Die Begrenzung des Eigenen

PDF der Druckfassung aus Sezession 56 / Oktober 2013

von Karlheinz Weißmann

Der erste Grenzübertritt, an den ich mich erinnere, war schmerzhaft.

Ich hat­te mit einer Grup­pe von Freun­den eine Abkür­zung zu unse­rem bevor­zug­ten Spiel­platz in einem gro­ßen Schilf­feld genom­men. Dabei waren wir dem Wohn­block bedroh­lich nahe­ge­kom­men, in dem das Pro­gramm zur sozia­len Durch­mi­schung nicht funk­tio­niert hatte.

Obwohl in unse­rer Sied­lung höchs­tens eine pro­ble­ma­ti­sche Fami­lie pro Wohn­block vor­ge­se­hen war, fan­den sich hier gleich zehn oder zwölf kon­zen­triert, und deren Kin­der waren unge­wa­sche­ner als wir, unge­zo­ge­ner und uner­schro­cke­ner in der Wahl ihrer Mit­tel. Also kas­sier­ten wir Prü­gel und muß­ten den Rück­zug antre­ten, bedeckt mit Strie­men und blau­en Fle­cken und dem einen oder ande­ren geschwol­le­nen Auge.

Mir ist noch die Wut im Gedächt­nis, die ich nicht nur über die Nie­der­la­ge emp­fand, son­dern auch dar­über, daß ich eigent­lich geglaubt hat­te, in Sicher­heit zu sein, also noch außer­halb des frem­den Hoheitsgebiets.

Aber das gehört zur Gren­ze im ers­ten Sinn, daß sie kei­nen prä­zi­sen Ver­lauf kennt, daß es sich eher um einen »Saum« han­delt. An Stel­le von Gren­ze sprach man im Deut­schen ursprüng­lich von »Mark«, das heißt einem Gebiet, mehr oder weni­ger scharf kon­tu­riert, häu­fig mit flie­ßen­den Über­gän­gen, immer umkämpft, »blu­tend« – der kon­kre­te Stand war von der Situa­ti­on und das heißt vor allem von den Macht­ver­hält­nis­sen abhängig.

Das Wort Gren­ze hat sich nur all­mäh­lich ein­ge­bür­gert, abge­lei­tet vom Alt­pol­ni­schen gra­ni­ca für Trenn­flä­che oder schon Trenn­li­nie. Damit ist auch geklärt, daß die Ein­deu­tig­keit von Gren­zen mit der Dau­er­haf­tig­keit der Besied­lung, der Ver­dich­tung des staat­li­chen Ter­ri­to­ri­ums und dem Grad der Feind­se­lig­keit zu tun hat.

Der letz­te Grenz­über­tritt, an den ich mich erin­ne­re, war der nach Groß­bri­tan­ni­en von Frank­reich aus. Die vor­her­ge­hen­den, von Deutsch­land in die Nie­der­lan­de, von dort nach Bel­gi­en, dann nach Frank­reich, zäh­len nicht. Denn abge­se­hen von den ver­wais­ten Abfer­ti­gungs­sta­tio­nen und dem Schild mit dem Ster­nen­kranz gibt es im Schen­gen-Raum nichts, was es einen dar­an erin­nert, daß man eine Gren­ze quert. Das ent­spricht der aktu­el­len Begeis­te­rung für alles, was »inter« oder »trans« ist, also grenz­über­schrei­tend, entgrenzend.

Der Unter­schied zum bri­ti­schen Fall ist nicht dra­ma­tisch, aber spür­bar. Beam­te kon­trol­lie­ren Päs­se, über­prü­fen Per­so­nen­da­ten, stel­len even­tu­ell die eine oder ande­re Fra­ge. Sie sind erkenn­bar als Trä­ger staat­li­cher Funk­tio­nen, im Prin­zip könn­ten sie die Gren­ze für den Ein­rei­se­wil­li­gen sper­ren und ihm den Zugang ver­wei­gern. Aber ernst machen sie selten.

Groß­bri­tan­ni­en ist zwar eine Insel und inso­fern durch das Meer abge­grenzt, aber alles Pochen auf Sou­ve­rä­ni­tät und damit das Recht zur Grenz­kon­trol­le blei­ben merk­wür­dig wir­kungs­los. Im Som­mer wur­de das offen­sicht­lich, als die Oppo­si­ti­on im Unter­haus wis­sen woll­te, ob bekannt sei, wie vie­le Per­so­nen sich ille­gal im Ver­ei­nig­ten König­reich auf­hiel­ten: Zögernd gab das Kabi­nett zu, daß es sich um rund eine Mil­li­on Men­schen hand­le, und auch, daß an den Außen­gren­zen ledig­lich fünf­tau­send ech­te Über­prü­fun­gen pro Jahr stattfänden.

Man darf dar­in einen dra­ma­ti­schen Ver­fall jener Art von Grenz­vor­stel­lung sehen, die nicht nur die Unver­letz­lich­keit einer Gren­ze beton­te, son­dern auch deren Ver­tei­di­gung tod­ernst nahm. Grenz­kon­flik­te haben noch im 20. Jahr­hun­dert die Mehr­zahl der Krie­ge aus­ge­löst, zuletzt nach dem Zer­fall der Sowjet­uni­on und Jugoslawiens.

Die Befes­ti­gung von Sied­lungs­gren­zen geht min­des­tens bis in die Jung­stein­zeit zurück, eini­ge der größ­ten Bau­wer­ke der Mensch­heit – die chi­ne­si­sche Mau­er, der Limes, der Hadri­ans­wall, die per­si­schen Boll­wer­ke aus sas­sa­ni­di­scher Zeit – dien­ten neben der mili­tä­ri­schen Ver­tei­di­gung der Mar­kie­rung eines Hoheits­ge­bie­tes. Der Auf­wand an Mit­teln und Arbeits­kräf­ten, der dabei getrie­ben wur­de, war außer­ge­wöhn­lich hoch. Er unter­lag im Lauf der Geschich­te aller­dings deut­li­chen Schwan­kun­gen. Das hat­te einer­seits mit der Qua­li­tät mög­li­cher Bedro­hun­gen zu tun, ande­rer­seits mit der tech­ni­schen Entwicklung.

Das Gemein­te ist dar­an abzu­le­sen, daß in Euro­pa seit Beginn der Neu­zeit staat­li­che Außen­gren­zen immer mehr an Bedeu­tung gewan­nen, wäh­rend die Funk­ti­on der Bin­nen­gren­zen dra­ma­tisch zurück­ging, Zoll­schran­ken auf Stra­ßen, Flüs­sen und Brü­cken fie­len, die Mau­ern und Wäl­le der Städ­te und Bur­gen geschleift wur­den. Die­ser Pro­zeß hielt bis in die Zeit vor dem Ers­ten Welt­krieg an, als die ers­te Debat­te dar­über ein­setz­te, die staat­li­chen Gren­zen über­haupt abzu­bau­en, um den Waren­ver­kehr zu erleichtern.

Nach 1919 gewan­nen Gren­zen aber wie­der an Bedeu­tung, was mit den stüm­per­haf­ten Grenz­zie­hun­gen der Pari­ser Vor­ort­ver­trä­ge zusam­men­hing und zahl­rei­che Staa­ten (Frank­reich, Bel­gi­en, Ita­li­en, die Tsche­cho­slo­wa­kei, aber auch die Schweiz) gaben enor­me Sum­men aus, um fes­tungs­ar­ti­ge Siche­run­gen zu schaf­fen, von denen die Magi­not­li­nie nur die bekann­tes­te ist.

Abge­se­hen von der mili­tä­ri­schen Unbrauch­bar­keit, die sich im Zwei­ten Welt­krieg zeig­te, setz­te nach 1945 ein Pro­zeß ein, der dem am Beginn der Neu­zeit ähnel­te, inso­fern als in West­eu­ro­pa die Gren­zen zwi­schen den Mit­glieds­staa­ten der EWG/EG/EU dra­ma­tisch an Bedeu­tung ver­lo­ren, wäh­rend umge­kehrt die Demar­ka­ti­ons­li­nie zum sowje­tisch beherrsch­ten Teil des Kon­ti­nents fast undurch­dring­bar wur­de. Dort bedien­te man sich bewähr­ter Metho­den, ergänzt um Maß­nah­men, die nicht der Abwehr des Fein­des dien­ten, son­dern dazu, die Ein­woh­ner festzuhalten.

Der Zusam­men­bruch die­ser Block-Gren­ze und des dahin­ter ste­hen­den Sys­tems, der »Fall der Mau­er«, wie man bezeich­nen­der­wei­se sagt, schien vor­über­ge­hend die Uto­pie einer gren­zen­lo­sen Welt denk­bar zu machen, eine Idee, beflü­gelt von den Mög­lich­kei­ten des Net­zes und der Inter­na­tio­na­li­sie­rung des Personen‑, Güter‑, Nach­rich­ten- und Finanz­ver­kehrs. Aber die »Wie­der­kehr des Raums« (Karl Schlö­gel) ließ nicht auf sich warten.

Es gab von Anfang an gegen­läu­fi­ge Ten­den­zen, die nicht erst nach dem Schock des 11. Sep­tem­ber 2001 und an der Ver­schär­fung der Ein­rei­se­be­stim­mun­gen in die USA sicht­bar wur­den, son­dern frü­her und ein­drucks­vol­ler an der gigan­ti­schen, hoch­tech­ni­sier­ten Grenz­an­la­ge, die die Ver­ei­nig­ten Staa­ten für ihre Süd­li­nie errich­te­ten, um die »mexi­ka­ni­sche Ach­se« unkon­trol­lier­ter Wan­de­rung zu zerstören.

Par­al­lel zur Errich­tung die­ser »neu­en Mau­er« Anfang der neun­zi­ger Jah­ren hat Aus­tra­li­en gegen­über der asia­ti­schen Küs­te, Sau­di-Ara­bi­en gegen­über dem Jemen, Indi­en gegen­über Paki­stan und Ban­gla­desh, Süd­afri­ka gegen­über Zim­bab­we die Grenz­si­che­rung dras­tisch verschärft.

In allen die­sen Fäl­len geht es um die Gren­ze als Abwehr. Die dahin­ter ste­hen­de Vor­stel­lung, von der Not­wen­dig­keit, das Eige­ne gegen die Frem­den durch eine Gren­ze zu schüt­zen, ist sicher uralt, älter jeden­falls als die Seß­haf­tig­keit, wor­auf noch die erbit­ter­ten Strei­tig­kei­ten um Jagd­re­vie­re oder die Plät­ze, an denen Früch­te oder Strand­gut gesam­melt wer­den durf­ten, hinweisen.

Wenn Gren­zen durch Nicht­seß­haf­te in Fra­ge gestellt wer­den, dann jeden­falls nicht, weil die Noma­den ohne Gren­zen leben. Nur »wan­dern« die­se mit, wie etwa der Raum des Zel­tes oder der Lade, in der man die Göt­ter­bil­der auf­be­wahrt, oder bezie­hen sich auf weni­ge, nur zeit­wei­se bean­spruch­te oder besuch­te Fix­punk­te (Was­ser­lö­cher, Wei­den, Sam­mel­plät­ze, Ahnen­grä­ber). Und selbst unter den wan­dern­den Völ­kern gibt es offen­bar die Sehn­sucht nach einem »Hei­li­gen« und mit­hin fest­um­ris­se­nen Land, im Dies­seits oder Jen­seits, mit­hin den Wunsch nach dem »Para­dies«.

Régis Debray hat in einer Abhand­lung zum »Lob der Gren­zen« dar­auf hin­ge­wie­sen, daß »Para­dies« im Aves­ta einen »umgrenz­ten Gar­ten« bezeich­ne. Wahr­schein­lich waren damit zuerst jene von einem Wall umge­be­nen Parks gemeint, die assy­ri­sche Köni­ge errich­ten lie­ßen und die als Abbild eines wohl­ge­ord­ne­ten Rei­ches gal­ten, im Gegen­satz zu dem chao­ti­schen Bereich außer­halb. Die Über­tra­gung in den bibli­schen Kon­text ist nahe­lie­gend, wo der »Got­tes­gar­ten« in einer wüs­ten­ar­ti­gen Land­schaft vor­ge­stellt wird, viel­leicht eine von einer Mau­er umge­be­ne Oase inmit­ten der Unwirtlichkeit.

Der Zusam­men­hang von Gren­ze und Reli­gi­on ist kein Zufall, so wenig wie die Bezeich­nung des scharf umris­se­nen Staats­ge­biets als »sanc­tuai­re« – »Sank­tua­ri­um«, also hei­li­ger Bereich – im Fran­zö­si­schen, die Ver­bin­dung zwi­schen pro­fa­ner und ritu­el­ler Grenz­zie­hung, etwa in der Erzäh­lung von Romu­lus und Remus: Daß Remus die von sei­nem Bru­der als pro­vi­so­ri­sche Stadt­gren­ze gezo­ge­ne Acker­fur­che über­sprang, war nicht nur ein Angriff, son­dern auch ein Fre­vel, den Remus mit dem Tode bezahlte.

Das Set­zen eines Grenz­steins galt den Römern als kul­ti­scher Akt, man opfer­te dem Ter­mi­nus, und das ille­ga­le Ent­fer­nen oder Ver­set­zen eines Grenz­steins wur­de ent­spre­chend hart bestraft. Die­ser Gedan­ke war nicht nur römisch, son­dern fand sich bis in die euro­päi­sche Neu­zeit hin­ein ver­brei­tet und ist im Grun­de nur erklär­bar durch die Vor­stel­lung der mani­fes­ten Hei­lig­keit der Grenze.

Der Zusam­men­hang von Hei­lig­keit und Gren­ze ist auch des­halb zu beto­nen, weil es sich offen­bar um eine mensch­li­che Uni­ver­sa­le han­delt. Nahe­lie­gend ist die Erklä­rung unter Ver­weis auf die allen ande­ren Gren­zen vor­ge­hen­de Gren­ze zwi­schen »Sakral« und »Pro­fan«; der »Tem­pel« ist schon vom Begriff her »das Abge­grenz­te«. Er bil­det seit alters das Zen­trum der Hei­mat, also des defi­nier­ten Raums, in dem die Vor­fah­ren leb­ten, wo der eige­ne Herd ist.

Der Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Gerar­dus van der Lee­uw hat zur Erläu­te­rung auf die ele­men­ta­re Kraft des »Heim­wehs« hin­ge­wie­sen, das vor allem bei den ein­fa­chen Men­schen bis in die Zeit der Indus­tria­li­sie­rung spür­bar blieb, unter den Bau­ern­söh­nen als Rekru­ten oder den Mäd­chen vom Lan­de, die in der Stadt einen Dienst annah­men: »Ver­ban­nung gilt noch den Römern der Blü­te­zeit als die schlimms­te Stra­fe. Bei den Israe­li­ten ist das frem­de Land das Land, wo Jah­we nicht ist (Psalm 107). Und die Athe­ner sagen, als The­mis­to­kles sie auf die Schif­fe gehen las­sen will, daß, wer die Tem­pel der Göt­ter und die Grä­ber der Väter ver­läßt, nicht leben kann.«

Der hei­mat­li­che als abge­grenz­ter Bereich bil­det ein Kraft­zen­trum, das die Men­schen dau­ernd anzieht, was um so deut­li­cher her­vor­tritt, je ursprüng­li­cher die Lebens­ver­hält­nis­se sind. Auf Cele­bes, einer Insel zwi­schen Bor­neo und Neu­gui­nea, hat­ten die Bewoh­ner eines Dor­fes in der Mit­te ihres Ortes etli­che hei­li­ge Stei­ne auf­ge­rich­tet und dar­in bei der Kopf­jagd erbeu­te­te Men­schen­schä­del sowie eini­ge Stöck­chen begra­ben. Die Stöck­chen soll­ten die Vogel­stim­men dar­stel­len, die bei der Grün­dung des Dor­fes güns­ti­ge Vor­zei­chen gege­ben hat­ten. Das gan­ze hieß »Das Heil und die Kraft des Dor­fes« oder »die Rufer«, weil sie den­je­ni­gen, der in der Frem­de war, nach Hau­se rie­fen, indem sie ihm das Heim­weh schickten.

Die Vor­stel­lung aus­ge­zeich­ne­ter Orte, die man mit Stei­nen mar­kiert, ist außer­or­dent­lich ver­brei­tet. Gebräuch­lich waren ein­zel­ne Stei­ne oder Stein­hau­fen, roh oder behau­en, klei­ner oder als Groß­stei­ne mit erstaun­li­chen Abmes­sun­gen. Die Wahl des Mate­ri­als lag nahe wegen sei­ner Robust­heit, nach mensch­li­chem Maß: Unvergänglichkeit.

Es gibt vor­ge­schicht­li­che Kul­tu­ren, die wir über­haupt nur wegen ihrer Stein­set­zun­gen ken­nen, wie die der Mega­li­thi­ker an den euro­päi­schen Küs­ten, und es gibt Indi­zi­en für den flie­ßen­den Über­gang zwi­schen sol­chen Stein­set­zun­gen und den Anfän­gen monu­men­ta­ler Archi­tek­tur, zum Bei­spiel am Göbe­kli Tepe mit sei­ner uralten Tem­pel­an­la­ge. In den Zusam­men­hang gehört auch die Zäh­le­big­keit der Idee des Mal­steins. Am Ende der Erzäh­lung von Jakob im Buch Gene­sis steht die Geschich­te der Begeg­nung des Erz­va­ters mit Gott an dem Ort, der dann Bethel – also »Haus Got­tes« – genannt wird, und es heißt da: »Jakob aber rich­te­te ein stei­ner­nes Mal auf an der Stät­te, da er mit ihm gere­det hat­te, und goß Trank­op­fer dar­auf und begoß es mit Öl.«

Zu die­ser Stel­le in 1. Mose 35.14 exis­tiert eine Dou­blet­te in Kapi­tel 28.18f., die aller­dings den Vor­gang schil­dert ohne Hin­weis auf das Trank­op­fer. Wahr­schein­lich ist die Pas­sa­ge jün­ger und sucht den Ein­druck zu ver­mei­den, als ob es sich bei dem erwähn­ten Mal­stein um ein Göt­ter­bild han­del­te, das von Jakob durch Liba­ti­on und Ölung geweiht wur­de. Das hat­te sicher mit dem Pro­zeß zu tun, in dem Isra­el den Abstand zwi­schen sei­nem und dem Glau­ben der Hei­den ver­grö­ßer­te und die Spu­ren der gemein­re­li­giö­sen Vor­stel­lun­gen, an denen es ursprüng­lich Anteil hat­te, til­gen woll­ten, deren Mani­fes­ta­tio­nen sich aber über­all fan­den und fin­den: die uralten Ste­len bei Tarent, der phal­lus­för­mi­ge Kudur­rus im alten Baby­lon, die von Fett glän­zen­den hei­li­gen Stei­ne des anti­ken Grie­chen­land, die Kaa­ba des Islam oder die klei­nen Stein­py­ra­mi­den, die die Ein­hei­mi­schen auf den Gip­feln der Dolo­mi­ten errich­te­ten, um Scha­den­zau­ber abzuwehren.

Der Zusam­men­hang von Stein­set­zung, Sakra­li­tät und Begren­zung erklärt sich wahr­schein­lich dar­aus, daß ein »ent­wi­ckel­tes sym­bo­li­sches Ori­en­tie­rungs­sche­ma ein­fach eine Lebens­not­wen­dig­keit für Men­schen« (Mary Dou­glas) war, nach­dem an die Stel­le der tie­ri­schen Instinkt­si­cher­heit Bewußt­sein trat und damit der Zwang, eine unüber­sicht­li­che Welt durch­zu­ord­nen und eine Mög­lich­keit zu schaf­fen, um sich im Raum zurechtzufinden.

Dabei konn­te die Natur Anhalts­punk­te bie­ten, der Son­nen­stand wie der Ster­nen­him­mel, Ber­ge oder Bäu­me, Höhen­zü­ge oder Hai­ne, Flüs­se oder Seen, aber offen­bar erkann­ten unse­re Vor­fah­ren früh, daß die­se Mar­kie­run­gen nicht aus­reich­ten und began­nen sie durch künst­li­che zu ergän­zen oder zu erset­zen. Inso­fern ist der Impuls zur Begren­zung tief im Men­schen ver­an­kert. Er ent­spricht zuerst prak­ti­scher, wenn man so will: bio­lo­gi­scher, Not­wen­dig­keit, die die Ter­ri­to­ri­a­li­tät mit bringt. Aber er hat sich schnell davon gelöst und ist zu einem ganz mensch­li­chen Wesens­zug geworden.

Aus­ge­rech­net der Geo­po­li­ti­ker Karl Haus­ho­fer, nach­hal­tig geprägt durch eine fak­ten­sat­te »Grenz­em­pi­rie«, hat die­se Inter­pre­ta­ti­on gestützt. Nach Haus­ho­fer spie­len »natür­li­che Gren­zen« im grö­ße­ren Gan­zen der Gren­zen nur eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. »Natür­lich« sind Gren­zen dem Men­schen, inso­fern es zu sei­ner Eigen­art gehört, sie zu set­zen. Grenz­set­zung bedingt aber einen Akt der Refle­xi­on, und, um einen Neben­ge­dan­ken Haus­ho­fers auf­zu­grei­fen, die­se Refle­xi­on beginnt mit der Wahr­neh­mung unse­rer Leiblichkeit.

Die Fest­stel­lung, daß unser Kör­per nicht ein­fach unser Kör­per ist, son­dern wahr­nehm­bar wird, indem wir sei­ne Begren­zung wahr­neh­men, hat eine gan­ze Rei­he dra­ma­ti­scher Kon­se­quen­zen: inso­fern als wir alles Mög­li­che tun, um sei­ne Gestalt der der ande­ren – die zu unse­rem »Wir« gehö­ren – anzu­äh­neln, also ihn zu ent­gren­zen, wäh­rend wir gleich­zei­tig alles Mög­li­che tun, um unse­re Gestalt zu indi­vi­dua­li­sie­ren, mit­tels Bema­lung, Nar­bung, Täto­wie­rung, Ver­stüm­me­lung, Fri­sur, Bart­tracht, Beklei­dung, also ihn abzugrenzen.

Die­ses Wider­spiel ist ohne Zwei­fel uralt und kenn­zeich­net alle mensch­li­chen Gesell­schafts­for­men, die eben nicht nur auf sicht­ba­re, räum­li­che, son­dern mehr noch auf unsicht­ba­re, wenn man so will: geis­ti­ge, Gren­zen ange­wie­sen sind: zwi­schen Oben und Unten, zwi­schen Mann und Frau, Alt und Jung, Befugt und Unbe­fugt, an der Zeit, nicht an der Zeit. Und die­ses Wider­spiel ver­weist auch dar­auf, daß die Nei­gung zur Ent­gren­zung und die Vor­stel­lung, daß die per se gut, dem Men­schen bekömm­lich, also human, sei, sich aus den zahl­lo­sen anthro­po­lo­gi­schen Irr­tü­mern der Gegen­wart speist.

Das bedeu­tet wei­ter, daß eine ehr­li­che Bilanz der Ent­gren­zungs­pro­zes­se nicht nur die poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Kos­ten in den Blick neh­men müß­te, son­dern auch die Klä­rung der wirt­schaft­li­chen Vor- und Nach­tei­le von Gren­zen­lo­sig­keit sowie die Ent­frem­dungs­fol­gen, die Ent­gren­zung in allen Lebens­be­rei­chen, von der Erzie­hung bis zur Kon­fron­ta­ti­on mit dem Feind, nach sich zieht.

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