Danach biete das Genre vorwiegend anspruchslose, konservativ-nostalgische Stereotypenliteratur eines reflexionslosen Landlobs oder transportiert sozialharmonische Klischees von einst. Es zeige provinzielle Beschränkung, statt weltinteressierter Offenheit und eine politisch gefährliche Rückständigkeit – trage es doch die Erblast der »Heimatkunst« um 1900, bestimmt von gegenmoderner, antinaturalistischer, zuweilen auch antifranzösischer oder antisemitischer Programmatik, oder der Blut- und Boden-Dichtung im Dritten Reich. Beide seien durch fortschrittsfeindliche Tendenzen charakterisiert – ein »Kulturpessimismus«, der nach Fritz Stern »politische Gefahr« birgt.
Ideologiekritisch so gewappnet, gelang es einflußreichen Zeitgeist-Germanisten, das Heimat-Genre ästhetisch quasi zu beerdigen. Qualität zeige sich fast nur noch dort, wo seit den 1970ern eine sogenannte »Neue Heimatliteratur« bzw. »Anti-Heimatliteratur« entstand. Sie kennzeichnet thematisch die Dominanz dumpfer Vorurteile, patriarchalischer Strukturen, unterdrückter, sich brutal entladender Sexualität, Anti-Intellektualismus und Bigotterie.
Geschildert wird eine Art Kriminalitätstopographie und Atmosphäre, der man (gemäß Norbert Mecklenburg) am besten per »detektivischer Heimatkunde« gerecht wird. Besitzt doch den Segen unserer Literaturpäpste meist nur, wer mal wieder gängige Vorstellungen über die hinterwäldlerisch-faschistoide Provinz bedient.
Als Replik nur soviel: Ja, es gibt nicht wenige lokalpatriotische Trivialprodukte, wonach nur hier die Berge und Seen so schön, die Wiesen so grün, die Würste so schmackhaft oder die Mädels so hübsch seien. Doch es verbietet sich, einen kompletten Literaturtyp für seine kommerziell-folkloristischen Entartungen haften zu lassen. Der Liebesroman etwa, den es ja auch in unzähligen kitschigen Ausprägungen, Heftchenformaten und Filmserien gibt, ist deswegen nicht plötzlich als Ganzes desavouiert. Und ein filmisches Kunstwerk wie Kubricks Odyssee im Weltraum sollte man nicht mit jeder unambitionierten Science-Fiction-Folge in einen Topf werfen.
Auch bedarf die angeblich heftige NS-Infektion von Heimatliteratur erheblicher Relativierung. Denn wo selbstgenügsame Abschottung und Suche nach einer begrenzten heilen Welt gediehen, wuchsen kaum Legitimationen für den total politisierten Staat. Auch behindert ein veralteter Forschungsstand die Einsicht, daß sich innerste Zirkel der NS-Kulturpolitik bereits früh von der Agrarnostalgie abwandten zugunsten der Großstadt und industrieller Landschaften.
Und daß andererseits selbst ein Hardliner der Heimatkunst wie Adolf Bartels niemals einen gänzlich antistädtischen Kurs vertrat. Auch Berlin könne, beispielsweise von Wilhelm Raabe gezeichnet, seinen Genius loci haben, schrieb er. Denn was man vor allem verabscheute, war die Gesichtslosigkeit großer Menschenansammlungen, die kein rechtes Zusammengehörigkeits- und Vertrautheitsgefühl mehr zuließ. Und was noch wichtiger sein dürfte: Heimat als emotionaler Raum ist nur manchmal identisch mit der Nation. Ebenso typisch für Heimatliteratur sind Differenzgefühle, das Empfinden einer besonderen schicksalhaften Lage, vor allem in mehrsprachigen Grenzgebieten.
Eine weitere Generalisierung suggeriert, Heimatliteratur favorisiere sozialharmonische Klischees von gestern, was höchstens für Autoren minderen Rangs gilt. Ein Knut Hamsun etwa kannte seine Bauern und verzuckerte ihre Schilderung gewiß nicht. Andererseits wirkt sich der Kontrast von damals und heute, von Überliefertem und sogenanntem Fortschritt in manchen Fällen so drastisch aus, daß sich zumindest für eine Generation der Eindruck von Abstieg geradezu aufdrängt. Man denke etwa an soziale Verwerfungen durch neue Wirtschaftspraktiken (exemplarisch: Wilhelm von Polenz’ Der Büttnerbauer) oder Vertriebenen-Literatur.
Sodann hat jeder Fortschritt etwas Janusköpfiges. Und wenn »Kulturpessimismus politische Gefahr« bedingt, vertritt als Kontrast Zivilisationsoptimismus gewiß kein harmloses Projekt. Die Moderne hat ihren Preis, den nicht wenige Verlierer zahlen. Und was jene Kultursnobs betrifft, deren aggressive Weltläufigkeit sich allzu forsch gegenüber dem Zuhause artikuliert, denke man an den gereiften Fontane (»Heimat«) oder Gottfried Benn:
Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?Meinen Sie aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?
Entscheidend für die Debatte waren ohnehin stets außerwissenschaftliche Motive. Und so trifft, wie bereits dargelegt, die Kritik am Thema »Heimat« ja nicht diese schlechthin, sondern nur die mit Sympathie gezeichnete.
Eine pathogene, tendenziell faschistoide Provinz läuft immer noch auf den Buchmärkten Nachkriegsdeutschlands, wird sogar preisgekrönt und international nachgefragt. Das galt bereits von Günter Grass’ Danzig-Trilogie und Martin Sperrs Jagdszenen in Niederbayern über Bölls Ende einer Dienstfahrt und Siegfried Lenz’ Heimatmuseum bis zu Thomas Bernhards oder Elfriede Jelineks Österreich-Tiraden. Das sogenannte Literaturwunder dieses Landes gründet zu einem Gutteil ja auf jener herbeisubventionierten Anti-Heimatliteratur, deren Quintessenz darin beruht, daß die Bevölkerung schon immer für politisch Böses anfällig gewesen sei.
Und der Trend geht weiter, von Anna Wimschneiders Herbstmilch über Andrea Maria Schenkels Tannöd bis Andreas Maiers Onkel J. Heimatkunde. Zwar behandeln so manche dieser sogenannten Heimatromane oder ‑krimis, die bezeichnenderweise schnellstens verfilmt wurden, erschütternd gestaltete Schicksale in ländlichem Dunkel. Aber die Häufigkeit solcher Veröffentlichungen und manche gewinnträchtige Spekulation auf Kritiker-Beifall beeinträchtigen die Freude an dergleichen Konjunktur.
Die angeblich weltweite, in Wirklichkeit nur Deutschland-fixierte Perspektive unserer Germanistik ist übrigens insofern selbst provinziell, als sie ignoriert, wie sehr literarischer Heimatbezug ein internationales Phänomen ist.
Niemand außerhalb Deutschlands käme auf die Idee, die liebevollen Provence-Charaktere bedeutender französischer Regionalisten wie Marcel Pagnol oder Alphonse Daudet als politisch gefährlich zu brandmarken oder gar Dany Boons Film Willkommen bei den Sch’tis. Guareschis Don Camillo und Peppone war ein internationaler Hit. Und selbst John Waynes Western wurde noch nicht als Einstiegsdroge zu einem US-Totalitarismus entdeckt. Von García Márquez’ skurrilen Provinzszenen und ‑figuren ganz zu schweigen.
Wir stehen also vor dem Paradox, daß sich Kritiker, was sie hierzulande verwerfen, per Übersetzungen andernorts zurückholen. Denn ausländische Carmina Burana werden durchaus geschätzt. An so manchen Intellektuellen-Autos kleben Schilder, die von Bretonen‑, Irland- oder Kelten-Philie zeugen. Kein deutsches Heimatlied, aber Country und Johnny Cash, kein deutscher Heimatfilm, aber viele der Provinzverächter waren durch Bonanza und dergleichen sozialisiert worden.
Bezeichnenderweise kümmert man sich um die regionale Identität von Papua-Neuguinea, möchte Kubas morbiden Tourismus-Charme erhalten, und Neuseeland ist auf Buchmessen der Renner. Der dort geborene Musiker Hayden Chisholm allerdings wunderte sich bei Aufnahmen zu seinem Film mit dem bezeichnenden Titel Sound of Heimat:
daß viele Deutsche tatsächlich ein Problem mit ihrer [Volks-]Musik haben, ja, daß sie manchen sogar peinlich ist. Das ist etwas besonderes, denn ich kenne kein anderes Land, wo das auch so ist. Und ich habe mich gefragt, wie kommt das? Wieso bekommen dieselben Deutschen, die feuchte Augen haben, wenn ein alter Indio zum hundertsten Mal ›El cóndor pasa‹ in seine Panflöte bläst, gleich Pickel, wenn man sie auf die Melodien ihrer Heimat anspricht (JF 19.7.13).
Spätestens hier sollten wir erkannt haben, daß es eigentlich niemals um Ästhetik ging, sondern ständig um Politik. Und die Unschuldsvermutung der Aggression gegenüber dem Komplex Heimat verfliegt, wenn man sieht, in welchem Rahmen, um nicht zu sagen: Masterplan, das Ganze geschieht.
Da wird ein Heino unter Faschismus-Verdacht gestellt, weil er haselnußbraune Mädels feiert oder den Enzian blau blühen läßt. Da geht es kollektiv dem deutschen Schlager an den Kragen, nicht weil er allzu oft läppische Texte produziert, was weltweit die Regel ist, sondern den Meinungsführern die ganze deutschsprachige Richtung nicht paßt, während Tom Jones ungerügt sein »I wanna go home« singen und das »green, green grass of home« feiern darf. (Die wenigen sozusagen »genehmigten« Erfolge von Deutsch-Rock oder ‑Rap, die zumindest von ihrer Botschaft her konvenieren, bestätigen eher die Regel.)
Da wird Ferien auf dem Immenhof als unstatthafter Beleg einer verdrängenden deutschen Innerlichkeit kritisiert oder die für den Echo-Preis nominierte Rockband »Frei.Wild« wegen angeblichen Rechtsradikalismus ausgeladen, weil sie Sprache, Brauchtum und Glaube als Heimatwerte verteidigt. In allem spiegelt sich eine beispiellose Arroganz von Erziehern und Umerziehern, deren Weltläufigkeitsrausch weitgehend darauf hinausläuft, den deutschen Status einer Halbkolonie kulturell zu unterfüttern und sich am Austilgen eines literarischen Erbes zu beteiligen.
Und das hat seit 1945 Tradition. Architektonisch brachten uns »Lehrmeister« wie Le Corbusier und ein revitalisiertes Bauhaus auf Vordermann als Kontrast zur vermeintlich politisch verhängnisvollen Butzenscheiben-Romantik. Literarisch setzte man zunehmend auf engagierte Textmuster der Weimarer Republik und verwies als erstes die Vertreter der Inneren Emigration in die zweite Reihe, denen man zusätzlich mangelnde NS-Resistenz vorhielt. Mittlerweile sind dadurch selbst bedeutende Dichter wie Wiechert, Bergengruen, Britting oder Lange fast nurmehr Spezialisten bekannt.
Der flächendeckende Erfolg dieser Kulturstrategie ist nicht zuletzt deshalb gegeben, weil die politische Marschrichtung engstens mit der ökonomischen verschränkt ist. Denn mit der Kapitulation erschien im Schlepptau der US-Army, wie immer bei amerikanischen Kreuzzügen, sofort auch so manches, was sich ökonomisch und kulturell rechnet: Coca Cola, Hollywood und vieles mehr.
Jetzt also zeigten uns Fury und die Ponderosa-Ranch, Hemingway und Marlboro, wie naheliegend es sei, an der entsprechend arrangierten großen Welt teilzuhaben. Eine glückliche Koinzidenz von machtpolitischer Bewußtseinsbildung und kulturellen Tantiemen. Den Rest besorgten Mainstream-Feuilletonisten in ihrem ideologiekritischen Furor sowie angepaßte Autoren, Verleger und Redakteure in ihrer spekulativen Ausrichtung auf das, was internationale Vermarktung angeblich fordert.
Halten wir dagegen fest: Heimatliteratur gilt in aller Welt als pure Selbstverständlichkeit, als ganz großes Schriftsteller-Thema. Wichtigster Anlaß hierzu ist ein Gefährdungsgefühl, eine Reaktion auf aktuell empfundene Defizite. Heimat ähnelt der Luft, die man bekanntlich erst spürt, wenn sie einem entzogen wird. Der Vorwurf gegenüber Heimatliteratur, sie sei konservativ und nostalgisch, soll gewiß nicht korrigiert werden. Im Gegenteil. Charakterisiert er doch vielmehr ihre wesentliche Leistung. Und in diesem Sinne sei das Genre wie folgt definiert:
Heimatliteratur beschäftigt sich vorwiegend mit Eigenheiten, Problemen, Sprache, Mentalität und gemeinsam erfahrener Geschichte eines als besonders und vertraut empfundenen Raums. Das geschieht in solidarischer Weise, verrät Zuneigung und trägt zur Identitätsstiftung bei. Heimatliteratur reagiert auf (drohende) Verluste von Heimat aufgrund von einschneidenden Veränderungen. Diese haben vier Hauptursachen:
- Ortswechsel, was einen wertenden Vergleich zu früher nahelegt;
- technische, industrielle, soziale, ökonomische oder politische Modernisierungsprozesse, insofern sie abrupt und nachhaltig auf eine Region oder ein Land einwirken und nicht zuletzt deren emotionale Sicherheit gefährden;
- schmerzliche Eingriffe von ortsfernen Zentralinstanzen bzw. deren Leitideen und Lebensstil;
- nationale und ethnische Spannungsfelder, z. B. infolge von Kriegen, Irredentismus, Gebietsabtretungen, Vertreibung, Zu- und Abwanderung etc.
Erläutern wir es an Texten. Zunächst zu schmerzlichen Ortswechseln:
Der naturbegeisterte Förstersohn Ernst Wiechert, der ins städtische Gymnasium verfrachtet und von Heimweh geplagt wurde, schrieb als Ausdruck einer lebenslangen Sehnsucht Erzählhymnen auf die ostpreußischen Wälder. Ähnliche Gefühle beherrschten Ludwig Thoma, wobei dessen episches Bayern-Biotop (Lausbubengeschichten oder Jozef Filsers Briefwexel) allerdings humoristisch-satirischen Charakter besaß.
Heimat- als Erinnerungsliteratur verfaßte eine ganze Generation baltischer Schriftsteller, die aus ihren menschenleeren Landsitzen in Deutschlands »grauer Städte Mauern« verschlagen wurde, von Bergengruen über Gertrud von den Brincken bis Siegfried von Vegesack.
Den fatalen Zusammenprall einer Region mit der Moderne veranschaulichen Gerhart Hauptmanns Die Weber. Die Revolution der zu Niedrigstlöhnen gepreßten Weber mochte unklug und vergeblich sein, wo die wirtschaftliche Entwicklung unaufhaltsam war. Opfer sind sie allemal wie der Landstrich, der sie Jahrhunderte lang ernährt hatte. Zum Mitleid des Autors gesellte sich das Bewußtsein, daß mit dem Ruin dieses Berufsstands zugleich ein Stück Heimat auf der Strecke blieb, und der schlesische Dialekt wirkt nicht zuletzt als Sympathiebekundung. Von ähnlicher Empathie mit ökonomisch Gebeutelten zeugt Der Granatapfelbaum des anatolischen Klassikers Yesar Kemals.
Anders gelagert ist der Konflikt in Theodor Storms Der Schimmelreiter, einer epischen Referenz an ein Deichbau-Genie. Gleichwohl verschärft just dieser Hauke Haien in seinem »gründerzeitlichen« Ungestüm den Konflikt, weil er eine noch im Früheren befangene Bevölkerung nicht wirklich überzeugt, sondern bloß kommandiert. In resignativer Toleranz wiederum steht Fontanes Stechlin im Kampf gegen die neuen Ideen seiner Umwelt.
Ähnliches gilt für Das einfache Leben, zu dem sich Wiecherts Kapitän Orla bekennt. Anton Betzners Basalt schildert modellhaft bis hin zu gegenwärtigen Umstrukturierungen in Entwicklungsländern, was einer bäuerlichen Gemeinschaft widerfährt, wenn mit der Eröffnung eines Steinbruchs nun plötzlich die industrielle Moderne Einzug hält. Ähnliche Konstellationen einer modernisierten Heimat behandeln Friedrich Bischoff (Der Wassermann) oder Stefan Andres (Die unsichtbare Mauer).
Ein klassisches Betätigungsfeld für Heimatliteratur eröffnete übrigens die »Wende« angesichts einschneidender politischer Veränderungen und ökonomischer Verwerfungen in den neuen Bundesländern. Zwar verdient nicht jede allzu vergeßliche poetische Ostalgie Respekt. Andererseits heißt es, wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen, was vielen durch mentale Deklassierung und Entheimatung seelisch zugemutet wurde und sich einer schlichten Kostenrechnung entzieht.
Die hohe Kunst, hier nicht das individuelle Kind mit dem politischen Bade auszuschütten, attestiere ich den Filmemachern von Good bye Lenin. Im übrigen wäre nichts bedauerlicher, als wenn im Zuge standardisierter Wirkungserwartungen in den neuen Bundesländern nur mehr Texte erschienen, die ebensogut in Stuttgart oder Hamburg hätten verfaßt sein könnten.
Schon früher sprach etwa André Weckmann von »Technofaschismus«, als er seine elsässische Heimat zum bloßen Spielball Pariser Administratoren oder zur kommerzgebeutelten Tourismus-Oase verkümmert sah. Er wie Jean Egen (Die Linden von Lautenbach) monierten zudem sprachenpolitische Engherzigkeiten, die den Verhältnissen vor Ort nicht gerecht würden. Ohnehin erstand schon seit gut einem Jahrhundert an der deutschen West- oder Ostgrenze eine kontroverse wie differenzierende Selbstfindungsliteratur zwischen den Mächten. Exemplarisch seien Namen genannt wie René Schickele, Otto Flake, Marie Hart oder August Scholtis.
Zur national-ethnischen Gemengelage: Heimat als nationales Sehnsuchtsprojekt bot Hoffmann von Fallerslebens »Lied der Deutschen«. Auch aus der »Burgfrieden«-Stimmung bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs vernimmt man solche patriotischen Töne, exemparisch in Karl Brögers Bekenntnis. Vertreibung, Umsiedlung, Exil sind weitere Anlässe, sich ein Stück Heimat wenigstens literarisch zurückzuholen. Man denke an Vegesacks Baltische Tragödie, an Wiecherts Missa sine nomine, an Gedichte Max Hermann-Neißes in englischer Fremde (»Ewige Heimat«, »Heimatlos«), an Joseph Roths KuK-Abgesang Kapuzinergruft, an Carl Zuckmayers grandiose Beschwörung des Rheinländers in Des Teufels General, geschrieben mit heißem Herzen in Vermont. Der DDR entflohen, erinnerten sich Walter Kempowski und Uwe Johnson lebenslang an Stätten ihrer Jugend.
Ja, selbst eine scheinbar unpolitische lokale Kindheitsträumerei wie Die Stadt von Theodor Storm, den Fontane liebevoll-ironisch der »Husumerei« zieh, verdankt ihre Existenz seiner Verbannung:
Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.
Ein anderes Schreib-Motiv bietet Immigration. Wenn sich Regionen, Stadtteile, Milieus durch Zuwanderung unter der Hand so verändern, daß frühere Selbstverständlichkeiten nicht mehr gelten, Vertrautes fremd wird oder als rechtfertigungsbedürftig erscheint, treibt es manche zur Feder.
Als monströs-realistische Vision hat etwa Jean Raspail seine Kassandra-Gefühle vom Verlust seines geliebten traditionellen Frankreichs in Worte gefaßt. Der Bestseller von 1973 trägt den Titel Das Heerlager der Heiligen und thematisiert (laut Klappentext der deutschen Ausgabe 1985) »die drohende Überwältigung Europas durch die explodierenden Massenmenschen der Dritten Welt«.
Gehen wir von solcher, den Begriff »Heimat« ernst nehmender Definition aus, wird unübersehbar, daß Literaturgeschichte ohne Heimatdichter gar nicht sinnvoll geschrieben werden kann. Und machen wir uns weiter klar: Wo heute bereitwillig (regionale) Besonderheiten preisgegeben werden, folgt in naher Zukunft überhaupt Deutsch als Sprache und Literatur.
Denn wer über Jahrzehnte hinweg das Unverwechselbare preisgibt, darf sich nicht wundern, wenn am Ende auch das Übrige an Interesse und Bedeutung verliert. Das Signalwort McDonald’s ist schließlich auch eine kulturpolitische Drohung.