigen, sakralen Frankreich Ludwigs des Heiligen und der Jeanne d’Arc, der er zwei große Versdichtungen widmete. Dieses Frankreich kristallisierte sich für ihn im Bild der großen Kathedrale.
Am 14. Juni 1912 brach er zu seiner ersten Fußwallfahrt von Paris nach Chartres auf, um der Jungfrau Maria seine Fürbitten für seinen lebensgefährlich erkrankten Sohn darzubringen. Er wiederholte diese Pilgerreise im Juli 1913 und ein letztes Mal im April 1914. Fünf Monate später war er tot, gefallen für die »patrie charnelle«, das »fleischliche Vaterland«, am 5. September 1914, dem Vorabend der Schlacht an der Marne, im Alter von nur 41 Jahren.
Später folgten viele enthusiastische Leser Péguys Spuren. 1953 berichtete Hans-Urs von Balthasar über »abertausend Studenten«, die nach Péguys Vorbild alljährlich gen Chartres zogen, unter ihnen »Juden und Heiden«. In den Kanon der französischen Literatur ist insbesondere das Gedicht »Darbringung der Beauce an unsere Liebe Frau von Chartres« eingegangen: »Seefahrer wir zu deinem Dome streben. / Ein Kranz von Feimen ist von fern zu sehen, / Reich und abseits, wie runde Türme stehen, / Kastelle sich vom Admiralsschiff heben.«
Heute wird die Wallfahrt, die am Pfingstsamstag vor der Notre Dame de Paris beginnt und am Pfingstmontag vor der Notre Dame de Chartres endet, vom traditionalistisch-katholischen Milieu Frankreichs getragen und von der Priesterbruderschaft St. Petrus organisiert. Bis zu 10 000 Menschen nehmen daran teil.
Unter der Leitung der Piusbrüder ziehen zur selben Zeit andere Pilgerscharen in die entgegengesetzte Richtung. Mir erschien es allerdings wenig reizvoll, in Chartres zu beginnen und in der Großstadt zu enden, als würde man von einer Bergspitze ins Tal hinabsteigen.
In der flachen, von weiten Kornfeldern gesäumten Landschaft der Beauce ist die Kathedrale die alleinige, unbestrittene Herrscherin; sie erhebt sich über dem Landstrich wie eine Gralsburg, deren charakteristische Turmspitzen man bereits auf etwa zwanzig Kilometer Entfernung erspähen kann. Chartres gilt zudem als besonders vollendetes Bauwerk der Gotik, gerade wegen ihrer in sich ruhenden, majestätischen Nüchternheit, die weit entfernt ist vom »Flamboyant« späterer gotischer Kathedralen.
Monate vor Pfingsten fing ich an, mich wie ein zunehmend Besessener mit ihr zu beschäftigen, und fraß so ziemlich alles, was ich über sie finden konnte, von seriöser kunstgeschichtlicher Literatur bis zu spekulativen Schmökern über die esoterische Bedeutung dieses in der Tat rätselhaften und hochkomplexen Bauwerkes, das gleichermaßen Abbild des Kosmos, des göttlichen Heilsplanes und der Welt des Hochmittelalters ist, die vielen modernen Köpfen, die die Moderne zu überwinden suchten, als unwiderstehliches Paradigma einer absoluten – lichten und nicht finsteren! – Gegenwelt erschien, die näher an Gott wie auch der Erde war als ihre eigene aufgeklärte, säkulare, entzauberte Zeit.
Diese Liste ist lang und schillernd: Sie reicht von den frühen Romantikern bis zu den späten Décadents, von Gilbert Keith Chesterton zu Egon Friedell, von Henry Adams über Drieu La Rochelle bis zu den Anhängern der Guénon-Schule.
Nicht zu vergessen natürlich Huysmans: Die Kathedrale (1898) war der dritte Teil seines quasi-autobiographischen Romanzyklus, dessen Held Durtal, angewidert vom Materialismus seines Zeitalters und von seinem eigenen lasterhaften Leben, sich vom satanisch versuchten Dandy zum büßenden Laienbruder entwickelt.
In Chartres taucht Durtal tief in die Mysterien des Glaubens hinab, die sich ihm, dem überzivilisierten Ästheten, vor allem über die Schönheit der Formen offenbaren: der Liturgie, der harmonischen Architektur, der Wohlgerüche, der atemberaubenden Glasfenster mit ihren »azurblauen Flammen«.
In seinem Roman Unterwerfung, der eine islamische Machtübernahme in einem Frankreich der nahen Zukunft schildert, läßt Michel Houellebecq einen 44jährigen Literaturprofessor, seines Zeichens Experte für Huysmans, einen ähnlich Weg beschreiten wie Durtal. Aus der Sackgasse eines entwurzelten, sinnentleerten Lebens, in dem allenfalls der Sex – vom Autor wohl absichtlich abstoßend beschrieben – ab und zu einen flüchtigen Trost bietet, führt im Roman nur die Konversion zum Islam, den der Autor listig als stabilisierendes Heilmittel für eine kranke und innerlich haltlose Gesellschaft schildert.
Ehe er zu diesem finalen Schritt bereit ist, sucht François in den Resten des Katholizismus nach einem göttlichen Funken: in der Abtei von Ligugé, wohin sich einst Huysmans zurückgezogen hatte, beginnt er sich rasch zu langweilen, und ebenso ergebnislos ist seine Reise zum Wallfahrtsort Rocamadour in den Pyrenäen.
Zu Füßen der »schwarzen« Madonna, eines Typus, den man auch in der Krypta von Chartres findet, fühlt er vor allem eine unendliche Distanz: die »übermenschliche«, »beinahe furchteinflößende« Gestalt der Muttergottes löst seine Individualität geradezu in Nichts auf; er findet keinen Zugang zu dem »vollständig verschwundenen Universum«, das sie und das königlich-unkindliche Jesuskind in ihren Armen bezeugen.
Unmittelbar danach besucht François eine Lesung aus Werken von Péguy. Angesichts des eher zahm wirkenden Publikums fragt er sich jedoch, »was diese jungen, menschenfreundlichen Katholiken von Péguy, von seiner patriotischen und ungestümen Seele« überhaupt noch verstehen.
Ihm selbst bleibt der Zugang zu den Quellen des alten, heiligen Frankreich verschlossen. Der Islam lockt ihn allerdings auch durch eine Reihe materieller Vorteile, die ihm die neuen Machthaber in Aussicht stellen.
In einem Interview mit dem Spiegel (10/2015) äußerte Houellebecq: »Persönlich bin ich überzeugt, daß noch viel Kraft im Katholizismus steckt. Ich glaube, er hat Zukunft, obwohl sich die Entwicklung im Buch anders darstellt.« Überraschend positiv äußerte er sich über junge Katholiken, die er während der Proteste gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe kennengelernt hatte:
… eine neue Generation junger Katholiken, modern, offen, sympathisch, brüderlich, leuchtend, wie ich sie nie gesehen hatte. Ganz anders als die alten Traditionalisten oder die Progressisten, die in Wahrheit verkappte Protestanten sind.
Wenig Chancen gibt der Autor dagegen den geistigen Grundlagen der liberalen Moderne: bald werde sich die Aufklärung selbst erledigt haben, und einer »Rückkehr des Religiösen« den Weg bereiten. Ich möchte behaupten: Die ganze Raffinesse und Tiefe von Unterwerfung, einem Buch, das gnadenlos durch die Kulissen der heute obligatorischen linksliberalen Weltsicht blickt, kann man wohl nur als »rechter« Leser vollauf erfassen.
Thorsten Hinz (Junge Freiheit) und Alexander Pschera (Vatican-Magazin) wiesen zu Recht darauf hin, daß Jean Raspails Das Heerlager der Heiligen als Komplementärstück zu Houellebecq gelesen werden kann, vielleicht sogar muß. Die Ausbreitung des Islams hängt direkt mit der jahrzehntelangen Flutung Europas durch außereuropäische Völker zusammen.
Wer heute Paris besucht, kann mit dem bloßen Auge erkennen, daß Frankreich als »patrie charnelle« demographisch weitgehend am Kippen ist. Das Straßenbild wird stark geprägt von Schwarzfrikanern und Maghrebinern, die in manchen Stadtteilen schon in der Mehrheit sind. Manchmal betritt man in Paris unversehens eine Nebenstraße, die ausschließlich von Schwarzen bevölkert ist, häufig junge, unruhige Männer, die weiße Passanten mit gereizten und feindseligen Mienen anblicken.
Der Anstieg dieser Noch-Minderheiten macht sich bereits selbst in einer Provinzstadt wie Chartres bemerkbar. Es liegt auf der Hand, daß diese Entwicklung auf die Dauer zu einem fundamentalen Bruch mit der noch verbliebenen kulturellen Kontinuität des Landes führen wird.
Da wäre etwa die einfache Tatsache, daß sich künftige afrikanisch-arabische Populationen allein physisch kaum mehr in den Menschen wiedererkennen werden, die auf den Gemälden im Louvre oder auf den Fassaden der Kathedralen dargestellt sind.
Man muß allerdings präzisieren: der Bevölkerungaustausch macht einen Bruch der Kontinuität biologisch manifest, den die »Stammfranzosen« bereits selbst im geistigen Sinn vollzogen haben. Es hat sich erfüllt, wovor der später zum sufistischen Islam konvertierte René Guénon 1927 warnte: daß die größte Gefahr, die dem »Westen« drohe, aus ihm selbst heraus erwachse.
Gleichzeitig steht Frankreich Deutschland kaum mehr nach, was den »Schuldkult«, den nationalen Selbsthaß und die Adoption einer Art Holocaust-Zivilreligion betrifft. Die Wochenzeitung Valeurs actuelles, die Junge Freiheit Frankreichs, brachte Ende Mai ein achtseitiges Dossier über diese Tendenz unter dem Titel: »Genug mit der Reue!«.
Daß die »Erinnerungspolitik«, die insbesondere die Sünden des Kolonialismus immer wieder aufs neue einklagt, einseitig angewandt wird, versteht sich von selbst: die »stammfranzösische«, weiße Jugend wird mit Schuldgefühlen gefüttert, die Kinder der ehemals Kolonisierten mit Ressentiments und Rachegelüsten.
Wie immer steht auch hier der »Antirassismus« für eine Politik, die den Rassenhaß und die Fragmentierung der Gesellschaft ins Irreparable vertieft. Das, was wir als Frankreich kennen, und das im Wandel der Jahrhunderte seine Kontinuität erhalten hat, ist augenscheinlich im physischen wie geistigen Verschwinden begriffen.
Einen Tag vor dem Pfingstwochenende besuchte ich mit einer französischen Bekannten das Grab von François Truffaut auf dem Friedhof von Montmartre, auf dem auch Heinrich Heine begraben liegt. Auch die Filme der Nouvelle Vague, die ich einst über alles geliebt habe, zeigen ein Frankreich, das immer weiter in die Vergangenheit rückt. Nachdem wir zu Ehren Truffauts eine Flasche Beaujolais geleert hatten, sprachen wir über Chartres, das meine Begleiterin zufälligerweise kurz zuvor besucht hatte.
Die Kathedrale beherbergt neben der Eichenholzfigur in der Krypta – die Kopie eines 1793 zerstörten Originals – eine zweite, bislang »schwarze« Madonna aus dem 16. Jahrhundert, die nun seit ihrer Restaurierung im Jahr 2013 wieder eine historisch angeblich korrekte rosa Hautfarbe hat.
Meine eher linksgerichtete Begleiterin echauffierte sich über diese »Verunstaltung« – sie sei so typisch für das heutige Frankreich. Ich entgegnete, daß mir das heutige Frankreich im Gegenteil immer »schwärzer« zu werden scheine und daß die Madonna ungeachtet ihrer Hautfarbe im geistigen Sinne »weiß« sei.
Hier rührte ich an ein Thema, das nach den USA nun auch in Europa wie trockener Zunder in einem Waldboden liegt und Verdrängungskomplexe erzeugt wie die Sexualität im viktorianischen Zeitalter. Denn obwohl das Christentum natürlich einen völkerübergreifenden Anspruch hat, so hat es eben doch dem europäischen Menschen ein ganz bestimmtes, einzigartiges Gesicht zugewandt, in dem er sich wiedererkennen konnte.
Jean-Paul Sartre polemisierte in seinem Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialistischer Bibel Die Verdammten dieser Erde (1961) folgendermaßen gegen das abgehalfterte Abendland, das nichts anderes mehr zur Rechtfertigung seiner Existenz vorzubringen habe als seine Gewissensbisse:
Früher hatte unser Kontinent andere Stützen: den Parthenon, Chartres, die Menschenrechte, das Hakenkreuz. Heute weiß man, was sie wert sind. Und man kann uns nur noch durch das ganz christliche Gefühl von unserer Schuld aus dem Schiffbruch retten. Das ist das Ende: Europa ist an allen Ecken leck.
Heute ist diese »Schuld«, die immerwährend sein soll und auf keine Vergebung hoffen darf, einer der Hauptgründe, warum das Schiff versinkt.
Zweieinhalb Tage im Pilgerzug nach Chartres – das gleicht einem Abtauchen in ein anderes Frankreich, das parallel zu dem von Hollande und Taubira exisitiert. Als wir am Samstagmorgen Paris verließen, passierten wir makabrerweise die mit Blumen gekennzeichnete Stelle, an welcher der Polizist Ahmed Merabet Anfang des Jahres von dschihadistischen Terroristen erschossen wurde.
Nicht nur dies ließen wir hinter uns. Während in Paris noch einige Gesichter mit skeptischen und ablehnenden Falten in der Stirn aus den Fenstern blickten, hellten sich die Mienen außerhalb der Stadt stets freudig bis amüsiert auf, wenn sich die ihrerseits fröhlichen Pilger näherten.
Es ist auch kein Zufall, daß jenes Frankreich, das zu Millionen auf die Straße gegangen ist, um die Institution der Kernfamilie zu verteidigen, »implizit weiß« ist, wie die Amerikaner sagen (farbige Menschen sind hier in einer verschwindenden Minderheit), und gleichzeitig ein historisch längeres Gedächtnis hat.
Die königlichen Lilien und die Herz-Jesu-Symbole auf den Bannern verweisen deutlich und durchaus polemisch auf das vor-republikanische Frankreich vor der großen antichristlichen Wende im Zuge der Revolution von 1789, in deren späterem Verlauf auch die Königsgräber in der Kathedrale von Saint-Denis geschändet wurden – diese Gründungskirche der Gotik liegt heute übrigens in einer vorwiegend von Einwanderern bewohnten, berüchtigten Banlieue mit hohen Kriminalitäts- und Arbeitslosigkeitsraten.
Dieses Milieu eint das stolze Selbstbewußtsein der Opposition gegen den laizistischen Strom der Zeit, der scheinbar allmächtig und unaufhaltsam ist.
Auffallend ist die Jugend der Teilnehmer: geschätzte 80 Prozent waren wohl zwischen 15 und 25 Jahren alt. Häufig stammen diese jungen Pilger aus katholischen Pfadfinderorganisationen und tragen entsprechende Uniformen.
Wenn sich die einzelnen »Chapitres« am Samstagmorgen nach der – natürlich lateinischen – Messe unter Glockenläuten und Gesang mit wehenden, heraldisch prachtvollen Fahnen vor Notre Dame versammeln, dann hat das eine Kraft und ein Pathos, wie man es sich in Deutschland kaum vorstellen kann.
Ich schloß mich der kleinen österreichischen Gruppe von etwa vierzig Teilnehmern an, die sich unter einem rotweißroten und einem gelben Banner mit dem Doppeladler versammelt hatte, wo ich auch prompt auf einige hochgeschätzte Bekannte aus konservativ-katholischen Kreisen traf. Die neben den Franzosen wohl zweitgrößte Gruppe stammte aus Deutschland (etwa 200 bis 300 Leute), des weiteren gab es schweizerische, englische, irische, polnische und sogar US-amerikanische Teilnehmer.
Der Fußmarsch ist notorisch beschwerlich, es werden bis zu 40 Kilometer pro Tag zurückgelegt, wobei das Gepäck auf Lastfahrzeugen eigens zu den Zeltlagern transportiert wird. Diese gleichen den Feldlagern großer Armeen; wenn erst die Beauce mit ihren weiten Ebenen und langen Feldwegen erreicht ist, dann zieht sich die Schlange dieser modernen Kreuzfahrer des Glaubens bis zum Horizont.
Da ich selbst lieber als Partisan als in der regulären Truppe tätig bin und zudem die anderen Chapitres erkunden wollte, seilte ich mich des öfteren von der mobilen österreichischen Heimat ab. In den deutschen Chapitres, die sich vor allem in Stuttgart und Köln gesammelt hatten, begegneten mir sogar einige Leser der Sezession.
Trotz der Massen, die hier in Bewegung gesetzt werden, läuft die Organisation verblüffend reibunglos und diszipliniert ab. Wer nicht mehr weiter kann, wird in Busse verfrachtet, und an den Wegkreuzungen warten die Schutzengel des Malteser-Ordens und werfen den Reisenden Wasserflaschen und Äpfel zu.
Auf der Fahrt wird viel gemeinsam gebetet und gesungen, auch Lieder aus der Jugendbewegung. Zwischendurch halten die leitenden Priester erbauliche Vorträge.
Der Leiter des österreichischen Chapitres war ein zackiger, sportlicher Petrusbruder, dessen Reden in mir allerdings gelegentlich nietzscheanische Affekte hervorriefen, und das nicht nur wegen Sätzen wie »Gott ist ein durch und durch kommunikatives Wesen«. Hier gäbe es einiges zu sagen, aber es sei nur soviel bemerkt, daß ich eine Ahnung davon bekam, daß in der andauernden, nahezu schwelgerischen Rede von Todsünde, Leiden, Verzicht und Martyrium ebensoviel Gift liegen kann wie in dem heute so verbreiteten Kuschelchristentum.
Wir marschierten durch einen sonnendurchfluteten, schattigen Wald, einer wahren Kathedrale aus Licht, deren grün-goldene Spitzbögen sich sublim über unseren Köpfen wölbten. Der Priester, gerade in voller Fahrt seiner Predigt, erblickte ein Autowrack am Wegrand: »So sehen wir aus, wenn wir gesündigt haben!« Ich wollte ihm zurufen: Herrgott nochmal, heb doch die Nase und blick nach oben!
Und natürlich sah ich daneben viele Christen, für die sich auch Nietzsche nicht hätte schämen müssen: kraftvoll, fröhlich, jung, tatsächlich genauso, wie sie auch Houellebecq erlebt hat.
Ich werde nie die letzte Etappe der Wallfahrt und den Einzug in Chartres vergessen. Mit dem Ziel unmittelbar vor Augen fließt den müden Wanderern neue Energie zu. Eine überpersönliche Kraft, die man um sich herum spüren kann wie einen Rückenwind oder einen Sog, der einen schwungvoll mit sich reißt.
Ich überholte die ausländischen Chapitres, um möglichst weit an die Spitze, zu den Franzosen zu gelangen, die nun singend den gewundenen Weg zur Kathedrale hinaufmarschierten, vorbei an einem pompösen Kriegerdenkmal aus dem Ersten Weltkrieg, entlang alter Mauern und romanischer Häuser.
Dann kam der überwältigende Moment, an dem der Strom, der mich trug, um die Ecke bog und die Notre Dame de Chartres uns gebieterisch gegenüberstand, wie ein heller, gewaltiger Gott. Ich habe nie eine vergleichbar herrliche Kirche gesehen, die Köstlichkeit des Anblicks gesteigert durch die Anstrengung, die er gekostet hatte. Während sich der Platz vor der Kathedrale mit den Pilgerheeren füllte, sank ich erschöpft, aber froh vor dem Westportal, dem »Königsportal« nieder.
Vor dem Eingang stand eine Gruppe von Pfadfindern mit Fahnen, die im aufkommenden Wind flatterten. Ein alter, »gallisch« aussehender Herr mit einem weißen, herabhängenden Schnurrbart hockte sich neben mich, und fragte, ob ich auch ein »pèlerin« sei. Er war sechsundachtzig Jahre alt.
Frankreich, sagte er zu mir, sei seit den sechziger Jahren einer schrecklichen Entchristianisierung zum Opfer gefallen. Heute gäbe es nur mehr wenige Katholiken im Land, diese aber seien umso entschlossener – »très fortes!«. Ich antwortete ihm, daß ich das bemerkt hätte und daß ich mich über die vielen jungen Menschen freue und wundere. »Das ist das Frankreich von morgen!« sagte er.
Die nun folgende Messe wurde für diejenigen, die keinen Platz mehr in der Kirche fanden, auf einem Bildschirm übertragen. Der Platz war übervoll mit knieenden und betenden Menschen. Auf den Gehsteigen kauerten die Pfadfinder, manche lagen wie gefallene Soldaten ausgestreckt auf dem Boden.
Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich eine Masse nicht als bedrückend empfand, sondern als würdevoll, geordnet, auf ein Ziel ausgerichtet, beseelt, aber ohne Hysterie. Während die Pilgerscharen abzogen, betrat ich die Kirche und versenkte mich ins Licht der großen Fensterrosen. Ein bewegendes Detail traf mich unvorbereitet: in einer Nische war eine Gedenktafel für Charles Péguy aus dem Jahr 1962 angebracht, darunter Dutzende brennende Kerzen.
Am nächsten Tag betrachtete ich eingehend die Fenster und die berühmten Figuren: der »solare«, triumphale Christus-Pantokrator im Zentrum der westlichen Portalanlage, umgeben von den Symboltieren der Evangelisten; Maria als Himmelskönigin auf dem Thron am linken Westportal; der Christus des Jüngsten Gerichts am Südportal, flankiert von Heiligen und Rittern; das Marienportal an der Nordseite mit der unvergleichlichen Erschaffung Adams; die Propheten, Patriarchen, Könige und Apostel; die Tierkreisbilder und Engelshierarchien; sogar Aristoteles und die Repräsentanten der »artes liberales«.
An Begegnungen wie diese habe ich gedacht, als ich meinem Buch Kann nur ein Gott uns retten? einen Satz aus der Apostelgeschichte voranstellte: »Tu dir kein Leid an, denn wir sind alle noch hier.«
In der Krypta blickte ich in den »keltischen« Brunnen, der aus vorchristlichen Zeiten stammt. Er ist unendlich tief und unendlich alt, wie auch die Fundamente der Kirche, die teilweise bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen. Ich sah die »schwarze Madonna« und ein Reliquiarium, das ein Stück des »Schleiers« der Maria enthalten soll.
Nein, es ging mir nicht wie Houellebecqs François in Rocamadour. Diese Dinge sprachen zu mir, leise, flüsternd, aber bestimmt. Vielleicht war ich lediglich aufgewühlt wie eine Ackerfurche von der Mühsal und der Freude der vorangegangenen Tage; vielleicht hatte mir die Gnade zumindest einen Funken aus dem Feuer des Heiligen Geistes gewährt.