Über die Größe dieser Persönlichkeit müßte der Ertrag seiner Forschungen Auskunft geben. Nun besteht der Auftrag eines wissenschaftlichen Werks nicht darin, Verehrung hervorzurufen, sondern der fruchtbaren Aneignung zu dienen: Mindestens Erkenntnis, wenn möglich sogar Sinn soll es stiften, indem es die Wirklichkeit erschließt.
Auf Max Weber trifft diese Absicht in ganz besonderem Maße zu. Nicht ohne Grund betrauerten die deutschen Nationalökonomen seinen Tod als »den Heimgang eines ihrer Größten«. Weber gilt als Vater der modernen Soziologie, obwohl er von Hause aus Jurist war. Sein Werk ist so vielseitig und umfangreich, daß die Weber-Exegese seit je interdisziplinär stattfindet.
Der vor anderthalb Jahren verstorbene Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis hat jahrzehntelang die Suche nach Max Webers Fragestellung betrieben und dabei etwas zutage gefördert, das eigentlich eine gute Voraussetzung für das Verschwinden eines Wissenschaftlers aus dem Kanon seines Faches wäre: Webers Werk eigne sich nicht zur Schulbildung, weil er »weder eine Methode noch eine leicht zu reproduzierende Fragestellung« anzubieten habe. Und so seien die Anknüpfungen an Weber immer dadurch gekennzeichnet, daß ihm einfach ein Thema als Hauptthema unterstellt werde, an dem sich die rezipierende Wissenschaftlergeneration abarbeite. Ein Beispiel sei etwa das Thema der »gesellschaftlichen Schichtung«, das in den 60er Jahren in Mode kam.
Hennis urteilt zuletzt sogar noch schärfer: Unbildung und Spezialistentum machten es der gegenwärtigen Soziologie unmöglich, ihren Gründungsvater zu verstehen, zumal Weber wirklich ganz und gar in seiner Zeit lebte und in ihr agierte – Weber hatte stets deutlich gemacht, daß sein wissenschaftliches Programm von seinen politischen Vorstellungen nicht zu trennen sei.
Ihm war klar, daß aus dieser Verknüpfung der subjektive Anteil seiner (und ehrlicherweise jeder) Wissenschaftlichkeit rührte, und Hennis hat diese Einsicht in einem Zitat Max Webers gebündelt formuliert gefunden und seinem Buch zu Max Webers Fragestellung (1987) als Motto vorangestellt: »Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt«. Daß dies nicht subjektivistisch ausgelebt werden dürfe, hat Weber in großem Verantwortungsbewußtsein und mit illusionslosem Blick für die Gegebenheiten und Unausweichlichkeiten seiner Zeit vorgeführt.
Diese Herangehensweise Webers läßt sich an seiner Haltung zur »Demokratie« veranschaulichen – ein Thema, das laut Hennis für Weber »nicht zentral« war. Akut wurde es in der Endphase des Ersten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit.
Die »Demokratie« war aber für Weber kein Problem im heutigen Sinn als der einzig legitimen Grundlage politischer Willensbildung. »Demokratie« war ihm kein Heilsbegriff, sondern Mittel zum Zweck. Sein Freiburger Kollege der Jahre 1894–97, der Nationalökonom Gerhard von Schulze-Gaevernitz, schreibt in der Erinnerungsgabe für Max Weber 1923: »Max Weber war mehr als ein Wissenschaftler; ein politischer Führer ersten Ranges, wies er seit Jahren den Weg, welcher allein ein Ausweg hätte werden können aus der Katastrophe: Demokratisierung im Innern als die Grundlage einer Machtpolitik nach außen, welche er bejahte«.
Insofern war die »Demokratie« tatsächlich kein »Problem« für Weber: Das Zeitalter der Demokratisierung ließ keinen anderen politischen Weg zu. Doch damit war bei Weber kein Fortschritt intendiert: die Welt dreht sich noch immer um Macht und Einfluß. Und wenn Alfred Weber seinen Bruder Max als »Romantiker« bezeichnete, so konnte er damit allenfalls eine gewisse Wehmut über die Zerstörung der alten Ordnung meinen; der Schlüssel zum Verständnis Webers liegt jedoch in dessen illusionslosem und zugleich melancholischem Blick.
Webers bekannte Begriffsbildungen dienten dazu, »sich von der Befangenheit in der Wertewelt einer vergangenen Welt zu lösen, ohne dem Fortschrittsglauben seiner Zeit zu verfallen« (Hennis).
Damit ist ein Grundproblem Webers benannt, das heute wohl auf Unverständnis treffen muß. Denn die Anerkenntnis dieses Problems setzt immerhin voraus, daß man es als Spätgeborener nicht besser zu wissen meint als Weber, sondern die geistige Situation dieser Zeit ernst nimmt. Jürgen Kaube hat das in seiner Biographie als »Leben zwischen den Epochen« zu umschreiben versucht, ohne jedoch der Versuchung widerstehen zu können, das 21. Jahrhundert als Maßstab heranzuziehen.
Bei all dem Wissen, das er über Webers Zeit zusammengetragen hat, kommt doch immer der leicht erschrockene Blick Kaubes zur Geltung, wenn sich Weber einmal nicht so verhält oder äußert (beispielsweise beim Kriegsausbruch 1914, den Weber für eine Erlösung hielt), wie sich das ein Liberaler von heute so vorstellt. Doch für Weber war Deutschland der letzte Maßstab, der innere Kompaß zwischen den Epochen und auch zwischen den Werten. Karl Jaspers überlieferte die Eigenart Webers, daß dieser seine nicht selten kritischen Vorträge über die politischen Zustände in Deutschland stets mit folgenden Worten schloß: »Ich danke Gott, daß ich als Deutscher geboren wurde«.
Für dieses Bewußtsein ist Webers Herkunft von entscheidender Bedeutung. Er stammte aus einer Familie des wohlhabenden Bürgertums, die in Textilindustrie und Beamtentum verzweigt war. Weber wuchs in einer Welt auf, die vom Fortschritt profitierte und sich ein dementsprechendes Selbstbewußtsein leisten konnte.
Nach der Schule studierte Weber zunächst Jura in Heidelberg, leistete ab 1883 seinen Dienst als Einjährig-Freiwilliger in Straßburg ab, um dann sein Studium in Berlin fortzusetzen. Hier hörte er auch Nationalökonomie, Geschichte, Philosophie und Theologie. 1889 wurde er mit einer juristischen Arbeit promoviert. Bereits 1888 war er dem »Verein für Socialpolitik« beigetreten, der den schrankenlosen Liberalismus bekämpfte und staatliche Interventionen zur Verbesserung der Lage der unteren Schichten befürwortete (und damit großen Einfluß auf Bismarcks Sozialgesetzgebung hatte).
1891 erfolgte die Habilitation, und obwohl Weber die Zulassung als Anwalt besaß und mit Tätigkeiten in Wirtschaft und Politik liebäugelte, stieg er in den Wettlauf um eine Professur ein.
Auf dem Weg dorthin waren die bereits geknüpften Verbindungen zum Verein für Socialpolitik nützlich. In dessen Auftrag untersuchte Weber die Lage der ostelbischen Landarbeiter und begründete mit dieser 1893 veröffentlichten Studie seinen wissenschaftlichen Ruhm, sodaß er in Berlin zunächst eine außerordentliche Professur für Handelsrecht bekam, bevor er ein Jahr später ordentlicher Professor für Staatswissenschaften in Freiburg wurde.
In der dortigen Antrittsvorlesung Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik entfaltete Weber bereits sein wissenschaftliches Programm und machte deutlich, wie eng dieses mit seinen politischen Anschauungen verbunden war. Ziel war die Stärkung Deutschlands. Weber war daher seit 1893 Mitglied im Alldeutschen Verband, trat 1899 aber wieder aus, weil er der Meinung war, daß dort nicht die Interessen des ganzen Volkes vertreten würden. Als Friedrich Naumann 1896 den »Nationalsozialen Verein« gründete, trat Weber diesem bei.
Sein Ruhm mehrte sich und Weber folgte einem Ruf auf einen wichtigen Lehrstuhl in Heidelberg, wo er gemeinsam mit seiner Frau Marianne, mit der er seit 1893 verheiratet war, bald einen gesellschaftlichen Mittelpunkt bildete. Allerdings mußte er die Lehrtätigkeit wegen gesundheitlicher Probleme, die sich als ein ganzer Strauß psychischer Leiden offenbaren, bereits 1899 wieder aufgeben (und 1903 seinen Dienst quittieren). Nach Sanatoriumsaufenthalten folgten wichtige Reisen, vor allem 1904 in die Vereinigten Staaten.
Weber führte dann das Leben eines Privatgelehrten (er konnte dabei auf das ererbte Vermögen seiner Frau zurückgreifen), publizierte zahlreiche Aufsätze und begründete 1909 gemeinsam mit weiteren Mistreitern die Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sich der Reserveoffizier freiwillig und diente bis 1915 als Disziplinaroffizier der Lazarettkommission in Heidelberg.
Anschließend engagierte sich Weber als politischer Publizist und trat für realistische Kriegsziele und die Demokratisierung ein. Als Mitglied der von Friedrich Naumann gegründeten Deutschen Demokratischen Partei bemühte sich Weber nach 1918 erfolglos um ein Mandat in der Nationalversammlung. Er war allerdings an den Verhandlungen um die neue Verfassung beteiligt und verfaßte eine Note zu den Vorwürfen des Versailler Vertrags.
Da das Vermögen seiner Frau durch die Inflation wertlos zu werden drohte, nahm Weber 1919 einen Ruf nach München auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie an. Hier begegnete er unter anderem Oswald Spengler und Thomas Mann und hielt seine berühmten Vorträge zu den Berufen der Wissenschaft (1917) und der Politik (1919). Carl Schmitt nahm daran und an einem Dozentenseminar im Winter 1919/20 teil und charakterisierte Weber später als »Revanchist, das Radikalste von allem Revanchismus gegenüber Versailles, was ich je erlebt habe – wenigstens an starken Redensarten …«. Am 14. Juni 1920 starb Max Weber an einer Lungenentzündung in München.
Da Weber keine Schule ausgebildet und auch keine einschlägigen Monographien verfaßt hat (er veröffentliche vor allem Aufsätze), ist sein Nachruhm nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß es seine Frau unternahm, die von ihm geplanten Werke aus dem Nachlaß und den veröffentlichten Texten zu kompilieren.
Das Geheimnis von Webers Erfolg, der im Gegensatz zu anderen Soziologen seiner Generation auch nach 1945 nicht an Bedeutung verlor, liegt aber auch in seinen idealtypischen Begriffsbildungen, die sich auf eine seiner Hauptthesen vom unausweichlichen Rationalisierungsprozeß zurückführen lassen.
In der Vorbemerkung zur Religionssoziologie findet sich die Grundfrage Webers: Warum hat sich nur im Okzident eine bestimmte Kultur herausgebildet und nicht an anderer Stelle auf der Welt? Diese Kultur sah er geprägt durch die experimentellen Wissenschaften, die mathematisch begründeten Kunsterzeugnisse, die Verwaltung mit den Fachbeamten als Eckpfeiler des modernen Staates, der rational begründeten Verfassung sowie der kapitalistischen Wirtschaft. Die kapitalistischen Interessen sah er nicht als Ursache, sondern als Folge der Kulturentwicklung an.
Das erklärt seine berühmte These von der protestantischen Arbeitsethik, die kurz gesagt lautet, daß durch den Protestantismus die bislang in den Klöstern gefangene christliche Askese mitten ins Leben trat und so die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee und Facharbeit ermöglichte.
Die Sorge um die äußeren Güter, die ja eigentlich leicht wiegen soll, wurde zum »stahlharten Gehäuse«, das alle Macht über den Menschen hat. Das Schicksal der Rationalisierung und damit des Gehäuses ist laut Weber unausweichlich. Es könne nur durch eine Wiedergeburt »alter Ideen« oder durch die »mechanisierte Versteinerung« aufgehoben werden.
Taucht die Rede vom Gehäuse im Schlußteil von Protestantismus und kapitalistischer Geist (1905) erstmals auf, so wird auf sie in der Herrschaftssoziologie, speziell beim Nachdenken über die »unentrinnbare« Bürokratie, ausführlicher eingegangen. Deshalb hält Weber auch alle Hoffnungen, die sich an eine Ausschaltung des Privatkapitalismus knüpfen, für naiv.
Die Folge wäre nicht das Zerbrechen der »stählenden Gehäuse der modernen gewerblichen Arbeit«, sondern die totale Bürokratisierung (wie es im realexistierenden Sozialismus zu beobachten war). Die Fabrik und die Bürokratie seien die »Gehäuse der Hörigkeit«, in die sich die Menschen fügten, weil es ihnen um Versorgung und Verwaltung gehe, die ihren Wohlstand sicherten.
Es stellt sich die Frage, wie unter diesen Prämissen Politik möglich ist, wie diese Macht beschränkt werden könnte und wie die individuelle Bewegungsfreiheit zu retten wäre. Daß Weber diese Frage umgetrieben hat, liegt auf der Hand, wenn es ihm in seinem Werk, nach Hennis, vor allen Dingen um eine Logik des Urteils ging. Das steht keineswegs im Gegensatz zu der von Weber geforderten Werturteilsfreiheit der Wissenschaft, die ja vor allem darin besteht, daß man sich Rechenschaft über seine letzten Ideale gibt und so persönliche Werturteile von logischen wissenschaftlichen Urteilen scheidet.
In der erwähnten Antrittsvorlesung in Freiburg heißt es bereits, daß der Wertmaßstab für eine deutsche Volkswirtschaftspolitik nur ein deutscher sein könne, weil es einen Kampf um die Erhaltung der nationalen Art gebe, in dem man bestehen müsse. Das ist auch der Grund, warum Weber für die Demokratisierung eintrat: Er wollte an der Nation politische Erziehungsarbeit leisten, um sie zur Herrschaft zu ermächtigen.
Da er dieses Motiv in seiner Rede vom Beruf zur Politik 1919 wieder aufnahm, dürfte das ein zentrales Motiv seines politischen Denkens gewesen sein. Das Augenmaß des Politikers sei das Resultat der Urteilskraft, die in der Demokratie prinzipiell für jeden gefordert werden müsse. (Für das Verständnis dieser These ist das Kapitel »Minissima Moralia« in dem Buch von Wolfgang Hellmich hilfreich.)
Das klingt nach durchgehender Demokratisierung, die nach 1945 gern mit der Liberalisierung in einen Topf geworfen wurde, nicht zuletzt um Weber als liberalen Denker über die Schwelle zu retten. Dazu wurde nicht selten ein Gegensatz zu Carl Schmitts Freund-Feind-Denken konstruiert. Doch auch bei Weber heißt es an vielen Stellen: Politik ist Kampf, und nichts anderes!
Auch Weber ist am Ernstfall orientiert und keineswegs ein Liberaler. Sein Kampf für Demokratie und Parlamentarismus hat andere Gründe, denn im Grunde waren ihm die Staatsformen gleichgültig, solange sie den Erhalt der Gemeinschaft sicherstellten. Weber ging es um die prägenden Elemente, die eine Staatsform ausfüllen und formen. Konkret spielen bei Webers Eintreten für die Demokratie seine Vorbehalte gegen Wilhelm II., den er für überfordert hielt, und seine Abneigung gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, in dem er einen Verrat am Frontkämpfer sah, eine Rolle.
Der entscheidende Punkt war für ihn jedoch die Überzeugung, daß nur charismatische Führergestalten die totale Bürokratisierung verhindern könnten, weil nur sie in der Lage seien, die Prozesse zu kontrollieren. Deshalb trat Weber für eine cäsaristische Führerdemokratie ein, in welcher der Führer plebiszitär legitimiert wäre und mit diesem Rückhalt regieren könnte.
Das Parlament soll diesen wiederum kontrollieren. Es geht Weber also nicht um demokratische Ideale, sondern um eine möglichst erfolgversprechende Form der Kontrolle. Das setzt Ungleichheit, das Prinzip der kleinen Zahl und persönliche Verantwortung voraus.
Daß Weber ernsthaft an die politische Lehrbarkeit der Massen geglaubt hat, ist unwahrscheinlich. Die politische Bildung dient bei ihm vor allem als Ausleseprozeß, der garantiert, daß nur fähige Naturen in die Nähe der Macht kommen.
Wer sich hier an das russische Modell von Demokratie unter Putin erinnert fühlt, liegt sicherlich nicht ganz falsch. Daß man Putin sowohl als »lupenreinen Demokraten« (Gerhard Schröder) als auch als »lupenreinen Faschisten« (Jan Fleischhauer) bezeichnen kann, ohne sich lächerlich zu machen, macht deutlich, daß Demokratie zunächst gar nichts bedeutet, weil dieser nackte Begriff etwas rein Äußerliches meint.
Wer durch die Schule Webers gegangen ist, wird sein Urteil weniger an der Form der demokratischen Legitimation einer Persönlichkeit orientieren, als an dem, was sie für das Land leistet, dem sie verantwortlich ist. Bei der »Erhaltung und Emporzüchtung der eigenen Art« (Weber) dürfte Putin derzeit die Nase vorn haben. Wenn man Weber folgt, ist dies das einzige Kriterium, das zählt.