Der konservative Historiker zeigt darin die Schwächen des Montesquieu’schen Konzepts der Gewaltenteilung auf. Obwohl Leo die „politischen Karikaturen“, die durch die moderne Gewaltenteilung entstanden seien, ablehnt, strebt er dennoch einen Ausgleich der „Elemente des Staates“ an.
Im Endeffekt geht er dabei viel weiter als Montesquieu und liefert damit eine ganze Reihe von alternativen Lösungen für die politischen Probleme der Gegenwart.
Leo kritisiert an Montesquieu insbesondere, daß er die Elemente und Prinzipien des Lebens und Staates falsch bestimmt habe. Darauf komme es jedoch an, da „jeder Staat ein Streben habe, sich seinen Prinzipen, seinen Elementen analog zu entwickeln“. Bei diesen Elementen handle es sich um den Mensch bzw. die Familie, das Grundeigentum, das Geld, den „Sieg der Waffen“ (Gewalt), die religiöse Furcht sowie übersteigerte Ideen (Fanatismus).
Ausgehend davon skizziert Leo die Entstehung von idealtypischen Staaten, die in Reinform anzutreffen seien, wenn sich eines dieser Elemente absolut durchsetze und alle anderen unterdrücke. Dominiert also das natürliche Bedürfnis nach Familie, entsteht laut dieser Theorie ein patriarchalischer Staat. Dem Grundeigentum ordnet Leo schließlich die Landaristokratie zu, dem Geld den Handelsstaat bzw. eine Oligarchie von Bankiers, dem Sieg der Waffen den Militärstaat, der religiösen Furcht den Priesterstaat und dem Fanatismus eine wie auch immer geartete „Ideokratie“.
Einerseits finde nun zwischen diesen Elementen, die sich durch den Staat institutionalisieren, ein ständiger Kampf statt, andererseits sorgten innere und äußere Einflüsse wie z.B. Kriege dafür, daß „die Menschen dazu gezwungen sind, Regeln für gesellschaftliche Verhältnisse ohne Rücksicht auf Hergebrachtes aufzustellen“. Der militärische und ökonomische Wettbewerb der Völker und Nationen dürfte demzufolge der bedeutendste Grund sein, weshalb sich in den letzten Jahrhunderten „mechanische Staaten“ durchsetzten.
Diesen stellt Leo sein Ideal eines „organisch-systematischen Staates“ gegenüber, der ein „Neben- und Ineinanderbestehen mehrerer Elemente“ erlaubt, wobei es nie zu einer „mechanischen Abgeschlossenheit“ eines Elements kommen dürfe. Der Literaturwissenschaftler Kurt Mautz sah in diesem Entwurf einen romantischen Konservatismus, der mit einer „naturhistorischen Kreislaufvorstellung“ arbeite. Leo spricht tatsächlich an einer einzigen Stelle davon, daß „der frühere Kampf ein wahres Ende“ im organischen Staat finden könne, doch die Vorstellung eines ständigen Kampfes zwischen den einzelnen Richtungen des Lebens ist in der Naturlehre des Staates deutlich präsenter. Der organische Staat kann immer nur annäherungsweise verwirklicht werden und muß sich zu gegebener Zeit aufgrund unerwarteter historischer Ereignisse zwangsweise einseitig fortbilden, um auf innere und äußere Bedrohungen angemessen reagieren zu können.
Was die Kämpfe der Elemente des Staates betrifft, war Leo Realist und konnte deshalb viele moderne Entwicklungen antizipieren, was Karl Marx offensichtlich dazu bewegte, bei ihm – ohne zu zitieren – abzuschreiben. Zugleich konnte und wollte Leo jedoch nicht verbergen, in welcher Weise ein Staat an die Ordnung der natürlichen, gesellschaftlichen Kräfte herangehen sollte. In dieser Frage war er konservativer Revolutionär, der dafür sorgen wollte, daß der Staat Gewalten nicht etwa teilt, um seine eigene Macht zu schwächen oder aus Gründen der Verschleierung geschickt zu verteilen. Dies bezeichnete er als „Staatsunsinn“. Vielmehr müsse der Staat die Lebensbereiche der Menschen – also Privatsphäre, Wirtschaft, Religion, Politik etc. – zu einem sinnvollen Ausgleich führen.
Bezogen auf unsere heutige Zeit hat dieser Grundgedanke nichts an Relevanz eingebüßt. Heinrich Leo ahnte in seiner Naturlehre des Staates auch bereits, daß es zu einer Symbiose von liberalistischem Handelsstaat und linker Ideokratie kommen könnte. Diesen Zustand zu beenden, falle aufgrund der mechanistisch-atomistischen Beziehung des Bürgers zum Staat, dem kurzfristigen Denken aller Demokraten sowie der „Verkrüppelung des Arbeiters“ hin zu einem einseitigen Spezialisten ohne historische Erinnerung so schwer.
Die machtpolitische Stärke der modernen Gewaltenteilung unterschätzte er dagegen. Wie Hannah Arendt in ihrem Werk Über die Revolution (1963) analysierte, ging es Montesquieu und anderen keineswegs darum, „den Adel abzuschaffen und eine egalitäre Gesellschaft zu errichten“. Der „unglaubliche Mangel an Widerstandskraft des Ancien Régime“ habe die vorrevolutionären Theoretiker dazu gebracht, über langlebigere und stabilere Staatsformen nachzudenken. Die Diskussionen hätten sich dabei um die Begriffe Macht, Leidenschaft und Vernunft gedreht:
Die Macht des Staates sollte die gesellschaftlich und ökonomisch bedingten Leidenschaften unter Kontrolle halten, um dann ihrerseits nochmals durch die Vernunft der Staatsmänner und aller Bürger, die an den öffentlichen Angelegenheiten Anteil nehmen, kontrolliert zu werden.
Gerade davon habe man sich eine „Stabilisierung der irdischen Verhältnisse“ erhofft, die allerdings nur gelingt, wenn man das Volk weitestgehend ausschaltet, ihm aber die Illusion politischer Partizipation läßt. Arendt war dieser Punkt so wichtig, weil sie sich fragte, warum sich in den Revolutionen der Moderne stets das von ihr kritisierte Parteienunwesen durchsetzte und nicht die von ihr favorisierte „aristokratische Räterepublik“, obwohl sich in fast allen Revolutionen Räte bildeten, die diese Republik hätten in die Wirklichkeit umsetzen können und ihrer Ansicht nach besser in der Lage wären, alle Lebensbereiche und Interessen der Bürger ohne Parteienzank zu repräsentieren.
Wer davon ausgeht, daß der linksliberale Globalismus eines Tages zusammenbricht, der sollte sich mit dieser Frage ebenfalls in aller Gründlichkeit beschäftigen. Alle europäischen Revolutionen von 1789 bis 1989 wurden von Graswurzelbewegungen begleitet, die sich letztendlich nicht durchsetzen konnten. Dies sollte insbesondere deshalb nachdenklich stimmen, weil diese Bewegungen in aller Regel die besseren Demokratiekonzepte hatten und die Chance gehabt hätten, dem Ideal eines „organischen Staates“ deutlich näher zu kommen als die Berufsrevolutionäre, die sich darauf konzentrierten, die Macht von der Straße aufzusammeln und sich dann ihre Pöstchen zu sichern. Entweder entwickelte sich dann irgendein Fanatismus der Berufsrevolutionäre oder eine inhaltliche Beliebigkeit. In der Lage, das „wirklich Neue einer Revolution“ zu verstehen, seien sie jedoch nie gewesen, betont Arendt.
Dieses „Neue“ ist dabei eine relativ einfache Einsicht: Die bürokratischen Apparate des Wohlfahrts- und Parteienstaates genauso wie die ethisch indifferenten Superstrukturen der Ökonomie mit ihren größenwahnsinnigen Projekten richten mehr Schaden als Nutzen an. Was wir deshalb brauchen, auch wenn es nur noch in Büchern steht, für die sich niemand interessiert, ist ein Ausgleich der Elemente des Staates, bei dem nicht für jedes neue Problem eine neue Behörde geschaffen wird.
In der Schriftenreihe BN-Anstoß erscheint am 26. April das achte Bändchen mit dem Titel Aufstand des Geistes. Konservative Revolutionäre im Profil (100 S., 8,50 €). Darin enthalten ist auch ein ausführliches Portrait über Heinrich Leo.
niekisch
"Was wir deshalb brauchen, auch wenn es nur noch in Büchern steht, für die sich niemand interessiert, ist ein Ausgleich der Elemente des Staates"
Schon Carl Schmitt hat sich bei einem Vortrag vor der Verwaltungs- akademie in Recklinghausen 1926 mit dem Problem auseinandergesetzt:
"..die wichtigste Gegenwirkung gegen den totalen Sieg des Parlamentarismus vom Beamtentum ausgegangen ist, dessen Bedeutung mit der Vermehrung der Fachminister immer von neuem in Erscheinung tritt. Diese Ministerialbeamten haben sich als selbständige Machtfaktoren durchgesetzt und so hat unser heutiges parlamentarisches System das Beamtentum zur Voraussetzung, ohne das es nicht aktionsfähig wäre."
Schmitt sah schon damals das Gewaltenteilungsprinzip als verletzt, wenn nicht völlig entfallen an, eine regierende Notverordnungsdiktatur von Reichspräsident und Reichskanzler stand einem entmannten Parlament gegenüber.