Eine Welt ohne Mythos ist daher eine kulturlose Welt; in ihr herrschen die Titanen, ein materialistisches Geschlecht, das das Werden und Wachsen nicht kennt. Titanisch ist der Logos, das Richtige, während der Mythos das Wahre verkörpert. Und so ebnet die Französische Revolution, die als Wendepunkt angesehen werden kann, dem Titanischen endgültig den Weg.
Der aus dem Logos hervorgehende Intellekt bestimmt fortan jegliches Geschehen, während das Schöpferische, das auf dem Mythos basiert, zu schwinden beginnt. Exemplarisch wird diese Entwicklung in Adelbert von Chamissos Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte dargelegt. Der Held verkauft darin seinen Schatten und irrt letztlich, genauso wie der moderne Mensch, rastlos auf der Erde umher.
Der kulturelle Zerfall, der nach der Französischen Revolution einsetzt, öffnet der Technik Tür und Tor, während alles Gewachsene und damit auch der Mensch selber ihr Maß verlieren. In dieser Zeit, in der die Dinge allenthalben auf den Kopf gestellt werden, beginnt sich eine politische Form zu etablieren, die letztlich zur heiligen Kuh stilisiert wird: die Demokratie.
Die Schweiz, wie sie sich heute darstellt, geht auf das Jahr 1848 zurück. Aus einem lockeren Staatenbund wurde damals ein Bundesstaat. Die entsprechende Verfassung war stark von jener der Vereinigten Staaten und vom Gedankengut der Französischen Revolution beeinflußt.
Die demokratische Gesinnung der Eidgenossen reicht jedoch weit zurück; sie findet ihren überlieferten Ursprung im späten 13. Jahrhundert in einem Bundesbrief, in dem ein Verteidigungsabkommen zwischen den drei Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden festgehalten ist. Wichtiger jedoch als der Brief ist der Mythos, der sich um das dokumentierte Unabhängigkeitsstreben rankt.
Wilhelm Tell heißt der Held, der sich gegen die Obrigkeit auflehnt, jedoch nicht um eine Ideologie durchzusetzen, sondern um sich von den ausländischen Vögten zu befreien. Bekannt geworden und ins Bewußtsein der Bevölkerung getreten ist die Legende jedoch erst durch Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell aus dem Jahr 1804.
Und noch heute basiert das schweizerische Zusammengehörigkeitsgefühl zu einem guten Teil auf diesem Mythos, an den jeweils am 1. August – dem Nationalfeiertag der Schweiz – mit Höhenfeuern und Ansprachen in den Gemeinden erinnert wird.
Eng mit diesem Mythos verbunden sind auch die Strukturierung und die politische Kultur der Schweiz. Im Westfälischen Frieden von 1648 erlangten die Schweizer Kantone die völkerrechtliche Souveränität, und bereits nach der Niederlage in der Schlacht von Marignano im Jahr 1515 beschloß die Eidgenossenschaft, sich künftig aus Konflikten herauszuhalten, und war somit de facto neutral.
Die Schweiz ist zwar ein Bundesstaat, und sie wird von außen auch so wahrgenommen. Im Grunde ist sie jedoch ein Staatenbund geblieben, dessen verbindende Kräfte einer gemeinsamen Idee entspringen.
So gewährt der ausgeprägte Föderalismus den Gemeinden und Kantonen eine weitreichende Autonomie, die eine der Voraussetzungen für die direkte Demokratie ist. Und auch der Umstand, daß Bern de facto, aber nicht de jure die Hauptstadt der Schweiz ist, stellt einen Hinweis auf deren konföderale Struktur dar.
Grundpfeiler der direkten Demokratie in der Schweiz sind die Volksinitiative, das obligatorische und fakultative Referendum sowie eine parlamentarische Struktur, die, etwa durch Landsgemeinden oder Gemeindeversammlungen, das Volk direkt an den politischen Entscheidungen teilhaben läßt.
Roger Köppel, Chefredakteur und Verleger des Wochenmagazins Die Weltwoche, brachte diesen Umstand jüngst auf den Punkt, indem er sagte: »Das Volk ist der Chef.« Auch wenn diese Aussage eher einem Schlagwort gleichkommt, muß doch festgehalten werden, daß durch die direkte Demokratie das Volk zu diversen Sachfragen Stellung nehmen kann, und gelegentlich entscheidet es dabei anders, als es Bundesrat und Parlament empfohlen haben.
Der Schweizer gilt als höflich und zurückhaltend; er liebt die Unabhängigkeit, er ist nicht obrigkeitsgläubig, und er scheut die Arbeit nicht. Dies kam insbesondere bei der Volksabstimmung im Jahr 1976 über die Einführung der 40-Stunden-Woche zum Ausdruck. Das Begehren wurde mit überwältigender Mehrheit abgelehnt, und so arbeiten die Schweizer noch heute im Durchschnitt 42,5 Stunden pro Woche oder mehr.
Auch die 1:12-Initiative, über die 2013 abgestimmt wurde – sie verlangte, daß niemand in einem Jahr weniger verdienen sollte als der bestbezahlte Manager im gleichen Unternehmen in einem Monat – lehnte man klar ab.
Zu den Volksabstimmungen, bei denen anders entschieden wurde, als es die Regierung empfahl, gehört jene aus dem Jahr 1992, bei der die Schweiz über den Beitritt zum EWR, also zum Europäischen Wirtschaftsraum, zu befinden hatte.
Eine Annahme hätte der Schweiz die Türen zur Europäischen Union geöffnet, ein damals logisch erscheinender Schritt, hatte doch der Bundesrat bereits Beitrittsverhandlungen mit der EU aufgenommen. Doch es kam – und dies zur Überraschung und ebenso zum Ärger vieler – anders: Das Schweizer Volk lehnte den Beitritt mit 50,3 Prozent Neinstimmen ab.
Hohe Wogen warf auch die Minarettabstimmung im Jahr 2009. Die Initiative verlangte ein Verbot zur Errichtung von Minaretten. Praktisch alle Parteien, Verbände, Institutionen, sämtliche politischen Gremien mit Ausnahme der Schweizerischen Volkspartei und einer Splitterpartei waren gegen das Volksbegehren, und noch am Abstimmungssonntag sprach ein Meinungsforschungsexperte im Fernsehen von einer zu erwartenden deutlichen Ablehnung.
Aber es kam anders: Eine Mehrheit der Kantone und 57,5 Prozent der Stimmberechtigten stimmten der Initiative zu, wodurch der Bau von Minaretten in der Schweiz nun verboten ist.
Jüngstes Verdikt ist die Zustimmung zu der von der Schweizerischen Volkspartei lancierten Zuwanderungsinitiative. Am 9. Februar 2014 votierte das Schweizer Stimmvolk, wiederum entgegen aller Prognosen, für eine Beschränkung der Zuwanderung. Das von linker Seite als »Abschottungsinitiative« bezeichnete Begehren verlangte eine Kontingentierung der Zuwanderungsbewilligungen angesichts eines maßlos gewordenen Bevölkerungswachstums.
Befürworter der Initiative wurden vor und besonders nach der Abstimmung oft übel beschimpft und als fremdenfeindlich abgestempelt. Die Fakten jedoch sprachen für sich: Jährlich strömen 100 000 Menschen in die Schweiz (umgerechnet auf Deutschland wären dies etwa eine Million Zuwanderer).
Dazu kommt, daß es in der Schweiz räumlich gesehen eng ist. Das Mittelland, in dem die meisten Menschen angesiedelt sind, ist ein einziges Agglomerationsgebiet. Jede Sekunde wird ein Quadratmeter Land verbaut, die Wohnungsmieten und Landpreise steigen, der Lohndruck nimmt zu, gewisse Straßen sind permanent verstopft, die Züge voll. 24 Prozent Ausländer leben momentan in der Schweiz.
Und so sprachen sich denn 50,3 Prozent der Stimmberechtigten für die Zuwanderungsbeschränkung aus.
Daß das Ausland, das die direkte Demokratie bestenfalls theoretisch kennt, manche Volksentscheidungen nicht nachvollziehen kann und bisweilen auch die Meinung vertritt, die Schweizer Regierung könne und müsse sich gegebenenfalls darüber hinwegsetzen, ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar.
Zudem ist es für Außenstehende oft schwierig, sich in die schweizerische Befindlichkeit einzufühlen. Und dann sind da Begriffe, die man einfach zuwenig kennt, wie etwa die Volksmotion, die Petition oder eben das fakultative oder das obligatorische Referendum. Die Reaktionen aus den umliegenden EU-Staaten auf den Zuwanderungsentscheid des Schweizer Stimmvolks waren entsprechend harsch und oft mit Drohungen verbunden.
Selbst der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck kritisierte bei seinem kürzlich der Schweiz abgestatteten Staatsbesuch den Volksentscheid. Die direkte Demokratie berge Gefahren, wenn über hochkomplexe Themen abgestimmt werde, meinte er. Im Grunde ist diese Aussage zwar richtig, sie aber gerade dann zu äußern, wenn ein gefällter Entscheid den eigenen Vorstellungen zuwiderläuft, ist nicht sehr staatsmännisch.
Neben den Gefahren hat das direktdemokratische System aber einen entscheidenden Vorteil: Das Volk kann in anonymen Abstimmungen eine Meinung kundtun, die im Alltag oft gar nicht mehr ausgesprochen werden darf, und es kann dadurch die Politik korrigieren.
Wer öffentlich die Zuwanderung begrenzen wollte oder Minarette als nicht zur Schweiz gehörig bezeichnete, galt bisweilen als Nestbeschmutzer oder als rechtspopulistisch. Nun weiß er die Mehrheit hinter sich.
Eine wirkliche Gefahr für die Demokratie, insbesondere für die direkte Demokratie, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, ist hingegen die Vermassung oder Verzifferung der Bevölkerung und damit verbunden die Loslösung von jenem Mythos, der den Willen zur Eigenständigkeit und zur Freiheit symbolisiert.
Eine Demokratie steht und fällt mit der Identität, die das entsprechende Volk besitzt. Identität wird zu einem guten Teil vom Mythos genährt. In einer entzauberten Welt hat der Mythos jedoch keinen Platz mehr. Was ihn verdrängend ersetzt, ist die technisch-naturwissenschaftliche Denkhaltung, die das Leben zwangsläufig neutralisiert.
Davon betroffen ist im besonderen der moderne Mensch. Dieser Mensch, der in einem unvorstellbaren Maß gleichgeschaltet und nivelliert wird, hat bestenfalls noch eine Meinung, aber kaum mehr ein Urteilsvermögen. Genau das wäre aber notwendig, um Entscheidungen zu treffen und eigenständige Wege zu finden und zu gehen.
Wie weit sich die Eidgenossenschaft von ihrem eigenen Mythos bereits entfernt hat, läßt sich an den allgemeinen Auflösungstendenzen, von denen die Schweiz genauso wie alle anderen europäischen Staaten betroffen ist, und ebenso in der schleichenden Übernahme von EU-Recht ablesen.
Zwar geht es der Schweiz materiell besser als den meisten anderen Ländern, aber die geistige Landesverteidigung, die die Nation lange vor Ungemach bewahrt hat, bröckelt. Die Neue Weltordnung, wie sie Manfred Kleine-Hartlage treffend beschrieben hat, und die als die endgültige Machtergreifung der Titanen gedeutet werden kann, macht auch vor der Schweiz nicht halt.
Gerade diese Neue Weltordnung, die man vielleicht auch als Dritten Weltkrieg bezeichnen könnte, braucht, um sich verwirklichen zu können, den identitätslosen, entwurzelten Menschen. Und dieser Mensch wird sein Unheil letztlich selber wählen, einerlei, ob er in einer repräsentativ- oder direktdemokratischen Gesellschaft lebt.