Das Unwörterbuch (Buchstaben A und B)

PDF der Druckfassung aus Sezession 60 / Juni 2014

von Manfred Kleine-Hartlage

Der Publizist und erfolgreiche Buchautor Manfred Kleine-Hartlage arbeitet seit einiger Zeit an einem Lexikon der Unwörter. Der Arbeitstitel könnte auch lauten: »Der Jargon der Demokratie von A bis Z« oder »Herrschaftsbegriffe für Demokraten«. Sezession druckt an dieser Stelle die um einige Begriffe gekürzten ersten beiden Buchstaben ab – bei deren Lektüre wuchs in der Redaktion der Hunger nach mehr. Kleine-Hartlages Projekt ist »alternativlos«, und weil wir die »Ängste der Menschen ernst nehmen«, basteln wir an einem »breiten Bündnis«, das die »Aufarbeitung« des Manuskripts vorantreiben und zu einer »Bereicherung« für alle »mündigen Bürger« machen wird. Nächstens mehr.

Ängs­te der Men­schen ernst nehmen

Die Lis­te der mal mehr, mal weni­ger ver­rück­ten tech­no­kra­ti­schen Groß­pro­jek­te, die von deut­schen Poli­ti­kern für ⇒alter­na­tiv­los gehal­ten wer­den, ist lang und betrifft alle nur erdenk­li­chen Berei­che: Sie reicht von Stutt­gart 21 bis zum Euro, von der Daten­schnüf­fe­lei bis zur Mas­sen­ein­wan­de­rung. Wann immer ein sol­ches Pro­jekt auf die öffent­li­che Kri­tik sei­tens derer stößt, die sei­ne Fol­gen aus­zu­ba­den haben, fin­det sich zuver­läs­sig ein Poli­ti­ker, der ver­si­chert, man müs­se oder wer­de »die Ängs­te der Men­schen ernst nehmen«.

Indem er von ihren »Ängs­ten« spricht, sagt er zugleich, daß er sich nicht mit ihren War­nun­gen, Inter­es­sen und Argu­men­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen geden­ke, deren Nicht­exis­tenz oder Gegen­stands­lo­sig­keit er somit en pas­sant als Selbst­ver­ständ­lich­keit unter­stellt. Bevor noch irgend­ei­ne Debat­te geführt wer­den kann, hat er bereits als deren Prä­mis­se fest­ge­zurrt, daß er selbst recht hat und die Bür­ger nicht.

Da ist es fol­ge­rich­tig, daß er die­se Bür­ger nicht »Bür­ger« nennt, son­dern »Men­schen«, ihnen also kei­nen poli­ti­schen, son­dern bloß einen bio­lo­gi­schen Sta­tus zuer­kennt. Und fol­ge­rich­tig ist auch, daß er ihnen nicht zuge­ste­hen kann, »Furcht« oder »Sor­ge« zu emp­fin­den, weil Furcht und Sor­ge sich nach land­läu­fi­gem Ver­ständ­nis auf etwas Kon­kre­tes bezie­hen: Vor Schlan­gen hat man Furcht, vor Gespens­tern Angst.

Nach­dem unser Poli­ti­ker in die­ser Wei­se als Ursa­che der Miß­stim­mung die Gefüh­le »der Men­schen« (und nicht etwa sei­ne eige­ne Poli­tik) ding­fest gemacht hat, geht er – um auch wirk­lich jedes Miß­ver­ständ­nis aus­zu­schlie­ßen – auf Num­mer sicher und erklärt deren Furcht nicht nur zur »Angst«, son­dern zu »Ängs­ten«, damit nie­mand über deren dif­fu­sen, irra­tio­na­len und the­ra­pie­be­dürf­ti­gen Cha­rak­ter im unkla­ren gelas­sen wird.

Er erklärt also die Bür­ger zu Kin­dern, inso­fern sie wohl Menschen‑, aber kei­ne Bür­ger­rech­te haben, sich vor Gespens­tern ängs­ti­gen, des­we­gen der psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Betreu­ung bedür­fen, in jedem Fal­le aber zu einem begrün­de­ten poli­ti­schen Urteil nicht in der Lage sind. So legt er in nur zwei Wor­ten gegen­über sei­nen Mit­bür­gern und Wäh­lern eine Ver­ach­tung an den Tag, die kaum anders erklär­bar ist als dadurch, daß er selbst sei­nen eige­nen Cha­rak­ter am bes­ten kennt und daher natur­ge­mäß jeden ver­ach­ten muß, der ihn trotz­dem wählt. Und so ist es wie­der­um fol­ge­rich­tig, nicht etwa die ver­ach­te­ten Bür­ger »ernst zu neh­men«, son­dern ledig­lich deren »Ängs­te« – und auch die nur in dem Sin­ne, in dem man auch eine fau­len­de Bana­nen­scha­le »ernst nimmt«, auf der man nicht aus­rut­schen möchte.

Man könn­te dies men­schen­ver­ach­tend nen­nen, wenn die­ser Aus­druck nicht zu den bereits ander­wei­tig besetz­ten Unwör­tern gehörte.

alter­na­tiv­los

Die­se Tot­schlag­vo­ka­bel wird aus­schließ­lich von Regie­run­gen und regie­rungs­na­hen Insti­tu­tio­nen ange­bracht, wäh­rend oppo­si­tio­nel­le oder zumin­dest staats­fer­ne Kräf­te offen­bar kei­ne Ver­wen­dung dafür haben. Bereits dar­an ist sie als Herr­schafts­in­stru­ment erkennbar.

Fer­ner wird sie aus­schließ­lich als Reak­ti­on auf Kri­tik vor­ge­tra­gen, das heißt in Kon­tex­ten, in denen Alter­na­ti­ven zumin­dest als gedank­li­che Ent­wür­fe vor­lie­gen, die Behaup­tung der »Alter­na­tiv­lo­sig­keit« mit­hin von vorn­her­ein das Ein­ge­ständ­nis ent­hält, eine Lüge zu sein.

Allen­falls könn­te man behaup­ten – müß­te dann aber auch mit Argu­men­ten bele­gen –, daß die vor­ge­schla­ge­nen Alter­na­ti­ven nicht zu den gewünsch­ten Ergeb­nis­sen führ­ten, müß­te dann aber dar­le­gen, wel­che Ergeb­nis­se man aus wel­chen Grün­den für wün­schens­wert hält. Das Wort »alter­na­tiv­los« (und sein eng­li­sches Äqui­va­lent »TINA« – »The­re is no alter­na­ti­ve«) wäre aber ganz über­flüs­sig und wür­de nicht als Herr­schafts­in­stru­ment tau­gen, wenn es sei­ner­seits mit Argu­men­ten unter­mau­ert wer­den müß­te. Eine poli­ti­sche Funk­ti­on erfüllt es nur dort, wo eine Regie­rung in Argu­men­ta­ti­ons­not gerät und es daher nötig hat, sich von der Beweis­pflicht zu ent­las­ten und anstel­le des an sich gefor­der­ten Argu­ments eine apo­dik­ti­sche Behaup­tung vorzutragen.

Die­se Behaup­tung impli­ziert eine gan­ze Rei­he von höchst pro­ble­ma­ti­schen Annah­men: ers­tens, daß die von der Regie­rung favo­ri­sier­ten Inter­es­sen gleich­be­deu­tend mit dem Inter­es­se der Gesell­schaft schlecht­hin sei­en; zwei­tens, daß daher Inter­es­sen, die mit dem jewei­li­gen für »alter­na­tiv­los« erklär­ten Pro­jekt kol­li­die­ren, von vorn­her­ein ille­gi­tim sei­en und daher nicht nur nicht beach­tet, son­dern streng­ge­nom­men nicht ein­mal ver­tre­ten wer­den dürf­ten; drit­tens, daß die Regie­rung – und sie allein – über hin­rei­chend Ein­sicht ver­fü­ge, um zu beur­tei­len, wel­che Alter­na­ti­ven exis­tie­ren und wel­che nicht; wes­we­gen vier­tens Kri­tik nur auf Dumm­heit oder bösem Wil­len beru­hen kön­ne; fünf­tens, daß demo­kra­ti­sche Ver­fah­ren über­flüs­sig sei­en, sofern das Volk die »Alter­na­tiv­lo­sig­keit« ein­sieht, und schäd­lich, sofern es sie nicht einsieht.

Wo die Alter­na­tiv­lo­sig­keit herrscht, dankt die Demo­kra­tie ab, und Regie­run­gen, die gera­de­zu gewohn­heits­mä­ßig bei allen rele­van­ten poli­ti­schen The­men das Wort »alter­na­tiv­los« ver­wen­den, erklä­ren die Demo­kra­tie zu einer bes­ten­falls deko­ra­ti­ven Fas­sa­de, hin­ter der tat­säch­li­che Herr­schaft­ver­hält­nis­se ver­schwin­den soll­ten, die aber auf kei­nen Fall gegen die­se Herr­schaft aus­ge­spielt wer­den darf.

Anti-

Die­ses Prä­fix ist nicht per se ein Unwort, hat aber Impli­ka­tio­nen, die zu dem­ago­gi­schem Miß­brauch ein­la­den, und man soll­te ihm des­halb mit Miß­trau­en begeg­nen, zumal es in der poli­ti­schen Spra­che der BRD und ins­be­son­de­re der Lin­ken (⇒»Anti­fa­schis­mus«, ⇒»Anti­ras­sis­mus«, »Anti­mi­li­ta­ris­mus«) nahe­zu all­ge­gen­wär­tig ist. Wer kein Inter­es­se dar­an hat, von fin­di­gen Pro­pa­gan­dis­ten mani­pu­liert zu wer­den, soll­te sich daher über die­se Impli­ka­tio­nen im kla­ren sein.

Zunächst fällt auf, wie häu­fig die­ses Wort, obwohl es doch eine Nega­ti­on dar­stellt, zur Umschrei­bung der eige­nen, nicht etwa der frem­den Posi­ti­on benutzt wird. Wer die eige­ne Posi­ti­on durch eine Nega­ti­on defi­niert, also durch das, was sie nicht ist und woge­gen sie sich rich­tet, braucht nicht zu sagen, wofür er ist und ent­rückt die eige­ne Posi­ti­on dadurch der Kritik.

Er zieht zugleich eine poli­ti­sche Gren­ze und defi­niert eine Front: Die Kehr­sei­te der Selbst­be­schrei­bung als »Anti­fa­schist«, »Anti­ras­sist« oder »Anti­mi­li­ta­rist« ist die Beschrei­bung des Anders­den­ken­den als »Faschist«, »Ras­sist« und »Mili­ta­rist«. Indem die­se Zuschrei­bung nicht expli­zit aus­ge­spro­chen, son­dern in der Nega­ti­on »Anti-« ver­steckt wird, ent­zieht sie sich wie­der­um der Kri­tik und dem Begründungszwang.

Es kommt dann weder dar­auf an, ob die­se Eti­ket­tie­run­gen wahr oder wenigs­tens nach­voll­zieh­bar sind, noch dar­auf, ob sie dem Selbst­ver­ständ­nis der Betrof­fe­nen ent­spre­chen. Dies kann im Ein­zel­fall so sein, wes­we­gen das Wort »Anti-«, wie oben erwähnt, nicht zwangs­läu­fig ein Unwort sein muß. Ist es aber nicht der Fall, so han­delt es sich ein­fach um eine Feind­er­klä­rung. Die Eti­ket­tie­rung ist dann nicht etwa Mit­tel oder Resul­tat poli­ti­scher Ana­ly­se, son­dern Waf­fe eines poli­ti­schen Kamp­fes, der nicht ein­mal der Form nach ein Kampf der Argu­men­te ist.

Anti­fa­schis­mus

Die­ses Wort ent­stand in den zwan­zi­ger Jah­ren und erleb­te sei­nen ers­ten Boom in den Drei­ßi­gern, als die Kom­in­tern auf eine Volks­front-Stra­te­gie setz­te und das Bünd­nis mit nicht­kom­mu­nis­ti­schen Kräf­ten such­te. »Anti­fa­schis­mus« war der Begriff, der es erlaub­te, die­sen hete­ro­ge­nen und in vie­ler Hin­sicht wider­sin­ni­gen Bünd­nis­sen ein Eti­kett auf­zu­kle­ben, das die­se Gegen­sät­ze und ins­be­son­de­re den Macht­an­spruch der Kom­mu­nis­ten über­deck­te. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg wur­de das Kon­zept fort­ge­führt und eta­blier­te sich end­gül­tig als Tarn­ideo­lo­gie der im sowje­ti­schen Macht­be­reich herr­schen­den Kom­mu­nis­ten, die damit die nicht­kom­mu­nis­ti­schen Kräf­te dis­zi­pli­nier­ten und als Block­par­tei­en in ihr Regime inte­grier­ten. In der DDR war eine »anti­fa­schis­ti­sche« Hal­tung iden­tisch mit einer regime­kon­for­men, und selbst die Ber­li­ner Mau­er erfuhr als »anti­fa­schis­ti­scher Schutz­wall« noch eine ideo­lo­gi­sche Verbrämung.

In der heu­ti­gen BRD ist »Anti­fa­schis­mus« das Eti­kett von poli­ti­schen Grup­pen der extre­men Lin­ken, die ihre offen­kun­di­ge Feind­schaft gegen­über der libe­ra­len Demo­kra­tie camou­flie­ren, indem sie ihre Feind­schaft gegen­über dem »Faschis­mus« her­vor­he­ben und auf die­se Wei­se bis ins bür­ger­li­che Lager hin­ein salon­fä­hig und vor allem sub­ven­ti­ons­wür­dig wer­den. Zugleich erhe­ben sie unter Beru­fung auf ihren »Anti­fa­schis­mus« Anspruch auf zumin­dest wohl­wol­len­de Dul­dung durch nicht­kom­mu­nis­ti­sche Kräf­te in Poli­tik und Medi­en, und sie haben damit häu­fig selbst dann Erfolg, wenn ihre Metho­den offen­kun­dig kri­mi­nell sind. Wann immer sich ein ⇒brei­tes Bünd­nis zusam­men­tut, um rech­te Grup­pie­run­gen an der Aus­übung ihrer Grund­rech­te zu hin­dern, kann man sicher sein, daß »anti­fa­schis­ti­sche«, das heißt links­extre­me Grup­pen mit von der Par­tie sind und die Gele­gen­heit zu gewalt­sa­men Aus­schrei­tun­gen sowohl gegen poli­ti­sche Geg­ner wie gegen Poli­zei­be­am­te nut­zen, ohne damit ihrer Salon- und Bünd­nis­fä­hig­keit erkenn­bar Abbruch zu tun.

Eta­blier­ten poli­ti­schen Kräf­ten wie­der­um ver­schafft das Eti­kett des »Anti­fa­schis­mus« einen hin­rei­chen­den Vor­wand, die poli­tisch moti­vier­te Gewalt­kri­mi­na­li­tät die­ser Grup­pen mit Nach­sicht zu behan­deln. Die­ser Vor­wand ist erwünscht und die Gewalt wird gedul­det, nicht weil die von ihr Betrof­fe­nen in irgend­ei­nem seriö­sen Sin­ne des Wor­tes »Faschis­ten« wären – das sind sie in den sel­tens­ten Fäl­len, es han­delt sich viel­mehr meist um Kräf­te, die auf dem Boden des Grund­ge­set­zes ste­hen –, son­dern weil sie weit­ver­brei­te­te Unzu­frie­den­heit zum Aus­druck brin­gen und damit das Macht-Oli­go­pol der eta­blier­ten Par­tei­en bedro­hen. Fol­ge­rich­tig dul­den gera­de die­se eta­blier­ten Par­tei­en auch die exzes­si­ve Aus­wei­tung des Wor­tes »faschis­tisch« auf jede Bewe­gung, die ideo­lo­gisch non­kon­form ist und Inter­es­sen arti­ku­liert, die der Poli­tik des Estab­lish­ments läs­tig sind.

Das Wort »Anti­fa­schis­mus« illus­triert exem­pla­risch die Fuß­an­geln, die in dem Prä­fix ⇒»Anti-« ent­hal­ten sind. Es dient dazu, die eige­ne Posi­ti­on hin­ter einer Nega­ti­on ver­schwin­den zu las­sen und damit unkri­ti­sier­bar zu machen, und zugleich dazu, dem Anders­den­ken­den will­kür­lich ein pejo­ra­ti­ves Eti­kett auf­zu­kle­ben, wie­der­um ohne sich der Kri­tik stel­len zu müs­sen. Es han­delt sich um eine seman­ti­sche Lüge: Dem Wort­sin­ne nach bedeu­tet »Anti­fa­schis­mus«, daß man gegen Faschis­mus ist. In der poli­ti­schen Pra­xis dage­gen bedeu­tet es, den, gegen den man ist, zum »Faschis­ten« zu erklären.

Anti­ras­sis­mus

ist Ras­sis­mus gegen Weiße.

Anti­se­mi­tis­mus

Es ist heu­te kaum noch all­ge­mein geläu­fig, daß das Wort »Anti­se­mi­tis­mus« bzw. »Anti­se­mit« nicht immer schon abwer­ten­den Cha­rak­ter hat­te, son­dern bei sei­nem Auf­tau­chen in der poli­ti­schen Spra­che Deutsch­lands im letz­ten Vier­tel des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts die Selbst­be­schrei­bung von Bewe­gun­gen war, die die Bekämp­fung des gesell­schaft­li­chen Ein­flus­ses von Juden ins Zen­trum ihrer Pro­gram­me stell­ten. Auch die­ser Begriff trug damals die Tücke aller Selbst­be­schrei­bun­gen in sich, die mit dem Prä­fix ⇒»Anti-« begin­nen: Wer gegen Anti­se­mi­tis­mus war, muß­te wohl für die Juden und womög­lich deren Agent sein. In einer Zeit, als eth­ni­sche Inter­es­sen­ge­gen­sät­ze noch frei arti­ku­liert wer­den konn­ten, muß­te allein die­se Unter­stel­lung den Betrof­fe­nen zum unsi­che­ren Kan­to­nis­ten im Hin­blick auf die Inter­es­sen des eige­nen Vol­kes stem­peln und poli­tisch in die Defen­si­ve drängen.

Ist es des­halb gut, daß es heu­te aus Grün­den der Poli­ti­cal Cor­rect­ness ver­pönt ist, sol­che Inter­es­sen­ge­gen­sät­ze beim Namen zu nen­nen? Ver­schwin­den sie aus der poli­ti­schen Rea­li­tät, wenn sie aus der Spra­che ver­schwin­den? Tat­säch­lich wur­den wohl nur die Vor­zei­chen ver­tauscht: War vor hun­dert Jah­ren noch gewis­ser­ma­ßen auto­ma­tisch jeder der Deutsch­feind­lich­keit ver­däch­tig, der sich für Juden und ihr Inter­es­se an sozia­ler, poli­ti­scher und recht­li­cher Gleich­stel­lung ein­setz­te, so wird heu­te min­des­tens eben­so gedan­ken­los und rou­ti­ne­mä­ßig jeder, der sich für die Inter­es­sen des eige­nen Vol­kes an sei­ner Selbst­er­hal­tung ein­setzt, ja sogar der, der nur fest­stellt, daß die­ses Volk und sei­ne Inter­es­sen über­haupt exis­tie­ren, des Anti­se­mi­tis­mus ver­däch­tigt – und müß­te die­ser Ver­dacht um drei Ecken an den Haa­ren her­bei­ge­zerrt werden.

Wer dies nicht glau­ben möch­te, besor­ge sich – aber bit­te anti­qua­risch oder aus einer Leih­bi­blio­thek – das Buch Was ist Anti­se­mi­tis­mus? von Wolf­gang Benz, einem der erfolg­reichs­ten Ver­tre­ter der blü­hen­den, da wohl­sub­ven­tio­nier­ten bun­des­deut­schen Ver­däch­ti­gungs­bran­che, der dar­in unter dem Titel »Über­frem­dungs­angst und Selbst­be­wußt­sein: Der Zorn der Patrio­ten« aus Brie­fen an den Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land zitiert, deren Ver­fas­ser sich dar­in expli­zit gegen deutsch­feind­li­che Res­sen­ti­ments ver­wah­ren, die von Ver­tre­tern eben­die­ser Orga­ni­sa­ti­on geäu­ßert und pro­pa­giert wur­den. Er zitiert sie aber nicht etwa als Bei­spiel für die zir­ku­lä­re Dyna­mik von Groß­grup­pen­be­zie­hun­gen und erst recht nicht, um sich die Kri­tik an der Deutsch­feind­lich­keit besag­ter Funk­tio­nä­re zu eigen zu machen. Er gibt zwar zu, daß die Schrei­ber nur reagie­ren, und dies aus patrio­ti­schen Moti­ven. Das hin­dert ihn aber kei­nes­wegs dar­an, ihre Brie­fe als Bei­spie­le für Anti­se­mi­tis­mus zu zitie­ren, Patrio­tis­mus und Anti­se­mi­tis­mus also gleich­zu­set­zen. Die Ver­mu­tung, deut­sche und jüdi­sche Inter­es­sen schlös­sen ein­an­der aus – also das zen­tra­le Ideo­lo­gem des völ­ki­schen Anti­se­mi­tis­mus –, ist für Herrn Benz und sei­ne Gesin­nungs­ge­nos­sen kei­nen Deut weni­ger selbst­ver­ständ­lich, als sie es für Adolf Hit­ler war; die Wer­tung aller­dings wird umge­dreht und mit ihr das Angriffs­ziel: Deutsch­feind­lich­keit, die als sol­che im Zen­trum der gesell­schaft­li­chen Mei­nungs­bil­dung (noch) nicht ohne wei­te­res akzep­tiert ist, tarnt sich als Kampf gegen den Antisemitismus.

Das camou­flie­ren­de Spiel mit dem ⇒»Anti-« funk­tio­niert also kei­nes­wegs nur dann, wenn die­se Vor­sil­be Selbst­be­schrei­bun­gen, son­dern auch, wenn sie Fremd­zu­schrei­bun­gen ein­lei­tet: Wer den Anders­den­ken­den erfolg­reich auf das redu­ziert, woge­gen er – angeb­lich! – ist, braucht sich nicht mehr damit aus­ein­an­der­zu­set­zen, wofür die­ser sich ein­setzt, und muß selbst nicht zuge­ben, daß er es bekämpft. Der Kampf gegen den Anti­se­mi­tis­mus (wie auch der gegen »Ras­sis­mus«, »Homo­pho­bie«, »Aus­län­der­feind­lich­keit« oder »Isla­mo­pho­bie«) ist gera­de nicht, wie sug­ge­riert wird, ein Mit­tel zur Ver­hin­de­rung oder Ent­schär­fung sozia­ler Inter­es­sen­kon­flik­te und soll auch kei­nes sein. Er ist Mit­tel zu ihrer Aus­tra­gung, mit­hin eine Waffe.

Das heißt selbst­re­dend nicht, daß es so etwas wie Anti­se­mi­tis­mus im Sin­ne von Res­sen­ti­ments gegen Juden oder das jüdi­sche Volk nicht gibt. Erstau­nen muß aber doch, mit wel­cher Selbst­ver­ständ­lich­keit in Zusam­men­hän­gen, in denen Juden eine Rol­le spie­len, die grund­le­gen­de sozio­lo­gi­sche Ein­sicht igno­riert wird, daß Groß­grup­pen­be­zie­hun­gen nor­ma­ler­wei­se zir­ku­lär struk­tu­riert sind und gera­de feind­se­li­ge Hal­tun­gen eine Ten­denz zu wech­sel­sei­ti­ger Ver­stär­kung haben. Eben­die­se Ein­sicht muß man aber von vorn­her­ein aus­blen­den, wenn man dem in der west­li­chen Welt (kei­nes­wegs nur in Deutsch­land) vor­herr­schen­den Nar­ra­tiv folgt, wonach an Kon­flik­ten zwi­schen jüdi­schen und nicht­jü­di­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pen, die schon seit vor­christ­li­cher Zeit für die ver­schie­dens­ten Län­der und Völ­ker doku­men­tiert sind, stets der »Anti­se­mi­tis­mus« der Nicht­ju­den schuld sei. Man mag sich kaum vor­stel­len, daß irgend­ein Wis­sen­schaft­ler noch ernst genom­men wür­de, der eine der­art nai­ve, ein­sei­ti­ge und unplau­si­ble Hypo­the­se in irgend­ei­nem ande­ren Zusam­men­hang als die­sem ver­tre­ten wollte.

Auf­ar­bei­tung

Wer in der neun­zehn­ten Auf­la­ge der Brock­haus-Enzy­klo­pä­die (Band 2, erschie­nen 1987) nach dem Stich­wort »Auf­ar­bei­tung« such­te, wur­de noch mit dem lapi­da­ren Hin­weis »Kern­tech­nik: →Wie­der­auf­ar­bei­tung« abge­speist. Das aus­kunfts­freu­di­ge­re, zumin­dest aber red­se­li­ge­re Inter­net beschert uns eine gan­ze Rei­he mög­li­cher Bedeu­tun­gen und spie­gelt damit zwei­fel­los auch eine geän­der­te öffent­li­che Spra­che wider. Hal­ten wir uns zunächst an Wikipedia:

Die Auf­ar­bei­tung, das Auf­ar­bei­ten ist:

  • Recy­cling in der Abfallwirtschaft
  • Wie­der­auf­ar­bei­tung von Atom­müll, ins­be­son­de­re von Kernbrennstäben
  • Refa­bri­ka­ti­on von Autoteilen
  • Restau­rie­rung von Möbelstücken
  • Teig bis zum Back­vor­gang vorbereiten
  • Gefäll­te Bäu­me zerlegen
  • In der Ana­ly­ti­schen Che­mie wer­den Pro­ben auf­ge­ar­bei­tet, d.h. in eine Form gebracht, die sie unter­such­bar macht (z. B. ein Auf­schluß (Che­mie))

Auf­ar­bei­tung in der Psychologie:

  • Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit, sie­he Vergangenheitsbewältigung
  • Trau­er­ar­beit
  • Psy­cho­the­ra­pie

Auf­ar­bei­tung in der Geschichtsschreibung:

  • Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung

Das Wort »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung«, das hier gleich zwei­mal auf­taucht, wird zuneh­mend durch »Auf­ar­bei­tung« ersetzt, »weil Ver­gan­gen­heit nicht ›bewäl­tigt‹ – also end­gül­tig erle­digt – wer­den kann«.

Dar­aus folgt Lek­ti­on 1: Auf­ar­bei­tung endet nicht und soll nicht enden.

Daß die in den acht­zi­ger Jah­ren noch vor­herr­schen­de tech­ni­sche Bedeu­tung des Wor­tes zuguns­ten ande­rer Dimen­sio­nen in den Hin­ter­grund getre­ten ist, beweist jede Netz­su­che, etwa die auf der Sei­te der Duden-Redak­ti­on ange­ge­be­nen Wortverbindungen:

Die drei Ver­ben, die am häu­figs­ten mit »Auf­ar­bei­tung« ver­bun­den sind, lau­ten »bedür­fen«, »begin­nen« und »har­ren«. Wor­aus wir schlie­ßen dürfen:

Lek­ti­on 2: Das meis­te, was für die Auf­ar­bei­tung in Fra­ge kommt – was auch immer es im Ein­zel­fall sein mag –, wur­de noch nicht oder jeden­falls nicht genug aufgearbeitet.

Die Duden-Web­sei­te nennt uns auch die mit »Auf­ar­bei­tung« typi­scher­wei­se ver­bun­de­nen Adjek­ti­ve: »juris­tisch«, »gericht­lich«, »straf­recht­lich«, »gründ­lich«, »kri­tisch«, »his­to­risch«, »wis­sen­schaft­lich« und »fil­misch«. Aus den nahe­zu gleich­be­deu­ten­den ers­ten drei Adjek­ti­ven ler­nen wir Lek­ti­on 3, daß Auf­ar­bei­tung ein Vor­gang ist, bei dem die einen über die ande­ren zu Gericht sit­zen; aus den nächs­ten bei­den Lek­ti­on 4, daß man dabei jeden Stein umzu­dre­hen hat, und zwar gna­den­los (näm­lich »kri­tisch« – das Adjek­tiv »sach­lich« fehlt bezeich­nen­der­wei­se); aus den drei letz­ten Lek­ti­on 5, daß Auf­ar­bei­tung sich auf die Ver­gan­gen­heit bezieht und dabei (außer von Juris­ten) von Wis­sen­schaft­lern und Fil­me­ma­chern, mit­hin von Ange­hö­ri­gen der ideo­lo­gie­pro­du­zie­ren­den Indus­trie zu betrei­ben ist.

Unser Zwi­schen­fa­zit muß also min­des­tens lau­ten, daß das Wort »Auf­ar­bei­tung« im Nor­mal­fall etwas umschreibt, das mit den bei Wiki­pe­dia eben­falls genann­ten Stich­wör­tern »Trau­er­ar­beit« und »Psy­cho­the­ra­pie« nichts zu tun hat: ins­be­son­de­re nicht dazu dient, den betrof­fe­nen Per­so­nen und Kol­lek­ti­ven zu hel­fen, nicht dazu, ihnen die Deu­tungs- und Urteils­ho­heit über ihre eige­ne Ver­gan­gen­heit zu belas­sen oder zu ver­schaf­fen, und auch nicht dazu, irgend­wann mit einem posi­ti­ven Ergeb­nis zu enden.

Dies ist erstaun­lich, weil das Wort »Auf­ar­bei­tung«, das sich in deut­schen poli­ti­schen Zusam­men­hän­gen meist auf das Drit­te Reich oder die DDR (der Logik nach auf alle his­to­ri­schen deut­schen Staa­ten außer der BRD) bezieht, einen qua­si­the­ra­peu­ti­schen, hei­len­den Zusam­men­hang doch zumin­dest sug­ge­riert. Der fak­ti­sche Wort­ge­brauch jedoch weist die »Auf­ar­bei­tung« als Tro­ja­ni­sches Pferd aus: Sug­ge­riert wird ein Medi­ka­ment, ver­ab­reicht wird ein Gift.

Aber auch die tech­ni­schen Bedeu­tun­gen des Wor­tes »Auf­ar­bei­tung« sind von Inter­es­se, denn von ihnen lei­ten sich die über­tra­ge­nen, sozia­len, poli­ti­schen, psy­cho­lo­gi­schen und vor allem qua­si­psy­cho­lo­gi­schen Bedeu­tun­gen erst ab. Vom Abfall­re­cy­cling über die Restau­rie­rung von Möbel­stü­cken bis hin zur Zer­le­gung gefäll­ter Bäu­me und der Auf­ar­bei­tung von Pro­ben han­delt es sich in der Regel um einen Vor­gang der Umfor­mung von etwas zuvor Zer­stör­tem (Weg­ge­wor­fe­nem, Abge­brann­tem, Ver­schrot­te­tem, Ver­nutz­tem, Ver­misch­tem, Gefäll­tem, Ent­zo­ge­nem) zu etwas ande­rem, das mit dem Aus­gangs­ge­gen­stand bis­wei­len wenig Ähn­lich­keit hat. Das mani­pu­la­ti­ve Ele­ment ist mit Hän­den zu grei­fen. Ange­wandt auf eine »auf­zu­ar­bei­ten­de« Ver­gan­gen­heit, bedeu­tet es – und dies ist Lek­ti­on 6 –, daß die­se Ver­gan­gen­heit umge­formt, zurecht­ge­schnit­ten, pas­send und taug­lich gemacht wer­den soll. Nun ahnen wir auch, war­um den Ange­hö­ri­gen der Ideo­lo­gie­bran­che eine offen­bar her­aus­ra­gen­de Rol­le bei die­sem Pro­zeß zuge­dacht ist.

Wenn wir dann noch beden­ken, wel­che Sub­jek­te von denk­ba­ren Pro­zes­sen der Auf­ar­bei­tung, mit­hin wel­che Auf­ar­bei­ter wir iden­ti­fi­ziert haben – Rich­ter, The­ra­peu­ten, Ideo­lo­gie­pro­du­zen­ten –, dann kön­nen wir von die­sen Sub­jek­ten auf die Objek­te der Auf­ar­bei­tung schlie­ßen und kom­men zu dem Ergeb­nis, daß es sich dabei wohl um Men­schen han­deln muß. »Auf­ge­ar­bei­tet«, das heißt mani­pu­liert, umge­formt, zurecht­ge­schnit­ten, pas­send und taug­lich gemacht wird eben nicht nur die Ver­gan­gen­heit, son­dern auch das Volk, das sie hat.

Benach­tei­lig­te

Von Benach­tei­lig­ten spricht man in Zusam­men­hän­gen, in denen man frü­her von Armen, sozi­al Schwa­chen, Ange­hö­ri­gen der unte­ren Schich­ten und der­glei­chen gespro­chen hät­te. Oft wird expli­zit hin­zu­ge­fügt, daß nicht irgend­wie, son­dern sozi­al Benach­tei­lig­te gemeint sind. Was aber augen­schein­lich nur eine Bezeich­nung für die sozia­le Lage der genann­ten Per­so­nen ist, ent­hält bei nähe­rem Hin­se­hen eine Ursa­chen­be­haup­tung und Schuld­zu­wei­sung: Das Wort »benach­tei­ligt« ist ein Par­ti­zip. Wo es einen Benach­tei­lig­ten gibt, muß es also auch einen ihn Benach­tei­li­gen­den geben; dies zumin­dest wird sug­ge­riert. Eine ungüns­ti­ge sozia­le Lage ist also weder Schick­sal, noch kann sie auf eige­ne Unzu­läng­lich­kei­ten oder Feh­ler des Betrof­fe­nen zurück­zu­füh­ren sein: Ein Benach­tei­lig­ter ist schließ­lich jemand, dem ein Unrecht zuge­fügt wur­de, und da die­ses »Unrecht« dar­in besteht, daß es über­haupt Men­schen gibt, die bes­ser gestellt sind als andere,

  • kann es nicht enden, solan­ge nicht alle
  • sozia­len Unter­schie­de aus der Welt geschafft sind;
  • ist alles, was der Kor­rek­tur die­ses »Unrechts« dient, von vorn­her­ein in einem­hö­he­ren Sin­ne legi­tim, auch wenn es das in sich kei­nes­wegs ist;
  • kann jeder, der sich die­se Kor­rek­tur zum Ziel setzt (und das sind inder Regel nicht die Betrof­fe­nen selbst), sich selbst als Robin Hood und sei­ne Geg­ner als den She­riff von Not­ting­ham dar­stel­len und sich dadurch von Anstands- und sogar von Rechts­pflich­ten entbinden;
  • gibt es dem­ge­mäß poli­ti­sche Kräf­te, die ein Inter­es­se dar­an haben, von »Benach­tei­lig­ten« und nicht ein­fach von »Armen« zu sprechen.

Berei­che­rung

Es gibt vie­le Din­ge, von denen man sich berei­chert füh­len kann, aber nur weni­ge, von denen man sich berei­chert füh­len soll – und dies auch dann, wenn man nicht recht zu erken­nen ver­mag, wor­in die »Berei­che­rung« eigent­lich besteht, und des­halb zu die­ser ver­meint­li­chen Ein­sicht über­re­det wer­den muß. Dies kann auf sub­ti­le (»Zuwan­de­rung«) oder auf plum­pe, muß aber in jedem Fall auf ste­reo­ty­pe Wei­se gesche­hen: Wor­te, die – auf den ers­ten oder doch spä­tes­tens zwei­ten Blick – offen­kun­dig unan­ge­mes­sen sind, wer­den in bestimm­ten Zusam­men­hän­gen so oft wie­der­holt, bis das Publi­kum durch Abstump­fung dazu gebracht wur­de, mit den Wor­ten auch deren Inhalt zu akzeptieren.

Der ehe­ma­li­gen Inte­gra­ti­ons­be­auf­trag­ten der Bun­des­re­gie­rung, Maria Böh­mer, »deren tan­ten­haf­ter Habi­tus ihren Bon­mots erst so rich­tig die auf­rei­zen­de Wür­ze ver­leiht« (Mar­tin Licht­mesz) und die für die sub­ti­le­ren Mani­pu­la­tio­nen zu ein­fa­chen Geis­tes sein dürf­te, ver­dan­ken wir einen Klas­si­ker plum­per BRD-Spra­che: »Die­se Men­schen mit ihrer viel­fäl­ti­gen Kul­tur, ihrer Herz­lich­keit und ihrer Lebens­freu­de sind eine Berei­che­rung für uns alle.«

Da ist sie, die Berei­che­rung; und da ein Unwort sel­ten allein kommt, kommt sie aus dem Mun­de einer »Integrations«-Beauftragten Hand in Hand mit den »Men­schen«, der »Viel­falt« und der »Kul­tur«. Daß hier gedan­ken­los Phra­sen gedro­schen wer­den, erkennt man dar­an, daß Frau Böh­mer, die in die­sem Zusam­men­hang aus­drück­lich nur von tür­ki­schen Ein­wan­de­rern spricht, deren »viel­fäl­ti­ge Kul­tur« rühmt. Die »Viel­falt« ent­steht also nicht etwa dadurch, daß die tür­ki­sche Kul­tur auf die deut­sche trifft: Die tür­ki­sche Ein­wan­de­rer­ge­mein­de, so müs­sen wir Frau Böh­mer wohl ver­ste­hen, ist in sich schon so viel­fäl­tig, daß sie uns Deut­sche gar nicht mehr nötig hat. Im Hin­blick auf die tür­kisch-kur­di­sche Bipo­la­ri­tät mag dies sogar zutref­fen. Da aber weder die Tür­ken noch die Kur­den die­ser Art von Viel­falt son­der­lich froh zu wer­den schei­nen, ist sie ein erst­klas­si­ges Argu­ment gegen den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus, nicht dafür.

Die stän­di­ge Rede von der »Berei­che­rung«, die die Deut­schen der Mas­sen­ein­wan­de­rung ver­dank­ten, ent­hält bereits ihr eige­nes Demen­ti: Nie­mand, der wirk­lich berei­chert wird, braucht durch immer glei­che Wort­hül­sen über­re­det zu wer­den, die­se Berei­che­rung als sol­che zu erken­nen. Kei­ne Lot­to­zen­tra­le wird den glück­li­chen Mil­lio­nen­ge­win­ner ein­dring­lich dar­auf hin­wei­sen, daß er sich doch bit­te schön der ihm zuteil gewor­de­nen Berei­che­rung als sol­cher bewußt sein möge.

Es fällt schwer, sich nicht an die DDR erin­nert zu füh­len, in der jedem noch so schrei­en­den Miß­stand eine ihn rund­weg leug­nen­de Paro­le gegen­über­stand, und viel­leicht ist es kein Zufall, daß der Gebrauch plum­pes­ter Pro­pa­gan­da­phra­sen ohne jeg­li­chen Rea­li­täts­be­zug einen Höhe­punkt unter der Kanz­ler­schaft einer Frau fin­det, die ihre poli­ti­sche Grund­aus­bil­dung in der FDJ erhal­ten hat, dem Ver­neh­men nach als Sekre­tä­rin für Agi­ta­ti­on und Propaganda.

Bevöl­ke­rung

Dem Wort­sin­ne nach ist eine Bevöl­ke­rung kei­ne Per­so­nen­ge­samt­heit, son­dern ein Vor­gang, näm­lich der des Bevöl­kerns, und es liegt eine gewis­se sub­ti­le Logik dar­in, daß der alt­ehr­wür­di­ge Begriff »Volk« gera­de in dem Moment aus der poli­ti­schen Spra­che der BRD ver­schwin­det, in dem Deutsch­land, wie alle ande­ren Län­der des Wes­tens, von Men­schen bevöl­kert wird, die aus ganz ande­ren Welt­ge­gen­den stammen.

Daß der Begriff des Vol­kes eine beson­de­re Spreng­kraft hat, muß­ten zuletzt die Macht­ha­ber der DDR erfah­ren, die unter der Paro­le »Wir sind das Volk!« gestürzt wur­den. Offen­bar haben ihre Nach­fol­ger in der BRD kein Inter­es­se dar­an, die­se Erfah­rung zu tei­len, und offen­bar haben sie ein fei­nes Gespür für das, was sie ideo­lo­gisch stets abstrei­ten, näm­lich daß ein Volk eine Soli­dar­ge­mein­schaft ist, die nur des­we­gen, weil sie das ist, kol­lek­tiv han­deln und gege­be­nen­falls auch Macht­ha­ber stür­zen kann. Kein Volk – kei­ne Soli­da­ri­tät. Kei­ne Soli­da­ri­tät – kei­ne Gefahr.

Als der nord­rhein-west­fä­li­sche Land­tag 2010 in einer Reso­lu­ti­on befür­wor­te­te, Minis­tern in Zukunft kei­nen Eid auf »das Wohl des deut­schen Vol­kes« mehr abzu­neh­men, und dies aus­drück­lich damit begrün­de­te, dadurch wür­den Migran­ten aus­ge­grenzt, gaben die Abge­ord­ne­ten damit zu, daß Migran­ten nach ihrer Auf­fas­sung per defi­ni­tio­nem nicht zum deut­schen Volk gehö­ren und daß sie, die Poli­ti­ker, das Ziel, Ein­wan­de­rer ins deut­sche Volk zu inte­grie­ren, auf­ge­ge­ben hat­ten, sofern es über­haupt je ver­folgt wor­den war.

Da die BRD aber den Anspruch erhebt, ein demo­kra­ti­sches Staats­we­sen (von demos = Volk) zu sein, gerät besag­te poli­ti­sche Klas­se in eine gewis­se Ver­le­gen­heit: Sie kann zwar im Sin­ne eines kal­ten Staats­streichs Fak­ten schaf­fen, indem sie den Rat umsetzt, den Ber­tolt Brecht nach dem Auf­stand vom 17. Juni 1953 der SED-Regie­rung gab, näm­lich das Volk auf­zu­lö­sen und sich ein neu­es zu wäh­len. Sie kann aber nicht zuge­ben, daß sie das tut. Sie ist dar­auf ange­wie­sen, die Demo­kra­tie wenigs­tens als Fik­ti­on auf­recht­zu­er­hal­ten. Sie braucht das Wort »Volk«, aber weil die­ses Wort eben­so gefähr­lich ist wie das, wofür es steht, läßt sie es von einem Wach­kom­man­do aus einer Vor- und zwei Nach­sil­ben eskor­tie­ren: Fer­tig ist die »Bevöl­ke­rung«.

Daß sie mit einem der­art plum­pen Manö­ver aller­dings durch­kommt, wäre kaum zu erklä­ren, wenn die BRD nicht schon seit 1949 eine Art Demo­kra­tie­si­mu­la­ti­on wäre: eine »Demo­kra­tie«, deren Ver­fas­sung in jeder Zei­le das Miß­trau­en gegen jenes Volk atmet, das sich gleich­wohl als »Sou­ve­rän« umschmei­chelt sieht.

Bünd­nis, breites

Wenn in der Zei­tung von einem »brei­ten Bünd­nis« die Rede ist, rich­tet sich ein sol­ches Bünd­nis in zwei von drei Fäl­len dage­gen, daß Anders­den­ken­de ihre Mei­nung sagen und dafür auf die Stra­ße gehen kön­nen. In aller Regel wird zu die­sem Zwe­cke zum Rechts­bruch auf­ge­ru­fen. Kein Wun­der, daß der, der sol­ches plant, es nötig hat, die »Brei­te« sei­nes »Bünd­nis­ses« zu beto­nen, um die Qua­li­tät sei­nes Han­delns – näm­lich ille­gal zu sein – durch die Quan­ti­tät der Gleich­ge­sinn­ten zu recht­fer­ti­gen (mit der es in Wahr­heit frei­lich meist auch nicht beson­ders weit her ist). Mit einem libe­ra­len Demo­kra­tie­ver­ständ­nis, zu dem – und zwar zen­tral! – das Recht auf Dis­sens gehört, hat eine sol­che Ein­stel­lung nichts zu tun. Es han­delt sich viel­mehr um ein jako­bi­ni­sches oder auch bol­sche­wis­ti­sches Demo­kra­tie­ver­ständ­nis, wonach es gegen­über einer – womög­lich nur fin­gier­ten oder usur­pier­ten – volon­té géné­ra­le kein Recht auf Dis­sens gibt.

Einen gewis­sen Wahr­heits­ge­halt wird man der For­mu­lie­rung »brei­tes Bünd­nis« nor­ma­ler­wei­se nicht abspre­chen kön­nen: Die­se Bünd­nis­se haben zwar nicht vie­le Anhän­ger, wohl aber umfaßt die Unter­stüt­zer­sze­ne in aller Regel einen erheb­li­chen Teil des eta­blier­ten Spek­trums bis hin zu den soge­nann­ten bür­ger­li­chen Par­tei­en (⇒»Anti­fa­schis­mus«), das heißt, es herrscht ein Kon­sens nicht unbe­dingt der Anhän­ger, wohl aber der Akti­vis­ten und Funk­tio­nä­re schein­bar unter­schied­lichs­ter poli­ti­scher Rich­tun­gen, die Ent­ste­hung erfolgs­träch­ti­ger poli­ti­scher Kon­kur­renz­or­ga­ni­sa­tio­nen nicht mit dem legi­ti­men Mit­tel des Argu­ments, son­dern mit den ganz und gar ille­gi­ti­men Mit­teln von Rechts­bruch, Nöti­gung und Gewalt zu verhindern.

Wir haben es, anders gesagt, mit einem in der Ver­fas­sung nicht vor­ge­se­he­nen Macht­kar­tell poli­ti­scher Kräf­te zu tun, die sich selbst das Kol­lek­tiv­mo­no­pol auf die Aus­übung poli­ti­scher Rech­te und Wahr­neh­mung poli­ti­scher Inter­es­sen zuspre­chen und sich zu die­sem Zweck schon ein­mal über das Gesetz hin­weg­set­zen. Es ver­steht sich von selbst, daß Ver­tre­ter ins­be­son­de­re der Uni­ons­par­tei­en nicht selbst zum Pflas­ter­stein grei­fen, son­dern die­se Schmutz­ar­beit den bewähr­ten Kräf­ten der links­extre­men kri­mi­nel­len Sze­ne über­las­sen. Der für bei­de Sei­ten immer­hin pein­li­che Sach­ver­halt, daß die extre­me Lin­ke als nütz­li­che SA der Bour­geoi­sie auf­tritt, wird mit viel wech­sel­sei­ti­ger Pole­mik unter den Tep­pich gekehrt, das Publi­kum hin­ters Licht geführt.

Es bedarf hier­zu nicht ein­mal irgend­wel­cher Abspra­chen: Die jewei­li­gen Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen rela­tiv klei­ner, gera­de­zu win­zi­ger Akteurs­grup­pen füh­ren ganz von allei­ne dazu, zwi­schen ihnen das zustan­de zu brin­gen, was sie dann ein »brei­tes Bünd­nis« nennen.

Bür­ger, mündige

Para­do­xer­wei­se wird die For­mu­lie­rung »mün­di­ge Bür­ger« regel­mä­ßig im Zusam­men­hang mit staats­bür­ger­li­cher Erzie­hung, das heißt poli­ti­scher Bevor­mun­dung gebraucht. Ob ein Bür­ger aber im poli­ti­schen Sin­ne mün­dig, das heißt zu einem eige­nen Urteil fähig und imstan­de ist, dar­aus eigen­stän­dig Kon­se­quen­zen zu zie­hen, läßt sich gera­de nicht an staats­kon­for­mem, son­dern nur an non­kon­for­mem Ver­hal­ten able­sen. Selbst­re­dend sind nicht nur Sys­tem­geg­ner poli­tisch mün­dig, aber sie sind die ein­zi­gen, deren Ansich­ten außer­halb des von den Herr­schen­den gewünsch­ten Spek­trums lie­gen, mit­hin ver­mut­lich nicht durch oppor­tu­nis­ti­sche Anpas­sung zustan­de gekom­men sind: Etwa­ige Fes­seln kann nur der spü­ren, der gegen sie auf­be­gehrt. Da kein Staat und kei­ne poli­ti­sche Klas­se den Revo­lu­tio­när als Leit­bild pos­tu­lie­ren, ist die For­de­rung nach dem mün­di­gen Bür­ger aus ihrem Mun­de Heu­che­lei. Frei­lich ist die­se Art von Heu­che­lei einem Staat ange­mes­sen, in dem die Demo­kra­tie von Beginn an eine Ver­an­stal­tung von oben war und die Frei­heit dar­in bestand, wol­len zu dür­fen, was man wol­len soll­te.

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